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Veiſebilder und Skizzen
aus
Amerika.
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Reiſebilder und Skizzen
aus
Amerika.
Von
Theodor Kirchhoff
(in San Francisco).
Erſter Band.
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Altona,
Carl Theod. Schlüter.
New⸗Nork,
E. Steiger, 22 u. 24 Frankfort Street.
1875.
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Bormwort.
In der vorliegenden Sammlung von Keifebildern und
Skizzen aus Amerika habe ich meinen während des letzten
Jahrzehnts unter den verſchiedenſten Lebensverhältniſſen
entſtandenen ſchriftſtelleriſchen Arbeiten vereint eine Heim—
ſtätte verſchaffen wollen. Neben manchen bereits in Jour—
nälen und Zeitſchriften (Gartenlaube, Daheim, Globus,
das Ausland ꝛc. und in deutſch-amerikaniſchen Blättern)
veröffentlichten Skizzen, an denen ich jedoch Vieles ge—
ändert und hinzugefügt habe, bringe ich eine Anzahl von
Reiſeſchilderungen hier zum erſten Male vor die Oeffent—
lichkeit. Als Abdrücke früherer Erlebniſſe ſind mir die—
ſelben friſch in die Feder gefloſſen und habe ich an ihnen
nur ſolche Aenderungen vorgenommen, die dieſem Werke
eine mehr einheitliche Geſtaltung geben ſollten. Eine große
Schwierigkeit bei Reiſebeſchreibungen, welche die Länder—
gebiete des fernen Weſtens behandeln, beſteht in der fort—
dauernden Umgeſtaltung aller dortigen Culturverhältniſſe;
*
VI
noch ſo zutreffende Beſchreibungen ihrer gegenwärtigen Zu—
ſtände werden in kurzer Zeit als veraltet gelten müſſen. Ich
habe daher verſucht, das Aeltere ſich in gefälliger Form le—
bendig an das Neuere anſchmiegen zu laſſen, um ſo dem
Leſer an dem Faden meiner eigenen Erfahrungen und Er-
lebniſſe ein faßliches Bild von der wechſelvollen Entwickelung
dieſer Länder zu geben.
San Francisco, im December 1874.
Theodor Kirchhoff.
Znhalt.
Vorwort.
Fünfzehnhundert Meilen in der Stagekutſchůe
Te . Er ER
A. Die Steppe.
1. Von Solomon nach Monumente
2. Von Monument nach Denver. . „
B. von Denver nach Salt Lake City.
1. Bis zur Waſſerſcheide des Continents ........
2. Die Salbei⸗ und Alcaliwüſtee d
3. Die Canons i Nah
C. Im Lande der Mormonen.
1. Great Salt Lake City, das neue Jeruſalem .. ..
2. Brigham Young und die Mormonen
D. bon der Mormonenſtadt am Salzſee nach dem Gold-
lande Maho.
1. Nordwärts zum Schlangen fluß
2. Ein Beſuch am Shoſhonnduu
3. Nach den Goldminen V
Eine Fahrt mit dem „Hotelzuge“ der Pacifichahn......
Seite.
159
173
VIII
Seite.
dus dem Golbland sn nn —
1. In den Goldminen von JIda hs 243
2. Ein Beſuch in Willow⸗Creek in Oregon 271
3. Ein Capitel über die Hurdy⸗-Gurd ass 301
Bilder ans dem Süden. 1866 — 1870, ——M w 311
Der Niearagun Trauſſſtt 313
2. Eine Dampferfahrt auf dem Red⸗Rivernrn rn 360
3. Auf dem Caddo⸗Seg . . ns naar en 390
4. Eine Eiſenbahnfahrt in Teras 395
5. Mein Freund Pompeiunn?s?s??ʒ2ss?s 403
6. Gerichtsſcene in Teras se 407
7. Das „Schnupftabakdippen“ der Südländerin nen.... 410
8. Eine intereſſante Reiſegeſellſchaft . 413
9. Ein Beſuch in der Mammuthhöhle in Kentucky ..... 417
Jünfzehnhundert Meilen
in der
Stagekutſcho.“
* Stage = amerikaniſche Poſtkutſche.
Einleitung.
Die nachfolgende Beſchreibung meiner Stagereife über
den nordamerikaniſchen Continent iſt auf eine etwas ungewöhn—
liche Weiſe entſtanden. Auf dem Ladentiſche meines „Store's“
verfaßte ich dieſelbe im Winter, bei offenen Thüren. Ich
habe ſie erſt mit Bleifeder auf Pappendeckel und Hunderte
von loſen Papierſtücken, auf ungezählte alte Briefcouverte
und ſogar auf Bretter von Cigarrenkiſten und Modeſchachteln
hingeworfen. Hundertmal bin ich täglich bei meiner Arbeit
von neugierigen Kunden geſtört worden. Biedere Gold—
gräber haben mir unzählige Fragen über den Inhalt der
fremden Schriftſtücke auf den Pappendeckeln geſtellt, während
fie, im Hinterwäldlercoſtüm neben mir am Blechofen fitend,
Nüſſe knackten, Holz ſchnitzelten oder feine Havanna-Cigarren
rauchten und dabei meinem eifrigen Schreiben verwundert
zuſahen. Oft mußte ich inmitten einer glänzenden Periode
ein halbvollgeſchriebenes Brettchen weglegen, um einem
Kunden Waare zu verkaufen oder ſchnöden Goldſtaub auf der
Goldwaage zu wiegen, während fo ein Yankee-Goldtouriſt
ſich ſofort des Brettchens bemächtigte und mir den ſchönſten
Gedanken mit dem Taſchenmeſſer buchſtäblich entzweiſchnitzelte.
Wenn ich hinzufüge, daß ich in einem keineswegs luftdichten
Holzhauſe wohnte, wo bei 10 bis 15 Grad Kälte meine
wäſſerige Dinte die unangenehme Gewohnheit hatte ſich in
1 *
4
Eisklumpen zu verwandeln, und daß ich meiſtens in Mantel,
Handſchuhen und Pelzüberſchuhen am Blechofen ſaß, während
ich an meinem Manuffript arbeitete, ſo wird man zugeben,
daß dieſe Skizzen unter nicht geringen Schwierigkeiten ent—
ſtanden ſind.
Die funfzehnhundert Meilen lange Stagereiſe, welche
hier geſchildert werden ſoll, war nicht minder abenteuerlich,
als die Art und Weiſe, womit ſie zu Papier gebracht wurde.
Im fernen Weſten Nordamerika's beginnt dieſelbe an den
Grenzen des Reiches der Indianer, der Büffel und Anti—
lopen. Hinter uns laſſen wir das weite Thal des gewaltigen
Miſſouri, mit ſeinen blühenden Städten und Farmen und
Menſchenwohnungen. Wir werden hinausſteuern auf den
Ocean unabſehbarer Grasflächen, alleine mit einem halben
Dutzend Inſaſſen in derſelben Stage und den Angriffen
blutdürſtiger Indianerhorden ausgeſetzt, um jenſeits des
Steppenmeeres das hohe Ufer der ſchneegipfelnden Felſen—
gebirge zu erreichen; den Rückgrat des nordamerikaniſchen
Continentes wollen wir überſteigen, unermeßliche Salbei—
und Alcaliwüſten durchziehen, dem „Heiligen vom jüngſten
Tage“ einen Beſuch abſtatten und weiter nach dem fernen
Goldlande Idaho kutſchiren. Wen beim Antritt einer ſolchen
Reiſe nicht ein Gefühl des Romantiſchen ein wenig über—
ſchleicht, wer eine ſolche Steppen-, Gebirgs- und Wüſtenfahrt
nur nach Dollars, Cents und verloren gegangenen Stunden
berechnet, den lade ich nicht als meinen Geſellſchafter ein;
er bleibe nur ruhig zurück und langweile ſich nach alter
Gewohnheit im nüchternen Alltagsleben! Wer aber Luſt
hat, frei, wie der Vogel in der Luft, hinauszueilen in die
Urnatur, der ſei mir ein willkommener Reiſebegleiter und
ich verſpreche ihm, wir werden uns auf eine ganz originelle
Weiſe in der Wildniß amüſiren.
5
Den voranſtehenden Worten, welche ich im Februar
1868 in Boiſe City, im Territorium Idaho, als Einleitung
zu den hier folgenden Reiſeſkizzen ſchrieb, will ich jetzt,
indem ich dieſe in neuer Umarbeitung der Oeffentlichkeit
übergebe *, noch Einiges hinzufügen.
Die Gegend, durch welche meine Reiſeroute lag, war
damals noch zum größten Theile eine menſchenleere Wild—
niß. Seitdem wurde die Pacificbahn gebaut.
Eine Erinnerung an die alte Zeit ſollten dieſe Blätter
ſein, ehe der Dampfzug die Entfernungen zuſammengerückt
und die rieſigen Ländergebiete ſozuſagen verkleinert hatte.
Möge ſich der Leſer, wenn er mir auf meiner abenteuerlichen
Stagefahrt folgt, bewußt werden, was das amerikaniſche
Volk im Bewältigen von Naturhinderniſſen Großartiges voll—
bracht hat, indem es dem Verkehr eine eiſerne Brücke durch
die Wildniſſe dieſes Continentes ſchlug. Wer, wie ich, die—
ſelben Gegenden nur drei Jahre ſpäter in einem glänzenden
„Hotel-Zuge“ durchflogen hat, dem wird die Schilderung
der ſchneckenartigen und mit faſt fabelhaft klingenden
Strapazen verbundenen Neiſe in der Stagekutſche wie ein
Mährchen aus vorigen Jahrhunderten vorkommen; und doch
iſt das Leben dieſer thatkräftigen Nation ſeitdem nur kurze
anderthalb Luſtra vorgeſchritten.
Und nun wandert denn hin, ihr anſpruchsloſen Blätter
wo überall das deutſche Wort eine Heimſtätte hat, und
plaudert von Reiſeabenteuern in „alter Zeit“ hier im jungen
Amerika!
Theodor Kirchhoff.
* Die Schlußkapitel (von Salt Lake nach Idaho) erſchienen
bereits im Jahrgang 1868 des „Globus“, Band XIII. Nr. 10, 1I u. 12.
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A.
Die Steppe.
1. Von Solomon nach Monument.
Am Oſterſonntage des Jahres 1867 gelangte ich auf
einer Reiſe von Texas nach Idaho mit einem Conſtructions—
Zuge der „Kanſas Pacific-Eiſenbahn“ nach dem Städtchen
Solomon in Kanſas, an welchem äußerſten Punkte im Weſten
bis wohin damals das eiſerne Geleiſe reichte, meine Stage—
fahrt beginnen ſollte. Im Bahnzuge zwiſchen Leavenworth
und Solomon hatte ſich die Unterhaltung faſt allein um
den vor Kurzem auf den Ebenen ausgebrochenen Indianer—
krieg gedreht und es waren den Ueberland-Paſſagieren von
den mitfahrenden Landbewohnern die ſchrecklichſten Beſchrei—
bungen von Grauſamkeiten, welche die rothen Teufel ver—
übt hätten, haarklein mitgetheilt worden. Nach den ernſten
Mienen der Zuhörer zu ſchließen, fanden dieſe Erzählungen
allgemeinen Glauben, und Mancher verwünſchte ſeinen Ueber—
muth, die gefährliche Reiſe über die Ebenen unternommen
zu haben. Zur Umkehr war es aber jetzt für die meiſten
zu ſpät, und mit Ausnahme weniger mit Glücksgütern be—
ſonders Geſegneter, welche zurück nach New-Hork und von
dort über den Iſthmus von Panama nach Colifornien reiſten,
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8
fetten alle für die Ueberlandsreiſe eingeſchriebenen Paſſa—
giere ihre Fahrt nach Weſten fort.
In Solomon galt unſere erſte Frage den Rothhäuten,
und wann die nächſte Stage abführe. Ueber beides wußten
die Solomoner wenig Auskunft zu geben. Man erzählte
uns, daß ſeit fünf Tagen keine Stage von Weſten angelangt
ſei und die Gefahr vor den feindlichen Indianern ſo groß
wäre, daß ſich vielleicht gar keine Poſtkutſche mehr auf die
Ebenen hinauswagen würde. Dazu kam, daß die Stages
auf dieſer ſogenannten „Smoky Hill-Route“ in letzter Zeit
mehrfach Eigenthümer gewechſelt hatten, wodurch, wie bei
ſolchen Gelegenheiten ſtets der Fall iſt, Alles in herrliche
Unordnung gerathen war. Die Stadt Solomon, welche
aus einer einzelnen Reihe von elenden Bretterbuden be—
ſtand und auf einer öden, baumleeren Ebene lag, bot nicht
den geringſten Reiz, und das miferable „Solomon-Hotel“
war ein wahrer Hohn auf feinen hochklingenden Namen.
Als ich mich eben etwas im Freien erging, über das
Namenskind des Tempelbauers eigenthümliche Gedanken
hegte und die mir bevorſtehenden Gefahren der Reiſe be—
denklich im Geiſte erwog, erſcholl unerwartet der Ruf:
„Die Stage!“ — „Die Stage!“ — und richtig, dort
ward der erſehnte Steppenfahrer über einer nahen Boden—
hebung ſichtbar: und bald darauf galloppirten die vier
ſchnaubenden Roſſe den „Broadway“ von Solomon entlang
und brachten die ſchwere Poſtkutſche vor dem „Hotel“ zum
Stillſtand. Paſſagiere waren keine darin, und der Kutſcher,
den wir ſofort mit Fragen über die Indianer beſtürmten,
ließ als Antwort nur einige zweideutige Bemerkungen fallen:
„er hoffe, daß wir unſer Leben verſichert hätten.“ —
„Scalpe ſeien jetzt billig.“ ꝛc. ꝛc., — durch welche ſarka—
ſtiſche Aeußerungen unſere Freude über die Ankunft der
Stage erklärlicher Weiſe bedeutend herabgeſtimmt wurde.
9
Ich war als dritter Paſſagier für die erſte Poſtkutſche
eingeſchrieben worden. Meine Reiſegeſellſchaft beſtand aus
einem Kaufmann und zwei Goldgräbern aus Montana,
einer ältlichen Mormonendame mit einem hübſchen blau—
äugigen Knaben, die nach Utah reiſ'ten, und einer Familie
aus Chicago, welche nach Denver überſiedeln wollte, Mann,
Frau und vier Kinder — Charlie, Sandy, Sam und
das Baby. Mit dem Kutſcher zählten wir alſo dreizehn
Perſonen an Bord, eine ominöſe Zahl, wie die zurück—
bleibenden vierzig Paſſagiere kopfſchüttelnd bemerkten, von
denen wir quaſi als Avantgarde gegen die Indianer be—
trachtet wurden. Doch befand ſich ein ganzes Waffenarſe—
nal von Hinterladungsbüchſen, Revolvern, Dolchmeſſern ꝛc.
nebſt reichlicher Munition in der Stage, ſo daß wir im
Nothfall ſchon ein gutes Scharmützel mit den Rothhäuten
aushalten konnten.
Bei Dunkelwerden raſſelte die Stage fort, ſchwer be—
laden mit Poſtſäcken und Gepäck und ihrer lebendigen Fracht
von Männern, Frauen und Kindern, begleitet von den Segens—
wünſchen der Zurückbleibenden. Da die Kinder müde waren
und ſchnell einſchliefen und wir Erwachſenen Urſache genug
zum Nachdenken hatten, ſo herrſchte bald allgemeine Stille
in der Poſtkutſche. Der Mond hatte ſein Silberlicht über
die Prairie ausgegoſſen. Aus dem Kutſchenfenſter ſah ich,
in meine warme Wolldecke eingehüllt, den phantaſtiſchen
Schatten des Wagens und der Pferde, mit der unförmlichen
Geſtalt des Roſſelenkers darüber, auf der matterleuchteten
Ebene neben uns hereilen und formte dieſelbe in eine Schutz—
wache um, welche uns über die weite gefahrdrohende Steppe
das Geleit gab. Zuletzt ſchloß auch ich die Augen und
verfiel in einen Halbſchlummer, aus dem ich erſt erwachte,
als der Wagen um zwei Uhr Morgens in dem Städtchen
Salina anhielt.
10
In dieſem äußerſten Vorpoſten der Civiliſation, wo
wir einige Stunden verweilten, regalirte man uns wieder
mit verſchiedenen grauenhaften indianiſchen Mordgeſchichten.
Sandy, der zweite rothhaarige Sprößling der Chicagoer
Familie fand dieſe Erzählungen ſo wenig nach ſeinem Ge—
ſchmack, daß er ſich weigerte, weiter mitzufahren, und mußte
von ſeinem Papa auf ſummariſche Weiſe weiter befördert
werden. Das Zetergeſchrei von Sandy, worin ſeine beiden
Brüder, nebſt dem am lauteſten kreiſchenden Baby uniſono
einſtimmten, gab uns Erwachſenen einen hübſchen Vorgeſchmack
von den unterwegs für uns in Ausſicht ſtehenden Quartett—
Concerten. Punkt acht Uhr waren wir wieder auf der
Reiſe, diesmal mit ſechs muthigen Roſſen im Geſchirr,
damit wir, wie der Kntſcher, bei dem ich auf dem Bock
Platz genommen, bemerkte, im Nothfall ſchneller vor den
Indianern davonlaufen könnten. Ein eiſiger Nordoſtwind
pfiff über die flache Gegend und ſauſte in unharmoniſchen
Accorden um unſere Kutſche, die in meilenweiter Runde
als einziger hoher Gegenſtand ſeine Kraftübungen hinderte.
Die warme Büffeldecke, welche der Kutſcher kameradſchaftlich
mit mir getheilt hatte, gab etwas Schutz vor dem grim—
migen Blaſen des Boreas, und ein Strick, womit ich meinen
breitkrämpigen Texanerhut um Deckel und Kinn feſtgebunden,
vereitelte ſeine energiſchen Anſtrengungen, mir den Hut
vom Kopfe herunterzuwehen. Nachdem wir anderthalb
Miles von Salina das enge, nicht überbrückte Bett des
„Dry Creek“ mit zwei energiſchen Sätzen paſſirt hatten,
die mich faſt von meinem erhabenen Sitze herunterge—
ſchleudert hätten — erſt ſteil in die Tiefe und dann wieder
hinauf in einem ſcharfen Winkel — ſteuerten wir hinaus
auf die unendliche Steppe.
Die Steppe (the plains), welche wegen der frühen
Jahreszeit nur mit ſpärlichem Graswuchs bedeckt war, muß
11
man ſich nicht durchweg flach vorſtellen. Oft iſt dieſelbe von
Hügelreihen durchzogen, und vereinzelt daſtehende groteſke
Felsformationen find auf ihr keine Seltenheit. Tiefe, mit-
unter meilenlange ſtraßenähnliche Höhlungen, die nicht früher
zu ſehen ſind, bis man dicht an ihren Rand gelangt, durch—
ſchneiden dieſelbe und bilden natürliche Hinderniſſe für den
Reiſenden und Schlupfwinkel für die Indianer. Das ganze
Land iſt aber baumlos und ſieht trotz ſeiner vielen Boden—
ſenkungen, wie eine endloſe Fläche aus. Hier erſtreckte
ſich die Steppe in langen wellenförmigen Linien ringsum
bis zum Horizonte, — ein Land-Ocean. Vereinzelte Gras—
brände hatten hie und da gleichſam ſchwarze Inſeln auf der
ungeheuren Grasfläche gebildet, welche das Monotone der
Landſchaft unterbrachen, und die Erdarbeiten an der Pacific—
bahn zogen ſich ſtellenweiſe darüber wie dunkle Linien meilen—
weit vor uns hin. Alle paar Meilen war die Steppe von
ſchmalen Bodenſenkungen „Barrankas“ genannt, durch—
zogen, welche oft, mit Waſſer gefüllt und nicht überbrückt,
unſerm Fortkommen unangenehme Hinderniſſe entgegen—
ſtellten. In einer ſolchen Barranka, von dem Kutſcher
das „Kembelloch“ genannt, weil ſein College Kembel
einmal dort während achtundvierzig Stunden mit einer
Stage ſtecken blieb, hatten wir das Mißgeſchick, im Schlamm
feſtzufahren. Wir waren genöthigt, hier die Poſtſäcke als
Faſchinen zu benutzen, um neben den Rädern Fuß faſſen
und den Pferden beim Losbringen des ſchweren Wagens
Hülfe leiſten zu können. Nach einer anderthalb Stunden
dauernden anſtrengenden Arbeit gelang es uns, mit ver—
aeinter Kraft in die Speichen greifend, während der Kutſcher
die Thiere mit indianiſchem Schlachtgeheul zum Anziehen
ermunterte, die Stage — allerdings nicht zur Verſchönerung
der Poſtſäcke — wieder aus dem „Kembelloch“ herauszu—
bringen. Auf meine beſcheidene Anfrage an den Kutſcher,
— "ara Men re ee ccc ee Se
—
nen —— — — — — Da
12
weshalb die Stage-Compagnie das „Kembelloch“ nicht
überbrücken ließe, belehrte er mich, daß dies vergebliche
Mühe ſei, da die erſte vorbeipaſſirende Emigrantenfuhr
die Brücke unfehlbar zu Feuerholz benutzen würde. Wo
bei beſonders ſchlechten und ſumpfigen Stellen den Pferden
das Ziehen ſchwer ward, pflegten ſämmtliche männlichen
Paſſagiere unſerer Reiſegeſellſchaft auszuſteigen. Jeder
von uns bewaffnete ſich dann mit Steinen, und während
wir auf ein gegebenes Zeichen Alle auf einmal die Thiere
unter lautem Geſchrei mit einem Steinhagel bombardirten,
und der Kutſcher fluchend auf die Roſſe einhieb, riß das
erſchreckte Sechsgeſpann mit vereinter Kraft die Stage durch
das Sumpfloch, daß der Schlamm uns um die Ohren flog
und hoch bis über das Kutſchendach ſpritzte.
So kutſchirten wir über die Steppe, bis wir dreißig
engliſche Meilen von Salina, Fort Harker, (ehedem Fort
Ellsworth genannt) erreichten. Romantiſch ſtanden die
Garniſonsgebäude auf der Ebene da, und lange Züge von
Gouvernementsfuhrwerken, mit ihren weißleinenen, mit den
großen ſchwarzen Buchſtaben U. 8. markirten Planen
brachten Leben und Abwechſelung in das Landſchaftsbild.
In der Regel waren zwei Frachtwagen, der vorderſte
mit acht Mauleſeln beſpannt, einer hinter den andern ge—
bunden, auf welche Weiſe acht Zugthiere ſo viel zu ziehen
vermögen, als zwei ſechsſpännige Fuhren fortſchaffen können,
während dabei ein Fuhrmann überflüſſig wird. Etwas
nordweſtlich von Fort Harker liegt ein zwanzig Fuß hoher
vereinzelter Felſen, „Fremonts Fels“ genannt. Dort hielt
der berühmte „Pfadfinder“ eine Rede an verſchiedene
damals mächtige Indianerſtämme und ermahnte ſie zum
Frieden mit den Weißen, welche ſie ſonſt mit Donner und
Blitz vernichten würden, ein Rath, welcher von ihnen zu
ihrem Schaden wenig beherzigt worden iſt. Zu jener Zeit
13
hatten die Weißen eben erft ihre Anſiedelungen an den Ufern
des Miſſouri gepflanzt und die Indianer waren noch die
unumſchränkten Herren der Wildniß, von dort bis zum
tauſend Stunden entfernten Stillen Ocean. Heute ſteht
die Indianerrace bereits ſo zu ſagen mit einem Fuß im
Grabe, und die Weißen haben blühende Staaten in jenen
Wildniſſen geſchaffen; und bald werden unter dem ſchrillen
Pfeifen der Locomotive die menſchengefüllten Waggons
mit Sturmeseile bei dieſem Felſen vorüberbrauſen!
Als wir weiter über die Steppe fuhren, begegnete
uns ein wild ausſehender Reiter in phantaſtiſchem Leder—
coſtüm, der bis an die Zähne bewaffnet war und ſich bei
uns erkundigte, ob wir nicht vier Deſerteure geſehen hätten,
auf deren Verfolgung er begriffen ſei. Ein einzelner Mann,
der vier, wie vorauszuſetzen bewaffnete deſperate Kerle
auf der Steppe einfangen wollte, war mir eine intereſſante
Erſcheinung. Ich erfuhr, daß dieſer Wagehals der be—
rühmte „wilde Wilhelm“ (wild Bill) ſei, von deſſen faſt
unglaublichen Abenteuern ich ſchon mehrfach geleſen hatte.
Zur Zeit war derſelbe Staffetten-Reiter im Dienſte des
Generals Hancock und ſtets bereit, auf eigene Fauſt die
verwegenſten Streifzüge zu unternehmen. Oefters hatte
er ganz allein ein Dutzend und mehr Indianer angegriffen
und in die Flucht geſchlagen, und wurde das Einfangen
von vier Deſerteuren von ihm gewiß für ein ſcherzhaftes
Intermezzo gehalten. Die Zahl der von ihm getödteten
Weißen belief ſich nach ſeiner eigenen Angabe auf mehr als
hundert, während er es nicht der Mühe werth gehalten
hatte, die Indianer, welche er ffalpirt, zu zählen. Das
wettergebräunte Geſicht und die Adlersaugen dieſes Mannes—
ſchlächters, der bald darauf allein ſeitwärts über die Steppe
weitergalloppirte, behielt ich treu im Gedächtniß.
14
Bei einbrechender Nacht nahm ich wieder meinen Sitz
in der Kutſche, wo wir zwölf Paſſagiere, groß und klein,
uns in unſer Minimum zuſammendrückten. Eine recht elende
Nachtfahrt war es, und da nicht zu hoffen ſtand, daß ſich
unſere Bequemlichkeit bis Denver irgendwie verbeſſern würde,
ſo war meine Laune eben keine roſige zu nennen. Die
Chicagoer Familie machte ſich unausſtehlich. Mann und
Frau zankten ſich faſt fortwährend; das Baby ſchrie vier—
telſtundenlang und kreiſchte dabei, als ob es am Spieße
ſteckte; Charlie, der älteſte Knabe, ein Prachtexemplar
vom frechen, vorlauten Jungamerika, gab ſeine Anſichten
über Politik und Tagesneuigkeiten zum Beſten, worin ihn
fein jüngerer Bruder Sam nach Kräften unterſtützte,
während der mir beſonders verhaßte rothhaarige Sandy
darauf beſtand, mir ſein Solferinohaupt in den Schooß
zu legen. Da alles Remouſtriren meinerſeits gegen dieſe
Vertraulichkeit nichts nützen wollte, ſo nahm ich zu einem
ſtrategiſchen Plan meine Zuflucht, der ſich in ähnlichen
Fällen bereits practiſch bewährt hatte. Leiſe zog ich eine
Stecknadel aus meinem Rockkragen, — wo ich nach Jung—
geſellenart ſtets einige davon vorräthig hatte, — und appli—
zirte dem Sandy einen freundſchaftlichen Stich in die Wade,
was Jenen ſofort mit lautem Geſchrei in Papa's Schooß
trieb. Ich fürchtete mich natürlich mehr als ſonſt Jemand
in der Stage vor dem giftigen Scorpion, der den Saudy
geſtochen haben ſollte. Die Mormonendame fiel faſt vor
Furcht in Ohnmacht, als ich, um den Caſus zu erläutern
ſofort einige Scorpions- und Tarantulageſchichten aus Texas
und Central-Amerika zum Beſten gab. Nachdem ich das
Experiment mit der Stecknadel ein paar Mal wiederholt
hatte, ſchien Sandy zu meiner Befriedigung meine Nähe
gefliſſentlich zu vermeiden.
15
Während mehrerer Stunden waren wir gezwungen,
bei ſtockfinſtrer Nacht ſtille zu liegen und das Aufgehen
des Mondes abzuwarten, weil auf der endloſen dunklen
Fläche jedes Merkzeichen zum Orientiren fehlte. Anſehn—
liche Grasbrände leuchteten in verſchiedenen Richtungen
auf, ab und zu heulte ein Wolf, dem ein Kamerad aus
weiter Ferne antwortete, oder ein Raubvogel flog krächzend
über uns hin. Als die Mondſcheibe voll am Horizonte
emporſtieg und die Ebene beſchien, jagten ſich die großen
Schatten dunkler Wolken über das bleiche Gefild, als ob
finſtre Ungethüme ſich verfolgten. Endlich, lange nach
Mitternacht fiel ich in einen unruhigen Schlaf, aus dem
mich das Zetergeſchrei des Baby, dem ſeine Mutter ſoeben
Morgentoilette machte, beim erſten Grauen des neuen Tages
unangenehm weckte. Nichts Eiligeres hatte ich zu thun,
als meinen früheren Sitz beim Kutſcher wieder einzunehmen,
welchen Platz ich während meiner Reiſe gegen alle Ex:
dringlinge bei Tage fortan behauptete.
Die Steppe hatte heute ein ſchöneres Kleid angelegt.
Junges Grün deckte den wellenförmigen Plan, hie und da
ſtand ein ſchimmerndes Blümlein in der hellen Morgenſonne.
Die zahlreichen Löcher auf der Steppe, welche ausſahen,
als ob Bomben dort krepirt ſeien, rührten vom Wühlen
der Büffel her. Tief ausgetretene Fußpfade, einzeln oder
doppelt neben einander herlaufend, welche alle in der Rich—
tung von Süd nach Nord, oft die Fahrſtraße kreuzten,
waren Büffelwege, auf denen dieſe Thiere in Reihen hinter
einander hertraben. An dieſem Vormittage gewahrte ich die
erſten zwei Büffel, welche wie ſchwarze Kleckſe ſich an einer
fernen grünen Höhe zeigten. Skelette von Büffeln, Pferden
und Rindern und andere Thiergerippe, die am Wege bleichten,
waren ſo häufig, daß ich bald gar keine Notiz mehr von
ihnen nahm.
16
Einzelne Gräber am Wege, mit über Kreuz zuſammen—
genagelten Stöcken darauf, machten einen düſteren Eindruck.
Ungenannt ſchliefen dort die raſtloſen Abenteurer, die Pioniere
der Civiliſation, den ewigen Schlaf auf der einſamen Steppe.
Ob von Krankheit und Seuchen dahingerafft, oder den Müh—
ſeligkeiten der Reiſe erlegen, ob ein Opfer des Mordes, der
Rachſucht oder des Raubes, oder von den Wilden grauſam
getödtet — Niemand vermochte es zu ſagen! Graus und
Entſetzen, verloren gegangene Hoffnungen, Noth und Herzeleid
ſchlummerten in dieſen Gräbern. Hatte ein treues Weib dem
Gatten hier den Todesſchweiß von der kalten Stirn getrocknet,
oder legte ſich ein verlaſſener, lebensmüder Wanderer nieder
zum Sterben? — Hielten dort gar erbarmungsloſe Wilde
mit teufliſchem Gejauchze die blutigen Scalpe hoch empor?
Verſchollen der Jammer, und Keiner kann davon Kunde
geben! und bald werden auch jene Todtenhügel und ihre
Kreuze verſchwunden ſein. Nur die Winde der großen Steppe
werden über den vergeſſenen Grabſtätten ein Klagelied ſingen!
Während wir ſo immer weiter weſtwärts über den
Steppenocean eilten, und nach Büffelheerden, Antilopen
und Indianern ausſpähten, paſſirten wir jede acht bis zwölf
engliſche Meilen eine Stage-Station, an welcher die Pferde
gewechſelt wurden und wo wir gelegentlich unſere nicht eben
lukulliſch zu nennenden Mahlzeiten für anderthalb Dollars
die Portion einnahmen. Die Stationen beſtanden aus roh
gezimmerten Holzhäuſern, mit Stallungen daneben und
großen Heuſchobern in gefährlicher Nähe, die bei aus—
gedehnten Grasbränden der Steppe nicht ſelten mit den
Gebäuden in Flammen aufgehen. Die Bewohner jener Sta—
tionen ſchwebten Alle in tödtlicher Angſt vor den Indianern;
die Frage, ob wir auch gut bewaffnet ſeien, wiederholte
ſich bei jedem Halteplatze und wurde immer bedeutſamer,
je näher wir den Jagdgründen der Rothhäute kamen.
17
Einige Meilen jenfeit3 des vom 3. V. St.-Cavallerie-
Regimente beſetzten Fort Hayes, welches wir am hohen
Vormittage paſſirt hatten, erreichten wir, 90 Miles von
Salina die Station Big Creek. Hier mußten wir vor—
läufig liegen bleiben, weil die Indianer ſämmtliche vierzig
zur Station gehörigen Pferde zum offenbaren Hohn des in
nächſter Nähe liegenden Truppen-Commando's geraubt
hatten. In der Station ſah es aus wie in einer belagerten
Feſtung. Hinterladungsbüchſen, Carabiner und Revolver
hingen reihenweiſe an den Wänden, Patronen lagen auf
Tiſchen und Bänken und Jedermann handhabte Waffen, lud
Gewehre und ſah unruhig oft hinaus auf die Steppe, als
ob die Indianer jeden Augenblick erſcheinen könnten. So—
eben war die Nachricht eingetroffen, daß die Rothhäute die
nächſte weſtlich liegende Station angegriffen nnd verbrannt
hätten. Die drei dort wohnenden Stationswächter hatten
ſie ſchrecklich verſtümmelt und darauf noch lebend in die
Thür gelegt, die Köpfe draußen und mit den Beinen im
brennenden Gebäude. Zwei andere Stationen waren dem—
ſelben Schickſal nur dadurch entgangen, daß die Wächter,
welche die rothen Teufel bei Zeiten gewahr wurden, eiligſt
die Thüren ſchloſſen, worauf die Wilden unter der Drohung,
bald wieder kommen zu wollen weiterzogen. Mit welchen
Gefühlen wir Stagereiſenden dieſe Schauergeſchichten an—
hörten, läßt ſich denken! Auf einer Wegſtrecke von mehr
als dreihundert engliſchen Meilen in der Wildniß ſollten
wir in einer einzelnen Kutſche ſolchen Schreckniſſen Trotz
bieten und mitten durch das Jagdgebiet der ergrimmten
Rothhäute fahren. Die Truppen ſtellten noch keine Be—
deckungsmannſchaft, und ſelbſt auf die Hoffnung, in Be—
gleitung von zwei oder mehreren Stages zu gegenſeitigem
Schutze die Reiſe zurückzulegen, mußten wir verzichten,
da die zum Wechſeln nöthigen Pferde an den Stationen
2
18
fehlten. Seit drei Tagen war keine Kutſche vom Weſten
angelangt, was die Ausſicht noch ominöſer machte. Der
in Big Creek wohnende Diviſionsagent der Stage-Com—
pagnie hatte vollſtändig den Kopf verloren. „Wir müßten
ſelbſt zuſehen, wie wir durchkämen, helfen könne er uns nicht!“
— das war der leidige Troſt, den er uns gab.
Da wir vorausſichtlich nicht vor der zweiten Station
Pferde wechſeln konnten, indem ja die nächſte von den
Indianern zerſtört war, und wir auch mit demſelben Ge—
ſpann, das uns nach Big Creek gebracht, weiter fahren
mußten, ſo war vor Allem nöthig, die Thiere raſten zu
laſſen. Der Kutſcher benutzte ſeine Mußezeit, unſere Stage
einer gründlichen Reviſion zu unterwerfen, damit wir nicht
Gefahr liefen, unterwegs etwas am Wagen zu zerbrechen,
was bei einem Kampfe, oder beſſer geſagt — Davonlaufen
vor den Indianern unangenehme Folgen haben möchte. Wir
Paſſagiere ſuchten unterdeß unſere Waffen in guten Stand zu
ſetzen, ſchoſſen nach der Scheibe, übten uns im Schnellfeuern
und recognoscirten ab und zu die Steppe mit Ferngläſern,
während unſere Damen ſich in herzzerbrechenden Lamenta—
tionen ergingen. Gegen Abend langte eine zweite Stage—
kutſche, die mit bewaffneten Paſſagieren überfüllt war und
wie ein fahrendes Arſenal ausſah, vom Oſten bei der
Station an und wurde als Verſtärkung unſerer Macht mit
Jubel begrüßt.
Während der Nacht wurden Vorpoſten ausgeſtellt,
durch das Loos beſtimmt. Auf mich fiel die Zeit von ein
bis vier Uhr Morgens, welche ich in Gemeinſchaft mit einem
der Stationsleute abhalten mußte. Jeder von uns war
mit einer mit achtzehn Spitzkugelpatronen geladenen Henry's—
Büchſe und zwei ſechsſchüſſigen Marinerevolvern bewaffnet.
Langſam gingen wir vor den Stationsgebäuden auf und ab
und ſpähten forſchend hinaus auf die vom Mondlicht bleich
19
beſchienene Steppe. Mitunter wähnten wir, es ſchwankten
die Grashalme über einer dunklen ſich leiſe dahin bewegen—
den Geſtalt, als ob dort Indianer auf dem Boden heran—
ſchlichen. Schnell wurden dann die Büchſen ſchußfertig ge—
halten, wir lüfteten die Revolver im Gürtel und zogen uns
in den dunklen Schatten der Gebäude zurück. Ob es In—
dianer geweſen waren, jene verſchwimmenden Geſtalten, die
wir öfters in einer Entfernung von etwa hundert Schritt
im Gras entlang ſchleichen ſahen, ob Wölfe oder Coyotes,
deren Geheul und weinerlich ſchallendes Gekläff mitunter
unheimlich die Stille der Nacht unterbrach, darüber blieben
wir im Zweifel; denn wir wollten die Schlafeuden in der
Station durch Schießen nicht unnöthig in Schrecken ſetzen.
Mein Gefährte, ein wackrer Irländer, war Tags zuvor
alleine zu Fuß von Salina angelangt, mit der Abſicht, ſich
in der Station als Arbeiter zu verdingen, oder nöthigen—
falls gegen die Indianer zu fechten. Das Leben dieſes
muthigen Sohnes der „grünen Inſel“ war ein ſehr be—
wegtes geweſen. Jahrelang hatte er ſich am „Cap“ (der
guten Hoffnung), in Oſtindien, Algier, Peru, Chili, Auſtralien
und Californien aufgehalten. Was er mir an ſeltſamen
Abenteuern in jenen Ländern mit leiſer Stimme erzählte,
trug bei der uns umlauernden Gefahr nicht wenig dazu
bei, jene drei Stunden auf dem Poſten auf mondlichter
Steppe romantiſch zu machen. Charactere wie dieſen Ir—
länder findet man tauſende im fernen Weſten Amerika's;
aber es gehört zu den großen Seltenheiten, wenn Einer
von ihnen das Erlebte auf intereſſante Weiſe wiedererzählt.
Haarſträubende Abenteuer, deren Beſchreibungen in einer
illuſtrirten Zeitung bei flackerndem Kerzenlicht von blaſſen
Penſionsmädchen ſchaudernd im Bett geleſen werden würden,
ſind ſolchen Leuten etwas ſo Gewöhnliches, daß es ſtets
ein Zufall iſt, wenn die Welt davon erfährt. Als der
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20
Tag angebrochen war und wir eben ein Morgenpfeifche
in der Gaſtſtube rauchten, erſtaunten wir nicht wenig, vo
einem Eiſenbahnarbeiter die Neuigkeit zu hören, es hätte
die Indianer in dieſer ſelben Nacht ſeinen Kameraden etlich
zwanzig Pferde geſtohlen. Jetzt zweifelten wir nicht länge
daran, daß die Indianer ganz in unſerer Nähe gewefe
waren und uns auf dem Poſten beobachtet hatten; ware
aber doch ganz zufrieden, ihre werthe Bekanntſchaft nich
näher gemacht zu haben!
Den zweiten Tag unſeres unfreiwilligen Aufenthalte
in der „Big Creek-Station“ verbrachten wir fo gut als e
ſich unter den Umftänden machen ließ. Einige von un
ſpielten vor den Gebäuden auf dem grünen Anger Bal
und Ringwerfen und Andere ſpähten mit Feldgläſern nad
Indianern und Stages oder ſchoſſen nach der Scheibe
während die Damen, welche, als die Geſellſchaft ſich ver
größerte, die Wilden ganz und gar vergeſſen hatten, ir
Begleitung einiger Cheſterfields an dem dicht hinter de
Station fließenden Bach ſich am Fiſchfang amüſirten. Ei
ſehr häßliches Büffelkalb wurde von der Jugend ganz be
ſonders bewundert. Zwei zahme Prairiehunde (spermo
philus ludovicianus, der amerikaniſche Hamſter), welche ſich
auf dem Hofe in Erdlöchern häuslich eingerichtet hatten
nahmen am meiſten die Aufmerkſamkeit in Anſpruch. Jen
putzluſtigen Thierchen, welche mit ihren kurzen Schwänzen
vergnügt wedelten, wenn fie mit einem lautem „Tſchirp!“ —
„Tſchirp!“ vor uns in ihre Löcher flohen, um bald darau
wieder klug herauszugucken, als wollten fie ſagen: „Na nu
ihr habt ja nur Spaß gemacht!“ — wurden wir nicht müde
zu betrachten, da ſie ebenſo liebenswürdig als frech waren
Gegen Mittag brachten die Damen von ihrer Razzie
ein paar hundert von anderthalb bis zehn Zoll lange Fiſche
zurück, welche mit Jubel begrüßt wurden, und die wir be
21
Tiſche, in Butter gebraten, den trockenen Büffelſteaks bei
weitem vorzogen. Kaum hatten wir unſeren Imbiß be—
endigt, als der frohe Ruf: „die Stage! — die Stage!“
erſcholl. Es war keine Täuſchung. Dort kam der kühne
Steppenfahrer vom fernen Weſten her, und bald darauf
ſprengte das ſchnaubende Sechsgeſpann über den grünen
Plan heran und wurde bei der Station mit Hurrah em—
pfangen. Zu unſerer großen Beruhigung vernahmen wir,
daß auf der Fahrt von Denver bis hierher gar keine In—
dianer geſehen worden waren. Gegen Abend langte noch
eine Stage mit Paſſagieren von Salina an, und es war
von den bis an die Zähne bewaffneten Inſaſſen der vier
Poſtkutſchen ſo lebendig in der Station, wie in einem
Feldlager.
Aber die Zeit drängte und wir rüſteten uns zur
Weiterreiſe. Schon war der Mond aufgegangen. Die
Pferde hatten ſich genug ausgeruht und waren eingeſchirrt,
und der Kutſcher knallte ungeduldig mit der Peitſche und
hielt mit Mühe nur die ſich bäumenden Thiere. Schnell
nahmen wir alle unſere Plätze in der Stage ein. Die
Sprößlinge der Chicagoer Familie wurden unter Zeterge—
ſchrei in die Kutſche expedirt, während der Papa mit ſeiner
ſchlecht gelaunten Ehehälfte kräftige Complimente austauſchte
und ein Paar zurückbleibende Goldjäger ſich laut in an—
züglichen Witzen über Sandy und das „Baby“ ergingen:
da ließ der Kutſcher mit einem kräftigen Peitſchenhieb auf
die Roſſe dieſen die Zügel ſchießen und fort ſprengte in
geſtrecktem Galopp unſer muthiges Sechsgeſpann. Als wir
drei Paſſagiere, die, mit den geladenen Büchſen in der
Hand, auf dem Kutſchendache Platz genommen hatten, die
Hüte ſchwenkten, erſcholl hinter uns ein lautes „good bye!“
— und kaum war der letzte Abſchiedsgruß verhallt, als
wir bereits eine halbe Meile entfernt, in raſender Eile
über die nächte Bodenhebung jagten; die Stationsgebäude
entſchwanden unſerm Blick und wir waren wieder allein
auf bleicher, endloſer, mondbeleuchteter Steppe.
Friſch auf, ihr Renner! hebt das Haupt und ſchüttelt
die Mähnen und trabt eilig hin über den glatten Plan,
mit hoch gehobenen Hufen! und du, Mond, mit dem
lächelnden Antlitz, gieße dein helles Licht über die weite
Ebene, daß nicht die tückiſchen, blutgierigen Wilden ſich un—
erwartet uns nahen! — Fort! — fort! — immer gen
Weſten — und ſcharf geſpäht Kameraden, vom hohen Sitz
und das gute Feuerrohr fertig zum Schuß! Keine Nacht
iſt dieſe zum Schlafen hier oben auf eilender Kutſche, wenn
der teufliſche Feind uns vielleicht hinter dem nächſten Hüge
zum Blutfeſt erwartet. Was ſchleicht dort drüben und duck
ſich im hohen Gras — zwei — drei — vier Geſtalten?
Coyotes ſind es, die feigen Jakals der Steppe, die ausgingen,
um Gräber aufzuſpüren und Leichen auszuſcharren, oder
vielleicht einen lahmen Büffel hinterrücks im Schlafe zu
überfallen. Nicht gefeuert, Freund! es möchte der Knall
uns grimmigere Feinde herbeilocken, erbarmungsloſere, als
jene Hyänen der Steppe. Fort! Fort! immer gen Weſten
— und nicht müde geworden, ihr wackeren Roſſe! Was
ſchnaubt ihr ängſtlich und blickt zur Seite? — Ha! die
ſchwarzen Ruinen ſind es, nahe am Weg, die grauſige
Stätte, wo noch vor zwei Nächten die rothen Teufel wü—
theten mit Mord und Brand und Entſetzen. War's doch,
als ob Luna ihr Antlitz verbarg hinter jener finſtren Wolke,
um nicht den Schreckensort zu ſchauen, wo brave Männer
verſtümmelt, zerhackt den Tod fanden in den praſſelnden
Flammen — mit zuckenden, blutenden Gliedern lebendig
verbrannt! — Ein Rudel Wölfe flieht aus den Ruinen,
wo ſie nach Leichen geſpürt, und im geſtreckten Galopp
jagen wir weiter, vorbei an dem Orte des Entſetzens.
23
| Fort! — Fort! — immer gen Welten! die langan⸗
ſchwellenden Hügel hinan, hinab in raſender Eile. Wild
ſpringen die Roſſe zur Seite und ſtürmen mit ſchnaubenden
Nüſtern in weitem Bogen hinaus auf die pfadloſe Steppe,
und ein ſchwarzer Koloß erhebt ſich dicht vor uns im
Wege. Ein Büffel war es, der dort Sieſta gehalten, und
jetzt erſchreckt nordwärts flüchtet im ſchweren Galopp. —
Seht! vor uns liegt ein einſames Haus mit niedrigem
Dach. Wildes Gejauchze läßt der Kutſcher erſchallen, um
die ſchlafenden Männer in der nahen Station zu wecken.
Jammergeſchrei und lautes Weinen ertönt aus dem Wagen:
Die Frauen und Kinder wähnten beim Jauchzen des
Kutſchers, es ſeien die Wilden gekommen. Ein unbändiges
Gelächter vom Bock beruhigt ſie bald — und hier hält
unſer dampfendes Sechsgeſpann nach einem Schnelllaufe von
ein und zwanzig engliſchen Meilen vor der einſamen Station.
Vorſichtig öffnen die drei Inſaſſen des Stations—
gebäudes, mit den Waffen in der Hand, die Thüre, um
ſich zu vergewiſſern, daß ihnen nicht der Verrath genaht.
In der Erdſchanze hatten ſie geſchlafen, die in der Nähe
von den meiſten dieſer Stationen erbaut iſt und durch unter»
irdiſche Gänge mit dem Wohnhauſe und den Stallungen
Verbindung hat. Ein Paar Holzbänke mit Wolldecken
darauf, ein Krug Waſſer, und ein geringer Vorrath von
getrocknetem Büffelfleiſch und hartem Zwieback, nebſt einem
ganzen Waffenarſenal ſind der Inhalt dieſer Erdfeſte, der
ich einen flüchtigen Beſuch abſtatte. Auf verſchiedenen
Stellen öffnen ſich Schießſcharten durch die Erdwände dieſer
von außen unzugänglichen und den Wilden uneinnehmbaren
Feſte. Aber ſchon knallt der Kutſcher mit der Peitſche und
mahnt laut rufend die Paſſagiere einzuſteigen. Ein friſches
Sechsgeſpann ſteht eingeſchirrt und ſchnell wie wir gekommen
eilen wir weiter. —
)
24
Der Morgen iſt angebrochen, klar und froftig, und
der Wind, welcher ſich während der Nacht gelegt hat, bläſt
wieder recht kräftig, nicht ſtoßweiſe, ſondern in langem,
gleichmäßigem Zuge. Dieſe unabläſſig wehenden, den feinen
Sand forttreibenden heftigen Winde ſind mit dem ſcharfen
Witterungswechſel naßkalter Winter und trockener Sommer
die Haupturſache der vielen grotesken Felsformationen, denen
man auf den Ebenen begegnet. Der feine flüchtige Sand
nagt unaufhörlich an den vereinzelt ſich erhebenden Geſtein—
maſſen. Im Laufe von Jahrtauſenden wurden die verwitterten
oder weicheren Theile des Geſteins buchſtäblich fortgeblafen,
die härteren Felsſtücke dagegen blieben ſtehen und bildeten
vom ſandgeſchwängerten Winde in wunderbare Formen
ſozuſagen ausgemeißelt, oft die überraſchendſten Figuren, —
natürliche Obelisken und Säulen, meilenlange Steindämme,
täuſchend ähnliche Nachbildungen von Domen, Baſtionen,
rieſigen Standbildern, Ruinen von Tempeln und Schlöſſern,
Bogengängen, crenellirten Mauern und tauſenderlei mehr
Abſonderlichkeiten. In Folge des ſcharfen Windes iſt die
Luft in dieſen Gegenden außerordentlich zehrend, dabei aber
ſo rein, daß eine Erkältung in dieſen Gegenden zu den
größten Seltenheiten gehört. Der fatalſte Huſten oder
Schnupfen wird Einem hier binnen vier und zwanzig Stun—
den complet fortgeblaſen. Einen Appetit entwickeln die
Ueberlandreiſenden, der ſie ſelbſt in Erſtaunen ſetzt; aber
recht ſatt wird trotz alles Eſſens doch Keiner von ihnen.
Wir fuhren am Smoky Hill-Fluſſe, einem ſeichten
und ſchlammigen Gewäſſer, hin, nach welchem dieſe Stage—
Route ihren Namen erhalten hat. Die Gegend war mit—
unter ziemlich hügelig, und oft überraſchten uns die ſelt—
ſamſten Felsformationen. Hie und da trat Schiefer zu
Tage, und an mehreren Punkten gewahrte ich Kreide- und
Sandſteinbänke hart am Wege, die wie natürliche Steinbrüche
25 fr
7 N
1
ausſahen. Dann wieder verflachte ſich die Gegend und ein
mit goldgelben Sternblumen geſchmückter grüner Teppich
erſtreckte ſich endlos ringsum. Mitunter zeigten ſich ver—
einzelte Schaaren von Büffeln (Buffalos), welche ſich ſobald
ſie die Stagekutſche gewahr wurden, in Bewegung ſetzten,
um die Fahrſtraße vor uns zu überſchreiten. Sie ſchienen
dies entſchieden als einen Ehrenpunkt anzuſehen. Unermüdet
rannten die gewaltigen Thiere, mit dem buſchigen Höcker
dicht hinter dem ſtämmigen Nacken und den zierlichen Beinen,
halbſtundenlang mit tief gekrümmten Rücken im ſchweren
Galopp neben uns her, die Zunge lang aus dem Halſe
hängend, immer näher kommend und unbeirrt durch die
Schüſſe, welche wir fahrenden Nimrods ihnen gelegentlich
zuſandten. Unſeren im ſchnellſten Lauf dahineilenden ſechs
Roſſen gewannen jene ſcheinbar ſo unbeholfenen Thiere
immer mehr und mehr Boden ab und erreichten jedesmal
ihre Abſicht, die Straßen vor dem Wagen zu kreuzen. —
Ein Detachement von fünf Büffeln paſſirte nach einem
ſolchen Wettrennen von etwa acht engliſchen Meilen keine
zwanzig Schritt vor uns über die Straße, nach welchem
Siege ſie plötzlich mit dem Laufe einhielten und ruhig
weiterſpazierten. Als Anerkennung ihrer Bravour und
Ausdauer unterließen wir's jenen ritterlichen Biſons Eins
auf den zottigen Pelz zu brennen.
Ein paar Mal gewahrten wir kleine Abtheilungen von
Antilopen, jener perſonificirte Poeſie der Steppe, welche
graciös über den Plan hineilten und bald hinter einer
Bodenhebung verſchwanden. Mitunter blieb eins der Thier—
chen von einer fliehenden Schaar ſtehen und blickte uns ver—
wundert ein paar Minuten lang an, worauf es plötzlich
kehrt machte und eilig weiterrannte. Durch eine rothe
Fahne laſſen ſie ſich leicht in Büchſenſchußweite heranlocken,
da ſie außerordentlich neugierig ſind. Rannte eine Antilope
26
auf ihrer Flucht zufällig an die Landſtraße, ſo prallte fie
unfehlbar davor wie vor einer fremden Erſcheinung zurück
und floh auf demſelben Wege, auf dem ſie gekommen, weiter,
bis ſie unſeren Blicken hinter einem Hügel entſchwand.
Eins dieſer niedlichen Thiere näherte ſich uns bis auf etwa
hundert Schritt und blickte uns eine geraume Zeit ver—
wundert an, ehe es zurückfloh. Es war ein erregender
Moment, das allerliebſte Thierchen, deſſen glattes Vließ
in's gelblich Braune ſpielte, ſo nahe zu ſehen, als ſei es
ein zahmes Reh. Keinem von uns fiel es ein, daſſelbe
durch einen Schuß zu erſchrecken und nichts hätte ich lieber
gethan, als es zu liebkoſen.
„Antilope, zierlich Thierchen,
Mit den Augen, ſonnenhelle,
Sag', warum ſo ſcheu, ſo flüchtig,
Der Savannen du Gazelle?“
„Wenn du durch die bunten Gräſer
Eileſt mit den leichten Hufen,
Schwebend, wie der Vogel flieget,
Möcht' ich gern dich zu mir rufen!“
„Möchte deinen braunen Rücken
Streicheln, niedliche Gazelle,
Und dir in die Aeuglein ſchauen,
In die Aeuglein, ſonnenhelle!“
Sprach's — doch eh' ich kaum die Worte
Zu der Steppe Maid gerufen,
Schwand ſie hinter grünen Hügeln,
Wie verſchämt, mit leichten Hufen.
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27
Alle zehn bis zwölf englifhe Meilen kamen wir nach
einer Station, wo die Pferde gewechſelt wurden. Sie ſahen
ſich ſo ähnlich, wie ein Ei dem andern: Ein niedriges
Holzhaus, nebſt Stallungen und Heuſchobern und dahinter
eine, mitunter zwei Erdfeſten, denen die Stationswächter
den Namen „Beutelrattenlöcher“ (gopher holes) beigelegt
hatten, nach ihrer Aehnlichkeit im Bau mit den Erdlöchern
jener auf der Steppe in großer Zahl lebenden Thierchen.
Mit den 150 bis 200 engliſche Meilen von einander ent—
fernten Militairpoſten der Vereinigten Staaten bildeten jene
Stationen der Stage-Compagnie die alleinigen Zeichen der
Civiliſation auf den Ebenen. Aber nirgends hatte man
ſich die Mühe genommen, Gärten anzulegen, obwohl der
Boden vortrefflich und Dünger in Menge zur Stelle war.
Das Bauholz zu den Gebäuden mußte aus einer Entfernung
von dreihundert bis vierhundert engliſchen Meilen von
Denver herbeigeſchafft werden. Dort koſtete daſſelbe vierzig
Dollars, der Transport bis an Ort und Stelle des Ver—
brauchs einhundertundfünfzig bis zweihundert Dollars für
tauſend Fuß. Der Preis von Brennholz belief ſich auf
fünfundſiebzig Dollars die Klafter. Welſchkorn zur Fütte—
rung der Pferde und Maulthiere, Lebensmittel aller Art ꝛc.
koſteten einen viertel Dollar das Pfund allein für den
Transport, und alles dies mußte vom Weſtendpunkte der
Pacifiebahn oder von Denver herbeigeſchafft werden. Das
Paſſagegeld von 375 Dollars für die Reiſe von Leaven—
worth in Kanſas bis Boiſe City in Idaho war bei fo
bewandtem Preis-Courant auf der Ueberland-Stageroute
nicht übermäßig hoch geſtellt. Die Entbehrungen während
dieſer Reiſe hatten wir namentlich dem auf den Ebenen aus—
gebrochenen Indianerkriege zu verdanken, da wegen der
Schwierigkeit und Gefahr des Transportes die Lebens—
mittel überall in den Stationen ſehr knapp waren. Sonſt
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freilich pflegten Gemüſe, z. B. Spargel, Erbſen, Tomatos ꝛc.,
eingemachte Früchte, Auſtern, Hummer, Sardinen und der—
gleichen einem an civiliſirte Lebensweiſe gewöhnten Magen
äußerſt annehmbare Dinge in luftdicht verſchloſſenen Blech—
büchſen vom Oſten eingeführt zu werden. Aber wir bekamen
für anderthalb Dollars die Mahlzeit nur wenig von der—
artigen Gerichten zu ſehen und mußten uns — Dank den
Indianern! — meiſtens mit ranzigem Speck, ſchlechtem
Maisbrot und noch ſchlechterem Kaffee, mit trockenem Büffel—
und pikantem Antilopenfleiſch begnügen.
An jeder Stageſtation unterhielt man uns ſelbſtver—
ſtändlich mit haarſträubenden Erzählungen von Grauſamkeiten,
welche jüngſt von den Indianern verübt worden waren, und
die ſtereotyp gewordene Frage, ob wir auch gut bewaffnet
ſeien, ſowie das Mitleid, welches man mit den Frauen
und Kindern hatte, fingen nachgerade an, langweilig zu
werden. Wir wünſchten den großen Cheyenne-Häuptling
General Schlitznaſe (Cut Nose), welcher den Bau
der Pacifiebahn verhindern wollte und eine ſpecielle Malice
gegen alle Bleichgeſichter hegte, auch einmal von Angeſicht
zu Angeſicht zu ſchauen, — natürlich nicht mit zu vielen
von ſeinen eleganten Leibgarden! Wir waren jetzt innerhalb
der Grenzen ſeines Regierungsbezirks und befanden uns
auf der gefährlichſten Strecke zwiſchen Salina und Denver.
Die Sonne ſtieg höher. Am Horizonte lag es vor
uns wie eine lange Reihe von weißen Felſen, an denen die
Luftſpiegelung ſich brach, als brandete das Meer dort am
fernen Klippengeſtade In der Nähe eines vereinzelt in der
Ebene emporragenden Felſens, welcher nach ſeiner, freilich
etwas hergeholten Aehnlichkeit mit einer alten Ritterburg
der Schloßfelſen (castle rock) hieß, ſollte das Haupt—
quartier des blutdürſtigen Cheyenne-Häuptlings ſein. Unſer
Kutſcher behauptete, ein intimer Freund von „Schlitznaſe“
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zu fein, den er als einen im Umgang ganz gemüthlichen
Kerl kenne. Derſelbe hätte ihm auch aus alter Freund—
ſchaft das Verſprechen gegeben, ihn nicht ſkalpiren zu wollen,
falls er ihn einmal in der Stage zu faſſen bekäme: ein
allerliebſter Troſt für uns Mitreiſenden! — Unſere ſechs
Grauſchimmel mußten diesmal ohne Aufenthalt neunzehn
engliſche Meilen zurücklegen, da die nächſte Station „Caſtle
Rock“ aus Furcht vor Schlitznaſe von ihren Bewohnern
verlaſſen worden war, und man Niemand finden konnte,
der in einer ſo intereſſanten Nachbarſchaft ſein Domicil
hätte aufſchlagen wollen. Die Stage glich einer beweg—
lichen Feſtung. Jeder von ihren fünf männlichen Inſaſſen
hatte eine Hinterladungsbüchſe in der Hand, Revolver und
lange Dolchmeſſer im Gürtel, Patronen und Zündhütchen
in allen Taſchen, um bei einem etwa vorkommenden Ge—
fecht nicht lange darnach ſuchen zu müſſen. Drei von uns
hatten auf dem Kutſchendache Poſten gefaßt und zwei ſaßen
im Wagen, Einer an jedem Fenſter. Mit unſern Feld—
gläſern und Opernguckern rekognoscirten wir unabläſſig
die Gegend nach allen Richtungen und beachteten kaum die
putzluſtigen Prairiehunde, welche mit lautem „Tſchirp!
Tſchirp!“ dicht neben der Straße hin- und herliefen, oder
auf den Hinterbeinen vor ihren Löchern daſaßen und, mit
dem Stummelſchwanz wedelnd, uns frech anblinzelten, als
wollten ſie ſagem: „Na nu! was thut ihr denn ſo gar
gefährlich!“ Sogar die ſich hier recht zahlreich zeigenden
Büffel und Antilopen hatten zeitweilig alles Intereſſe für
uns verloren.
Glücklich waren wir neben dem linker Hand nahe an
der Landſtraße liegenden „Schloßfelſen“ vorbeigefahren,
ſowie an einem mächtigen Felspfeiler, der ſich nicht weit
davon jäh aus der Tiefe emporhob, und bald zeigte ſich
uns die verlaſſene Station „Caſtle Rock“. Als ich ver—
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wundert darauf hindeutete, daß dieſelbe von den Indianern
nicht zerſtört worden ſei, woran ſie doch Niemand hätte
hindern können, erfuhr ich, es ſei Grundſatz bei den Wilden,
nie verlaſſene Gebäude aus Furcht vor einem ſchlau ange—
legtem Hinterhalt zu betreten, auch könne die Stationswache
unbeſorgt Kleider und Lebensmittel zurücklaſſen, wovon die
Indianer, welche Vergiftung, anſteckende Krankheiten oder
verborgene Höllenmaſchinen argwöhnten, gewiß nichts an—
rühren würden.
Plötzlich hieb der Kutſcher mit einem Fluche auf die
Grauſchimmel los und deutete nach links hinüber, von wo
eine lange Reihe dunkler Geſtalten, die wir Paſſagiere nicht
beachtet hatten, über einen ſich ſanft abdachenden Höhenzug
ſchnell näher kam. Da waren ſie, die gefürchteten Roth—
häute! — Auch wir hatten unſere Todfeinde bald durch die
Feldgläſer erkannt. — Es mochten ihrer dreißig bis vierzig
ſein und ſie hatten es offenbar darauf abgeſehen, uns den
Weg zu verlegen. Aber wir hatten etwas den Vorſprung,
die Straße war glatt wie der Boden einer Tenne und
unſere Roſſe waren keinenfalls von der langſamen Sorte.
Brach nichts am Geſchirr oder an den Rädern, ſo war die
Ausſicht, unſere Scalpe zu behalten keineswegs hoffnungslos.
Dem Kutſcher bedeuteten wir, nur auf die Pferde, das
Geſchirr und den Wagen Acht zu geben, wir würden ihm
die wilde Bande ſchon vorläufig vom Leibe halten!
Bald hatten auch die Indianer erkannt, daß ſie von
uns geſehen worden waren, und es begann nun ein im
höchſten Grade intereſſanter Wettlauf auf Tod und Leben.
Unſere Grauſchimmel ſchienen die Gefahr nicht minder als
wir zu würdigen, ſie thaten das Mögliche und flogen gleich—
ſam über den Plan. Doch gewannen uns die Indianer,
welche ſeitwärts von uns ſchräge herüberjagten, mehr und
mehr Boden ab. Sobald jene in den Bereich unſerer weit
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tragenden Büchſen gekommen waren, ſchickten wir ihnen,
um nicht mißverſtanden zu werden, daß wir keineswegs ge—
ſonnen ſeien, die ſchönen Grauſchimmel und unſere Scalpe
gutwillig Preis zu geben, Schuß auf Schuß zu. Die beiden
Goldgräber aus Montana, welche im Wagen geſeſſen hatten,
ſchwangen ſich, ihre Büchſen in der Hand, durch die Fenſter
auf das Kutſchendach, um von dort bequemer ſchießen zu
können, ein Kunſtſtück, deſſen Ausführung bei der wilden
Fahrt keine geringe Geſchicklichkeit erforderte. Wir fünf Paſſa—
giere ließen nun ein Schnellfeuer auf die wilde Horde los,
als ob wir eine Compagnie Scharfſchützen am Bord hätten.
Die Indianer antworteten uns mit Feuerwaffen, und
Einer von ihnen hatte ſogar die Frechheit, näher als hun—
dert Schritt gegen uns heranzureiten und ein paar Mal auf
uns zu ſchießen. Der berühmte Schlitzuaſe war es nicht,
den der Kutſcher ſicher erkannt hätte und der ſich als
commandirender General wahrſcheinlich in gemeſſener Ent—
fernung hielt. Wären die andern Indianer ſo kühn wie
jener Vorreiter geweſen, ſo hätten ſie uns ohne Frage durch
einen Maſſenangriff leicht bewältigen können. Aber das
mußte ihnen wohl zu gefährlich ſcheinen. Selten wagen die
Indianer, welche von Natur hinterliſtig ſind, einen offenen
Angriff. Bei dem geringſten unerwarteten Widerſtande
laufen ſie davon und greifen in der Regel nur da an, wo
ſie zwanzig gegen Einen ſind, oder wenn ſich ihnen die
Gelegenheit bietet, ſich in einen ſichern Hinterhalt legen zu
können. Von den alten Stagekutſchern und den verwegenen
berittenen Grenzjägern werden ſie als Feinde gründlich ver—
achtet. In unſerm Falle warteten ſie nur darauf, daß etwas
am Geſchirr oder am Wagen bräche, um alsdann über
uns herzufallen. Daß ſie das Geſpann niederſchießen und
wir ſo unrettbar Havarie leiden und ihnen in die Hände
fallen würden, brauchten wir nicht zu befürchten, außer es
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träfe eine ſchlecht gezielte Kugel eins der Pferde; denn auf
die Grauſchimmel hatten ſie es beſonders abgeſehen. Unſere
Skalpe galten ihnen nur als eine angenehme Beigabe.
Die Indianer ſaßen, oder vielmehr lagen wie ange—
wachſen auf ihren Ponies und deckten ſich auf der von
uns abgewendeten Seite ihrer Thiere ſo viel wie möglich
vor unſeren Kugeln. Die meiſten von ihnen ritten ohne
Sattel und hatten als Zaun einen Lederriemen um den
Unterkiefer ihres Pferdes geſchlungen. Was wir von ihren
roth bemalten Fratzengeſichtern zu ſehen bekamen, und das
teufliſche Geheul, daß ſie uniſono angeſtimmt, benahm uns
die Luſt, ihnen brüderlich die Hand zu reichen. In der
Kutſche machten die ſchreienden Frauen und Kinder eine
Vocalbegleitung zu dem Schlachtconcert, als ob die Wilden
ſie bereits beim Schopfe hätten. Mehrere Kugeln flogen
uns ziemlich dicht bei den Ohren vorbei, und auch einzelne
Pfeile ſchwirrten herüber, die von den Indianern in hohem
Bogen geſchoſſen wurden und uns faſt fo unangenehm wie
die Kugeln vorkamen. Doch zielten die Indianer erbärm—
lich und wurden augenſcheinlich durch unſer Schnellfeuer
ſtark beunruhigt. Einzelne von ihnen blieben weit zurück
und hie und da lief ein reiterloſes Pony fort, deſſen Eigen—
thümer von unſern Kugeln getroffen war oder, dieſelben
fürchtend, ſich auf den Boden geworfen hatte. Nachdem die
Teufelsjagd ſo eine Viertelſtunde gedauert, verſchwanden die
Indianer, welche wohl die nächſte Station, wo uns Hülfe
erwartete, bemerkt hatten, mit ſtrategiſcher Meiſterſchaft
plötzlich hinter einem Hügel und überließen uns das Schlacht—
feld. Unſer Gefechtsſchaden belief ſich auf ein paar Kugel—
löcher in Onkel Sam's Poſtſäcken, die oben auf der Stage
feſtgeſchnallt lagen, ein Loch durch den Hut eines Gold—
jägers und einen leichten Streifſchuß, den der Kutſcher am
Oberarm erhalten hatte. Den Rothhäuten ein höhniſches
33
Lebewohl nebſt Complimenten an den „General Schlitznaſe“
nachrufend, waren wir dennoch froh, mit ungeſchorenem
Haupte bei der nächſten Station anzulangen, wo wir uns
nach der ſiegreich beſtandenen Hetzjagd wie die Helden einer
modernen Ilias ſämmtlich ſtolz in die Bruſt warfen.
Nach kurzem Aufenthalte befanden wir uns mit einem
friſchen Sechsgeſpann auf der Weiterreiſe. Wollte ich be—
haupten, daß wir, trotz unſeres Siegesrauſches, uns nach
der Wiederholung eines ſolchen Scharmützels mit den Roth—
häuten ſehnten, ſo müßte ich entſchieden unwahr reden.
Nach wie vor recognoscirten wir die Steppe mit unſern
Operngläſern und waren ganz zufrieden damit, keine In—
dianer mehr in Sicht zu bekommen.
Antilopen und Büffel zeigten ſich jetzt immer zahlreicher;
die Prairiehunde hätte man nach Tauſenden zählen müſſen.
Dieſe geſelligen Thierchen leben in förmlichen Dörfern bei—
ſammen. Die etwa vier Stunden von Fort Kearny ent—
fernte ſogenannte „Hundeſtadt“, in welcher die Erdlöcher
in regelmäßigen Abſtänden zwanzig bis dreißig Fuß von
einander entfernt liegen, ſoll ſich volle ſieben engliſche
Meilen weit erſtrecken. Die Prairiehunde (Wiſch-Ton-Wiſch
werden ſie von den Indianern genannt), welche ſich von
Gras und Wurzeln nähren, ſind um Weniges größer, als
die Eichhörnchen, dunkelbraun von Farbe mit weißem Bauch,
und gehören zum Geſchlecht der Hamſter. Der Name „Prai—
riehund“ iſt geradezu abſurd. Ihr „Tſchirp! Tſchirp!“,
welchen Laut ſie, mit dem kurzen Schwanze wedelnd, oft ein
Dutzend Male ſchnell nach einander wiederholen, hat nicht die
geringſte Aehnlichkeit mit Hundegebell. Die luſtigen kleinen
Thiere haben ſich eigenthümliche Hausgenoſſen ausgeſucht.
Sie leben in Geſellſchaft von diminutiven Eulen, welche
man oft am Eingange ihrer Löcher ſteif wie Grenadiere
daſtehen ſieht, wie es heißt, um Wache für „die Familie“
3
— — —
34
zu halten. Zu dieſer gehören auch noch Klapperſchlangen,
gehörnte Eidechſen und Landſchildkröten, welche alle mit
den Eulen und Prairiehunden in demſelben Neſte friedlich
beiſammen wohnen. Aber letztere ſpielen die Rolle des
Hausherrn und führen das Commando in der Familie.
Sie ſind die fidelſten Geſchöpfe, welche man ſich nur denken
kann, und wir gewannen ſie ſo lieb, daß es uns nie einfiel,
ſie mit einem Schuſſe zu tödten. Nach ihrem runden, wohl—
genährten Aeußeren zu ſchließen konnten ſich die Wiſch—
Ton⸗Wiſch nicht über ſchlechte Zeiten beklagen. Oder war
ihnen das fröhliche Gemüth und die angenehme Geſellſchaft,
in welcher ſie ſich bewegten, zur Corpulenz zuträglich? Auch
beim Menſchen können ja die Begriffe Gemüthlichkeit und
Wohlbeleibtheit nicht gut von einander getrennt werden,
und unter den Thieren gilt wohl dieſelbe Regel!
Als magere Murrköpfe können unter den Steppen—
bewohnern die hundsföttiſchen Coyotes paſſend betrachtet
werden, und mit unſerer Freundſchaft für dieſelben war es
nicht weit her. Einem ſolchen Hungerleiderpaar, das uns
aus dem halb abgefreſſenen Cadaver eines dicht am Wege
liegenden verreckten Büffels ſchief anſah, machten wir ſeinen
ſocialen Standpunkt mit etlichen Revolverſchüſſen bald klar
und ſtörten es in ſeinen Betrachtungen über den wohl—
ſchmeckenden Buffalo. Dieſe Jakals der Ebenen ſind kleiner
und ſchlanker gebaut, als die Wölfe; ſie haben ein ſchmutzi—
ges, graugelbes, langhaariges Fell. Mitunter raſchelte eine
Beutelratte ſcheu durch das Gras, ein niedliches kleines
Thier mit Pausbacken und einem hellbraunen Streifen auf
dem Rückgrat. Unter dem befiederten Volk waren die Black
Birds in ganzen Schwärmen vertreten; Kibitze und glänzend
ſchwarze Raben, die letzteren nie mehr als ein paar der—
ſelben beiſammen, bemerkte ich zu verſchiedenen Malen.
Prairiehunde zeigten ſich ſehr zahlreich; doch waren die—
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ſelben ſcheu und hielten ſich in ehrerbietiger Ferne von uns
ſeren Büchſen. Bleichende Thierſkelette lagen alle paar
hundert Schritt am Wege da.
Während wir ſtets ſcharf nach feindlichen Indianern
ausſpähten, von denen unſer Reiſeprogramm ſtets unan—
genehm unterbrochen werden konnte, fuhren wir ruhig weiter,
und wieder tauchte die Sonne in den Landocean und das
Dunkel der Nacht ſenkte ſich auf die große Steppe. Am
ſchwarzblauen Himmelsgewölbe funkelten die Sterne durch
die reine Luft, ſo blank, ſo glitzernd wie man ſie ſonſt nur
auf hohen Bergen ſchaut. Der Wind hatte ſich gelegt
und ernſte Stille lagerte auf der unendlichen Steppe, nur
unterbrochen von dem Raſſeln der Räder und dem Schnauben
der Roſſe. Ganz allmählich ſtiegen wir hinauf zum Rück—
grat des Continents und waren bereits zweitauſend Fuß
über dem Spiegel des Miſſouri, in einer Höhe, wo der
Thau nicht mehr fällt. Nach Mitternacht ging der Mond
auf und legte ſeinen magiſchen Schleier auf die Ebene.
Die Nacht war mondhell. Schlafend lag
Die bleiche Steppe da.
Nur ein Coyote unterbrach
Die Stille, wie banges Geklag'.
Lautathmend ſchleppte mühſam nur
Das dampfende Sechsgeſpann
Dahin die hochbelad'ne Fuhr
Auf tiefer, ſandiger Spur.
Am Horizonte flammte auf
Ein rother Prairiebrand.
Die Roſſe hoben das Haupt mit Geſchnauf
Und horchten im ſchnelleren Lauf.
3 *
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Phantaſtiſche Felſen ragten empor
Wie zerfallener Tempelbau
In Arabiens Wüſte. Mondlichtflor
Umhüllte den offenen Chor.
Mir däucht', hoch hob ſich ein Minaret
Zwiſchen rieſigen Quadern dort.
Ein Moslem, beturbant, ſtand zum Gebet
Auf ſchwindelndem Felsſkelett
Ich ſaß im warmen Buffalorock
Beim Kutſcher; der nickte tief,
Die ſchlaffen Zügel, den Peitſchenſtock
In der Hand auf hohem Bock.
Die Paſſagiere, in Decken gehüllt,
Die ſchliefen im Wagen ſtill.
Die Geiſter der Steppe mit zauberndem Bild
Belebten das bleiche Gefild.
Ich habe ganz alleine gewacht
Auf ſchaukelndem Sitz, allein;
Ich habe belauſcht die Geiſter ſacht
Auf der Steppe in Mondſcheinnacht.
PR
7
*
Gegen Mitternacht erreichten wir die Station „Mo—
nument“, wo wir eine zahlreiche Wachtmannſchaft, der Mehr—
zahl nach Deutſche vorfanden. Hier mußten wir mehrere
Stunden verweilen, weil die Indianer Tags zuvor ſämmt—
liche Pferde als gute Beute von dort fortgetrieben hatter
und die unſrigen der Ruhe bedurften. Bald hatte ich mich,
in eine warme Wolldecke gehüllt, auf den Boden hinge—
ſtreckt und vergaß die fremde Umgebung im feſten Schlafe.
2. Von Monument nad) Denver.
Hell ſchien die Morgenſonne des 26. April durch die
Fenſter der Station Monument, als das Lärmen im Hauſe
durch die Vorbereitungen zur Weiterreiſe mich aus tiefem
Schlummer weckte. Toilette war bald gemacht und da das
Frühſtück noch nicht fertig, ſo beeilte ich mich, die Einrich—
tung und Umgebung dieſer Karavanſerei der Steppe etwas
näher in Augenſchein zu nehmen.
Die Stageſtation Monument, 183 engliſche Meilen
von Salina, und 234 Meilen von Denver entfernt, war
eine ſogenannte „home station“ d. h. eine ſolche, wo eine
Familie wohnte und Frauen anſtatt Pferdeknechte Küche und
Wirthſchaft beſorgten. Im Gegenſatze zu den Troglodyten—
wohnungen, welche man von Big Creek bis Monument Häuſer
zu nennen beliebte, konnte dieſes füglich als ein Hotel gelten.
Das nette Fremdenzimmer, die anſehnlichen Stallungen und
die ſaubere Umgebung ſtellten der Ordnungsliebe und dem
Fleiße der deutſchen Bewohner ein ehrenhaftes Zeugniß.
An dem hohen Ufer eines nicht weit von den Gebäuden
in felſigem Bette fließenden Baches hatten meine kriegeriſchen
Landsleute eine Batterie Kanonen aufgepflanzt, um damit
die Wilden in Furcht zu ſetzen. Dieſe aus der Ferne ge—
wiß ſehr gefährlich ausſehenden Geſchütze, welche auf Wagen—
rädern ſtatt auf Lafetten ruhten, waren nichts anderes als
glatt geſchälte Baumſtämme, mit gemalten Rohrmündungen.
An Stelle der Kugeln, Bomben und Kartätſchen lagen leere
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Blechbüchſen bergeweis da, und lieferten zugleich den Be—
weis, daß unſere Wirthe, obgleich dem Mars dienend, doch
die Paraphernalien des Friedens, in Geſtalt von Auſtern,
Hummern, Sardinen, eingemachten Früchten, ſauren Gurken
und ähnlichen Produkten der civiliſirten Yankee-Staaten,
keineswegs verſchmähten.
Ein achtzig Fuß hoher, natürlicher Obelisk, welcher ſich
in der Nähe der Station iſolirt erhob, hatte jener ihren
Namen gegeben. Außer dieſem merkwürdigen Felspfeiler
bemerkte ich noch eine Anzahl pittoresker Felsgebilde, die in
zackigen Formen fremdartig emporragten. Aber der an dieſem
Morgen beſonders kalt und heftig wehende Wind bewog
mich, meinen Spaziergang bald einzuſtellen. Im Fremden—
zimmer war es angenehm warm, und den Paſſagieren kam
es recht gelegen, nach eingenommenem vortrefflichen Früh—
ſtück, bis acht Uhr Morgens bis die Pferde ihren Hafer
verzehrt, dort verweilen zu dürfen. Nur zu bald deutete
der Kutſcher mit Peitſchengeknall an, daß eingeſpannt ſei,
und ermahnte uns mit lautem Halloh, einzuſteigen.
Eine öde Gegend war es, durch welche wir zunächſt
hinfuhren. Linker Hand floß der ſeichte ſchlammige Smoky
Hill⸗Fluß, der voll von Sandbänken war, und eine mit
ſpärlichem Gras und Zwergcactuſſen (prickly pear) be—
wachſene dürre Fläche dehnte ſich vor uns bis zum Hori—
zonte aus. Der Wind blies mit ſolcher Kraft, daß die
Kutſche öfters davon in Gefahr kam, umgeworfen zu werden.
Büffel waren nirgends zu ſehen und nur wenige Antilopen,
die eilig entflohen, ſobald ſie die Stage gewahr wurden.
Hier war es, wo am 9. December 1864 das berüchtigte
„Blutbad am Sandbache“ (sand ereek massacre) ſtattfand.
Die Indianer hatten in jenem Jahre durch ſich faſt täglich
wiederholende haarſträubende Gräuel die Bewohner des
Territoiums Colorado zur Verzweiflung gebracht, und da
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alle Appellation an die Regierung zu Waſhington dort taube
Ohren fand, ſo griffen die Grenzer zuletzt ſelbſt zu den
Waffen. Am Sandbache überfiel der Obriſt Chivington
mit einigen Compagnieen berittener Freiwilligen aus Denver
ein Indianerlager, bei welcher Gelegenheit fünfhundert Roth—
häute — Männer, Frauen und Kinder — erbarmungslos
maſſacrirt wurden. Es iſt in der That entſetzlich, daß in
unſeren Tagen noch ein ſo ſchauderhaftes Gemetzel vorkommen
kann! Aber es würden ſich ohne Zweifel Tauſende von
Weißen in den Grenzſtaaten und Territorien finden, welche
an einer Wiederholung eines ſolchen Blutbads mit dem
größten Vergnügen Theil nehmen möchten. Durch die ſo
oft von den Indianern an wehrloſen Emigranten und an—
deren Weißen verübten Grauſamkeiten werden die Leiden—
ſchaften der Grenzer dermaßen aufgeſtachelt, daß dieſe, wenn
ſich ihnen eine Gelegenheit zur Rache darbietet, dabei ſchlim—
mer noch als die Wilden verfahren.
Gegen Mittag überraſchten uns wunderbare Luftſpie—
gelungen. Zitternde Büſche und fließende Gewäſſer, mit
Nebelgeſtalten dazwiſchen, bald deutlicher geformt, bald
in Dunſt verſchwimmend, kamen und verſchwanden am
Horizonte und mitunter verfolgten ſich wie eine wilde Jagd
die Wolken- und Luftgebilde in phantaſtiſchen Figuren.
Aber die Wirklichkeit verdrängte die Nebelgeſtalten. Plötz—
lich gewahrten wir lange Reihen von Zelten, ſtattliche hell—
gelbe Steingebäude, mit flatternden Sternenbannern auf
den Dächern, einen Artilleriepark, Wagenzüge, Fußſoldaten,
Reiter und Roſſe; eine anſehnliche Militairſtadt auf einem
grasreichen Plateau — ein romantiſches Bild! Es war
dies das Fort Wallis, ein Militairpoſten, welcher hier
vor zwei Jahren errichtet wurde, um der Ueberlandsroute
zum Schutze zu dienen. Die im Bau begriffenen, recht an-
ſehnlichen Garniſonsgebäude wurden aus einem hellgelben
— nennen
40
Magneſia⸗Kreideſtein (dolomit) aufgeführt, der hier in
mächtigen Ablagerungen vorkommt. Jene Steine ſind ſo
weich, daß man ſie wie Holz ſägt und abhobelt, härten ſich
aber bald an der Luft und bilden in dieſer baumleeren Ge—
gend ein unſchätzbares Baumaterial. Die meiſten von den
Soldaten im Lager, wo wir kurze Zeit anhielten, gehörten
zu den „Fußläufern“, mit welchem Namen die Infanterie,
welche auf den Ebenen ungefähr ſo zweckdienlich iſt, wie
ein fünftes Rad am Wagen, von den Indianern verächt—
lich bezeichnet wird. Die Stagekutſcher ſowohl wie die Be—
wohner in den Stationen hatten wenig Vertrauen zu dem
Schutze, den das reguläre Militair ihnen gegen die Wilden
geben ſollte. Als Regel ſchien zu gelten, daß die Soldaten
allemal an ſolchen Plätzen ſtationirt waren, wo man ſie am
wenigſten gebrauchte.
Bald nachdem wir Fort Wallis verlaſſen hatten, kamen
wir nach der Station Pond Creek, wo ich zum erſten—
male an der Smoky Hill Route den Verſuch zu einer
Gartenanlage ſah und auch etliche Kühe, Schweine, Hühner
und Gänſe bemerkte. Die Bewohner von Pond Creek waren
ſämmtlich Inhaber werthvoller Bauplätze und angehende
Millionaire in einer zukünftigen großen Handelsſtadt, welche
hier nächſtens entſtehen ſollte. Auf nähere Anfrage erfuhr
ich, daß es im Plane der Pacific-Eiſenbahn-Geſellſchaft
liege, eine Zweigbahn von Pond Creek nach Santa-Fe
in Neu-Mexiko zu bauen, deren weſtlicher Ausgangspunkt
die Stadt San Diego am Stillen Ocean werden ſollte. Un—
ſere Wirthe ſagten, es wäre lächerlich zu glauben, daß eine
Eiſenbahn von Omaha nach San Franzisco wegen der
auf jener Route zu paſſirenden Schneeregionen im Winter
befahrbar ſein könne, wogegen ſich dem Bau einer Eiſen—
bahn von Pond Creek City nach San Diego faſt gar keine
Terrainſchwierigkeiten entgegenſtellten und dieſelbe nirgends
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die Schneelinie erreichen würde. In Pond Creek hätte ich
leicht etliche tauſend Dollars in corner lots (Eckbauplätzen)
anlegen können, und wurde von den Stationsleuten mit
Bedauern betrachtet, als ich einige leiſe Zweifel über die
zukünftige Größe ihrer geographiſch ſo vortheilhaft gelegenen
Steppenſtadt fallen ließ.
Die Steppe gewann jetzt mehr und mehr das Bild
einer der großen weſtlichen Prairien. Weithin dehnte ſich
die mit goldgelben Sternblumen und mit weißen, blauen
und lila Blümlein beſäete grüne Fläche ringsum bis zum
Horizonte aus, und nirgends wurde die Ausſicht von Höhen—
zügen beſchränkt. Der gleichmäßige Wind, welcher als eine
endloſe Luftwelle über die Steppe rauſchte, ſtählte ſozuſagen
die Lungen, und die Atmoſphäre war ſo rein, daß der
Horizont ſich weiter auszudehnen ſchien und der Himmel, ein
unermeßlich großes Glockengewölbe, auf der wie eine Scheibe
abgerundeten grünen Erde herrlich daſtand. Zierliche Anti—
lopen jagten, mit zurückgelegtem Nacken, gleichſam ſchwebend
über die Ebene, und prallten ab und zu erſchreckt vor der
Landſtraße zurück, ungeheure Maſſen von Büffeln weideten
auf den üppigen Grasfluren, und wieder rannten kleinere
und größere Schaaren von ihnen trotz unſerer Schüſſe im
ſchweren Galopp mit uns um die Wette, um vor uns die
Straße zu kreuzen, daß es nur ſo eine Luſt war.
Die Sonne neigte ſich tief hinab
Zur weſtlichen Himmelshöh',
Und zwiſchen uns und dem Horizont
Lag ſchimmernd die blumige See.
Ein goldener Teppich erglänzte ſie
Im ſcheidenden Sonnenſtrahl, b
Von ſchwarzen Flecken marmorirt,
Von Buffalos ohne Zahl.
42
Die ſchnaubenden Roſſe ſprengten ftolz
Vor der raſſelnden Kutſche hin;
Die helle Straße, ein goldgelb Band,
Schnitt endlos durch's blumige Grün.
Seht! — plötzlich beleben ſich rechts und links
Die ſchwarzen Flecken mit Macht;
In ſchwerem Galopp, in langen Reih'n
Naht der Büffel donnernde Jagd.
Im Wettlauf mit dem Sechsgeſpann
Stets näher ſtürmen ſie wild;
Die Straße zu kreuzen iſt ihr Ziel.
Es bebt das weite Gefild.
Hei! luſtig, ihr Renner, greifet aus!
Du, Kutſcher, die Peitſche geknallt!
Seht, näher und näher dem Fahrweg ſchon
Kommt der Hörner wirbelnder Wald.
Vor den Roſſen kreuzen die Straße ſie,
Erſt einer, dann hundert und mehr;
Dann tauſend und immer noch kommen ſie,
Wie die Wogen im ſtürmenden Meer
Die Büchſen knallen vom hohen Bock,
Zum Schnauben der Renner ertönt
Das jauchzende Hurrah, die Luft iſt dick
Vom Staub und der Boden dröhnt.
Das war eine köſtliche Kutſchenfahrt
Auf der Steppe im großen Weſt!
Und denke ich dran, noch bebt mein Herz
Von berauſchendem Jagdluſt-Feſt.
* R *
43
Nachdem ſich die Sonne mit ſüdlicher Farbenglut in
den Landocean geſenkt hatte, legte ſich weiche Dämmerung
auf die große Steppe, und das lang dauernde Zwielicht
errinnerte mich an die deutſche Heimath. Als wir uns
der nächſten Station näherten, deren Gebäude ſich ſcharf
am Himmel abzeichneten, gewahrten wir dort einen uns
unerklärlichen weißen Hügel. Mehrere hundert Büffel—
ſkelette waren es, auf engem Raum zuſammengedrängt.
Im vorjährigen Februar erlagen die armen Thiere dem
Futtermangel und einer damals hier herrſchenden wahr—
haft ſibiriſchen Kälte. Die Stationswächter berichteten uns,
daß ſie die halbverhungerten Thiere nicht mit Schüſſen
von den Heuſchobern hätten forttreiben können. Als das
Thermometer in einer bitterkalten Nacht zwei und dreißig
Grad Fahrenheit unter Zero anzeigte, legten ſich die Büffel
dort nieder mit kläglichem Gebrüll, bis ſich der Tod ihrer
erbarmte. Da die Gefahr vor feindlichen Indianern nicht
mehr groß war, ſo nahm ich bei einbrechender Nacht meinen
Sitz im Coupé der Stagekutſche wieder ein, um dort ein
paar Stunden Schlaf zu erhaſchen. Von den Mitgliedern
der Chicagoer Familie wurde ich als unberufener Eindring—
ling mit feindlichen Blicken betrachtet. Doch ich ſank, trotz
Kindergeſchrei und Gezänk bald in einen tiefen Schlummer,
aus dem erſt der lichte Morgen mich weckte. Beim Oeffnen
der Augen hatte ich eine ſeltene Ueberraſchung. Mir ge—
genüber ſaß der pater familias in feſtem, ſonorem Schlafe
mit weit geöffnetem Munde und offenen verglaſ'ten Augen
— ein Abbild des ſchönſten Nußknackers, der mich je in
goldenen Tagen der Jugend auf einem deutſchen Jahrmarkt
entzückt hat!
Bald hatte ich meinen alten Platz neben dem Kutſcher
wieder eingenommen, wo mich ein intereſſantes Schauſpiel
überraſchte. Vor uns auf der Steppe wimmelte es förm—
dad
lich von Büffeln, denen wir uns raſch näherten. Soweit
das Auge reichte, war die Ebene buchſtäblich ſchwarz von
ihnen, die ſämmtlich nordwärts eilten. Bald waren wir
mitten unter der ungeheuren Heerde und fuhren langſam
hin durch die lebendige Maſſe, die ſich ſcheu vor uns zer—
theilte. Wir Paſſagiere konnten nicht umhin, manchem
alten Buffalo, der mit lang aus dem Hals hängender
Zunge und krummem Buckel vorbeigaloppirte, Eins auf
dem zottigen Pelz zu brennen. Die naſeweiſen Kälber,
welche an dem Schießen Gefallen zu finden ſchienen, wur—
den vorſorglich von ihren Müttern beſchützt, die nichts
Eiligeres zu thun hatten, als ſich zwiſchen uns und die
Jungen zu drängen. Von einem Berittenen kann ein
Büffelkalb leicht eingefangen werden, indem jener nur die
Alten von dem Kalb fortzujagen braucht, worauf dieſes
ſeinem Pferde unfehlbar irgendwohin folgen wird. Volle
zwei Stunden nahm es uns, durch die dichteſten Heer—
ſchaaren der Büffelarmee hindurchzupaſſiren, und während
weiterer zwei Stunden kamen wir bei Tauſenden von Seiten—
ſchwärmern vorbei, die einzeln oder in kleineren und größeren
Abtheilungen vorüber defilirten, alle gegen Norden eilend,
als ſäße der Teufel ihnen auf den Ferſen. Es war dies
die große ſüdliche Büffelheerde, welche auf ihrer jährlichen
Wanderung nordwärts nach den Weideplätzen am oberen
Arkanſasfluſſe begriffen war.
Der Büffel (bison americanus), welcher zur Zeit
der Entdeckung Amerika's bis zum Atlantiſchen Ocean ſtreifte
und noch vor dreißig Jahren an den Ufern des unteren
Miſſouri weidete, hat ſich in neuerer Zeit nach den weſt—
lichen Ebenen zurückgezogen. Eigenthümlich, gleichſam ein
Bruchſtück aus der Vorwelt, iſt das Ausſehen dieſer unſeren
Rindern ſtammverwandten Thiere. Dicht hinter dem ſtäm—
migen Halſe erhebt ſich ein buſchiger Höcker. Der Vorder—
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bau mit der gewaltigen Bruſt und dem dicken Kopfe, mit
den beiden etwa einen Fuß langen, kräftigen und leicht ge—
bogenen Hörnern ſteht in keinem Verhältniß zu dem ſchmäch—
tigen Hinterbau. Der koloſſale mit ſchwarzbraunem zottigen
Fell bekleidete Körper und die zierlichen Beine, die kleinen
feurigen Augen und der plumpe Kopf paſſen gar nicht zu
einander und das Thier ſcheint eine verfehlte Schöpfung
zu ſein. Trotz ihrer ſcheinbaren Unbeholfenheit und großen
Schwere — die ausgewachſenen Thiere wiegen voll fünf—
zehnhundert Pfund und ſind etwa acht Fuß lang — beſitzen
die Buffalos eine erſtaunliche Gewandtheit und überholen
im Dauerlauf ſelbſt das flüchtige Roß, wie ich zu ſehen
bereits oft die Gelegenheit hatte. Die Verſuche, welche man
gemacht hat, um jung eingefangene Buffalos zu zähmen
und als Zugthiere für die Landwirthſchaft nutzbar zu machen,
ſind nicht von dauerndem Erfolg geweſen, da es unmöglich
iſt, jene Thiere in einer Umzäunung zu halten. Hohe Zäune
werden von ihnen gar nicht berückſichtigt. Sie überſpringen
dieſelben mit Leichtigkeit, und der Schaden, den ſie in den
Feldern anrichten, überwiegt bei Weitem den Vortheil, den
ihre rieſige Kraft als nicht ganz unwillige Zugthiere ge—
währen kann.
Es giebt gegenwärtig drei von einander getrennt le—
bende große Büffelfamilien, die ſich gelegentlich in kleinere,
jede zweitauſend bis dreitauſend Stück zählende Heerden
theilen. Die erſte von jenen drei Hauptfamilien lebt am
großen Winipeg-See und am Saskatchewan-Fluſſe, die
Heimath der zweiten iſt am Yellow-Stone, die der dritten
am Platte- bis ſüdwärts vom Arkanſas-Fluſſe. Jede dieſer
drei großen Büffelheerden, die ſich auch durch Wuchs und
Größe von einander unterſcheiden, macht aber häufige Streif—
züge nach neuen Weideplätzen von vielen hundert engliſchen
Meilen aus ihren oben angedeuteten Weideplätzen. Ihr
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Futter beſteht meiſtens in dem kurzen und krauſen ſoge—
nannten Buffalogras, welches, einerlei ob durch die Sonnen—
hitze vergilbt oder im Winter halb verfault, außerordentlich
nahrhaft iſt. Nach ihren Tränkplätzen traben die Thiere
täglich einmal viele Meilen weit in langer Reihe hinter
einander her und bilden ſo die tief ausgetretenen Pfade,
welche die Steppe meiſtens in der Richtung von Süd nach
Nord und rechtwinklig gegen die von Weſten nach Oſten
ſtrömenden Flüſſe zahlreich durchkreuzen. Die älteren Stiere
werden nach wüthenden Kämpfen mit ihren jüngeren Ri—
valen in der Regel durch dieſe von den Heerden fortge—
trieben und führen das einſame Leben eines Hageſtolzen,
welches ihr Temperament verſauert und ſie den Reiſenden
und Jägern zu gefährlichen Gegnern macht. Für die auf
den Ebenen wohnenden Indianerſtämme ſind die Büffel
von unſchätzbarem Werthe, und ohne dieſelben könnten jene
dort gar nicht exiſtiren. Jedes Stück von dieſen Thieren
wird von den Indianern nutzbar gemacht. Aus den Sehnen
verfertigen ſie Bogenſchnüre und Zwirn zum Nähen, aus
den Hörnern Nadeln und aus den Mähnenhaaren Stricke
und Laſſos; die vermittelſt Alcali gegerbten Felle werden
zu Kleidern, Decken und Zeltdächern verarbeitet; das Fleiſch
wird entweder friſch gegeſſen, oder es dient getrocknet zum
Winterproviant. Die Büffelpelze (buffalo robes), welche
die Indianer ſelber nicht benutzen, verkaufen ſie an die
Pelzhändler. Die amerikaniſche Pelzeompagnie käuft davon
jährlich an 70,000 Stück. Feingegerbte Felle, die nach in—
dianiſcher Mode mit rothen Wollſchnüren in phantaſtiſchen
Figuren durchwirkt ſind, mit Augen daran und elegant be—
malt und gefüttert, koſten je nach ihrer künſtleriſchen Voll-
endung auf den Ebenen von acht bis zwanzig, in Chicago
bis zu vierzig Dollars das Stück. Als Reiſedecken, um
darauf zu ſchlafen und den Wind abzuhalten, ſind die
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Buffalorobes vorzüglich, nur muß man fie vor dem Regen
ſchützen, da ſie alsdann ſteif werden und ſchwer wie Blei
ſind. Die Jagd auf Büffel, von denen jährlich 200,000
bis 300,000 getödtet werden, wird von den Indianern
ſyſtematiſch betrieben. Größere Heerden werden nur zu be—
ſtimmten Jahreszeiten, wenn die Felle am tauglichſten ſind,
getödtet, ſonſt nur ſo viele davon, um dem Bedarfe zum
Lebensunterhalte zu genügen. Dagegen dürfen vereinzelt
umherſtreifende Buffalos zu jeder Zeit getödtet werden.
Das Nichtachten dieſer Geſetze wird von den Indianern
mit Todesſtrafe geahnt. Die Weißen, welche ſich in der Regel
um jene Anordnungen wenig kümmern, müſſen ihre rück—
ſichtsloſe Jagdluſt nicht ſelten mit dem Tode büßen, indem
die Indianer, welche durch das nutzloſe Niederſchießen der
Büffel ihre Exiſtenz bedroht ſehen, dadurch zur äußerſten
Wuth gereizt werden.“
Es war hoher Nachmittag geworden, das Wetter
frühlingswarm, und luſtig trabten unſere ſechs Braune
* Während der Jahre 1872 und 1873 wurde die große füdliche
Buffaloheerde von Jägern, welche die Thiere lediglich der Häute
halber tödteten, beinahe vernichtet, und viele hunderttauſend von
Büffelſkeletten bleichen gegenwärtig auf der Steppe. Alleine am
Republikanfluſſe befanden ſich im Herbſte 1873 an zweitauſend
ſolcher Jäger. In Folge jener Maſſentödtung iſt der Preis von
ungegerbten Büffelhäuten, welche früher drei Dollars per Stück
brachten, auf vierzig Cents bis zu einem Dollar herabgegangen.
An den Stationen der Kanſas Pacifie-Eiſenbahn ſieht man die
weißen Knochen jener Thiere bergeweis aufgeſchichtet, um als
Handelsartikel für allerlei Zwecke nach den öſtlichen Märkten ver—
ſchifft zu werden. Der Sucht nach Gewinn fielen mit der voran—
ſchreitenden Civiliſation des weißen Mannes jene harmloſen
Geſchöpfe zum Opfer. Heute giebt es ſüdlich vom Arkauſasfluſſe
kaum noch ſo viele Buffalos, um eine in früherer Zeit als klein
bezeichnete Heerde zu bilden, und auch dieſe werden ihrer baldigen
Vernichtung nicht entgehen.
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dahin über den glatten Plan. Als wir eine fanft ans
ſchwellende Bodenhebung hinangefahren waren, lagen ſie
plötzlich vor uns, die leuchtenden Felſengebirge in unge—
heurem Bogen, vom fernſten Süden bis weit nach Norden,
Zacke an Zacke, Grat auf Grat, ſich einander übergipfelnd,
im blauen Aether — ein wundervolles Panorama! Die
Erſcheinung kam ſo unerwartet, als wären wir auf einmal
in eine fremde Welt verſetzt worden. Zwiſchen uns und
den blendend weißen Hochgebirgen dehnte ſich die weite
Steppe aus, ein hellgrüner Rieſenteppich, der vor dem
Silberthrone des Continentes ausgebreitet war. Nicht die
geringſte Bodenhebung unterbrach die Ausſicht auf den
gezackten Demantwall der Felſengebirge. Das Gebirgs—
panorama iſt jedoch auf den Ebenen nur zu dieſer Jahres—
zeit ein fo ergreifendes. Im Spätſommer entblößen ſich
in Folge der ſchmelzenden Schneemaſſen die Abhänge und
Bergkuppen mehr und mehr von ihrem Silberſchmucke;
denn nur die höchſten Gipfel der Felſengebirge ſind mit
ewigem Schnee und Eis bedeckt.
Fern im Süden thürmte ſich der durch das Goldfieber,
welches ſeinen Namen führt, berühmt gewordene Pike's
Peak empor, ein von der Hauptkette der Felſengebirge
gleichſam abgelöſter gewaltiger Gebirgsknoten, deſſen mit
Eis und Schnee gekrönter Scheitel herrlich im Sonnenlichte
blinkte. 14,216 Fuß über dem Meeresſpiegel erhebt der
Koloß ſein Silberhaupt in den Aether und blickt achtzig
Stunden weit auf die Ebenen hinaus. Die Quellen des
Arkanſas und des Colorado entſpringen auf ſeinen gold—
durchflochtenen Abhängen. Genährt von den nie verſiegen—
den Waſſern ſeiner ſchmelzenden Schneemaſſen brauſen ſie
thalwärts, jener zum Golfe von Mexiko, dieſer zum Golfe
von Californien. Weit im Nordweſten lag der 14,050 Fuß
hohe Long's Peak, deſſen Umriſſe jedoch theilweiſe durch
49
Nebeldünſte verſchleiert waren. Zwiſchen beiden Bergrieſen
dehnte ſich, mit ungeheurem Bogen den ganzen weſtlichen
Abſchnitt des Horizontes umgürtend, die gezackte Kette der
Felſengebirge aus. Es war kaum zu glauben, daß wir
einhundertundfünfzig engliſche Meilen vom Fuße jener Berg—
kette entfernt waren; denn erſt zwanzig Stunden weſtlich
von Denver beginnen die Hochgebirge, — ſo rieſig war
das Bild, welches ſie vor unſeren Augen entrollten. Die
Steppe hatte jetzt alles Intereſſe für uns verloren, und
nur die Zinnen der leuchtenden Hochfeſte des Continents
feſſelten das Auge. Als der Sonnenball ſich hinter ihre
Gluth blinkenden crenellirten Mauern geſenkt hatte und
dann ein violettblauer Schleier das Hochgebirge bedeckte,
als die Nacht mit ſchwarzem Vorhang daſſelbe längſt ſchon
unſeren Blicken entzogen hatte, dachte ich immer noch an
das glänzende Zauberbild, bis die neue Sonne wieder
die Schneezacken entzündete, und das Prachtpanorama in
ſchweigender Majeſtät noch größer, noch ſchöner, als Tags
zuvor uns entgegentrat.
Fort! — fort! — immer gen Weſten! — Es iſt der letzte
Tag unſerer Steppenfahrt. — Luſtig trabten die muthigen
Roſſe über den glatten Plan; immer näher kamen uns
die mächtigen Hochgebirge. Dunkle Streifen an denſelben,
in mannigfachen Schattirungen zwiſchen den Schneefeldern
hinauflaufend deuteten hier tief eingeſchnittene Seitenthäler,
dort dichte Wälder, ſchwarze Felsmaſſen oder jähe Abhänge
an. Fünfundzwanzig engliſche Meilen vor Denver begrüßte
uns die endloſe Reihe der Telegraphenſtähe au der Land—
ſtraße von Omaha, und bald hatten wir die große Platte—
Straße erreicht und blickten ungeduldig aus nach der jugend—
lichen Hauptſtadt der Ebenen, dem raſch emporblühenden
Denver. Der Wind blies wieder mit vollem Uebermuth,
als wollte er uns beim Abſchied von der Steppe noch
4
50
einmal recht feine Kraft zeigen. Als wir bei der letzten
Station vor Denver die Pferde wechſelten, rollte er den
ſchweren Wagen an zwanzig Schritt zurück, ſo daß der
Kutſcher hurtig einen Poſtſack hinter ein Rad warf, um
die Stage zum Stehen zu bringen.
Weiter jagen wir, den immer höher ſich empor—
thürmenden Gebirgen entgegen eilend. Schon zeigen ſich
vereinzelte Häuſer und Heerden von bunten Rindern,
Landwagen und Reiter; ein leichtes „Buggy“, mit einem
Pärchen darin, fliegt an uns vorüber. Jetzt begrüßen uns
anſehnliche Häuſerreihen auf der Ebene, und ehe wir's
gedacht — am ſiebenten Tage unſerer Stagefahrt, nach
einer Reiſe von 417 engliſchen Meilen ſeit wir Salina
verlaſſen — raſſelt unſere Kutſche durch die von ſchmucken
Häuſern eingefaßten breiten Straßen von Denver und
hält um die Mittagsſtunde vor dem langen Portico des
„Planters Hotels“.
B.
Von Denver nach Salt Lake City.
1. Bis zur Waſſerſcheide des Continents.
Der Tag meiner Ankunft in Denver war ein Sonntag.
In einem Platze wie dieſer, der, obgleich keine eigentliche
Minenſtadt, doch das Hauptemporium und den Centralort
für die reichen Golddiſtricte von Colorado bildet, iſt der
Sonntag, wie in allen Minenländern, der Haupttag für
Geſchäft und Vergnügen. Die Stadt war denn auch le—
bendig von Goldjägern und Abenteurern aller Art, welche
aus den etwa vierzig engliſche Meilen entfernten im Ge—
birge liegenden Minenlagern des Amüſements halber her—
gekommen waren, um hier ihre überflüſſigen Dollars auf
gentile Weiſe klein zu machen. Prachtvoll ausgeſtattete
Billardſalons, Hunderte von elegant eingerichteten Trink—
ſtuben, zahlreiche Tanzlocale, Spielhöllen ꝛc. ꝛc., ein Theater,
zwei tägliche und zwei Wochenzeitungen ſorgten für die
Unterhaltung und geiſtige Ausbildung der Bewohner und
Gäſte dieſes verfeinerten Goldhafens.
Die Stadt Denver liegt am Zuſammenfluſſe des Platte
und des Cherokeebachs und zählte zur Zeit meines Beſuchs
etwa ſechstauſend Einwohner. Dem im Cherokeebach ge—
4 *
52
fundenen Goldſtaub, der aber längſt ausgewaſchen worden
iſt, hat der Platz ſeine Entſtehung zu verdanken. Später
hat ſich derſelbe zum Handelsemporium des reichen Terri—
toriums Colorado emporgeſchwungen, und iſt ſeine Zukunft
durch feine günſtige geographiſche Lage und namentlich
dadurch, daß er der weſtliche Endpunkt der Kanſas Pacific—
Eiſenbahn werden wird, jedenfalls als eine bedeutende ſicher
geftellt.* Es befanden ſich in Denver große Waarenlager,
aus denen ſowohl die Minenplätze Colorado's, als die
Städte Santa Fe und Albuquerque in Neu-Mexiko ſich
verſorgten, und namentlich die nach dem fernen Weſten
ziehenden Emigranten, als in der erſten Halteſtation jen—
ſeits der Ebenen, Vorräthe aller Art für die Weitereiſe
einkauften. Eine Zweigmünze der Vereinigten Staaten
verwandelte hier den aus den Minen herbeiſtrömenden
Goldgewinn in blanke Zwanzigdollargoldſtücke. Bis zum
Juli 1864 prägte die Zweigmünze in Denver etwa zehn
Millionen Dollars.
Zur Zeit meines Beſuchs litt Denver an einer Geld—
und Geſchäftskriſis, wie dieſelbe ſich in allen neuen Ländern
periodiſch wiederholt, und die hier in Folge der Indianer—
unruhen durch das Stocken des Verkehrs mit dem Oſten
* Diejes für die zukünftige Größe Denvers geſtellte glänzende
Prognostikon hat ſich nur als theilweiſe richtig erwieſen. Bis zum
Jahre 1873 war die Stadt Denver in einem ſo raſchen Aufblühen
begriffen, daß man den Ort als ein zweites San Franzisko zu be—
zeichnen pflegte. Seitdem geräth die „Hauptſtadt der Ebenen“,
welche die Handelsconcurrenz mit St. Louis und anderen öſtlichen
Städten nicht auszuhalten vermag, in raſchen Verfall, und Handel
und Wandel liegen jetzt (beim Jahresſchluß 1874) in ihr kläglich
danieder. Ihre Hoffnung auf die Wiederkehr der beſſeren Zeit
bauen die Denveraner auf den Bau einer Eiſenbahn, welche den
Seehafen Galveſton in Texas mit ihrer Stadt in directe Ver—
bindung bringen ſoll.
53
bedenklich gefteigert wurde. Da der Platz feinen ganzen
Bedarf an Kaufmannsgütern vom Miſſouri her bezog, ſo
nahm eine Unterbrechung des Verkehrs mit dem Oſten hier
die Form einer allgemeinen Calamität an. Statt wie
ſonſt täglich drei bis vier mit Paſſagieren gefüllte Stage—
kutſchen und lange Züge von Emigranten und Frachtfuhren
vom Oſten in ihrer Stadt eintreffen zu ſehen, blickten die
ergrimmten Bewohner Denvers jetzt hinaus auf die ganz
verödete Steppe. Der Haß gegen unſere rothen Brüder
war hier deshalb ein wahrhaft ſataniſcher und man ver—
langte allgemein einen Vernichtungskrieg gegen die Roth—
häute. Die Territorial-Regierung bot ſogar eine Prämie
von zwanzig Dollars Gold pro Scalp, mit den Ohren
dabei. Dieſer barbariſche Zuſatz war deshalb gemacht
worden, weil die Scalpjäger ſonſt mit Leichtigkeit drei oder
gar vier Scalpe aus der Kopfhaut eines getödteten In—
dianers hätten herausſchneiden können — jeder Indianer
aber bekanntlich nur zwei Ohren hat.
Was mich in Denver recht unangenehm berührte, war
der dort fortwährend außerordentlich heftig wehende Wind,
welcher um die Straßenecken pfiff, daß man ſtets Obacht
geben mußte ſeinen Hut nicht zu verlieren. Außer daß er
die Straßen hübſch rein gefegt hielt, war an dem Denver—
Wind wenig zu loben, obſchon er der Geſundheit ſehr zu—
träglich ſein ſoll. Man gab mir jedoch die Verſicherung,
daß es am Tage meines Beſuches durchaus nicht ſtark wehe;
es ſäuſele nur ein ſanfter Zephyr! An wirklich windigen
Tagen pflegten die Fenſterſcheiben von dem dagegen—
gepeitſchten feinen Sand wie von einem Diamanten zer—
kratzt zu werden. Daß die Vegetation in und um Denver
bei einer ſo windigen Atmoſphäre eine äußerſt kümmerliche
war, nahm mich nicht Wunder. Gärten gab es hier nur
wenige, und die Bäume hätte ich leicht zählen können.
54
Das Klima iſt in dieſem Platze, der 5317 Fuß über dem
Meere liegt, ein ſehr rauhes, und in den Gebirgen ſind
die Winter außerordentlich ſtrenge. Oft fällt das Thermo—
meter daſelbſt bis zu dreißig und mehr Grad Fahrenheit
unter Zero, und heftige Schneeſtürme giebt es dort in
jedem Monat im Jahre. Am Nachmittage meines Auf—
enthaltes in Denver wüthete ein ſolches Unwetter im
Hochgebirge. Die ſchwarzen Wolkenwogen, welche an der
Seite des Gebirgs hinrollten und ab und zu einen oder
mehrere von den Silbergipfeln aus ihrem dunklen Gewim—
mel hervortreten ließen, gaben ein grandioſes Bild. In
jener Gegend lag die großartige Gebirgsſcenerie, welche
durch unſeres genialen Landsmanns Bierſtadt herrliches
Gemälde „Ein Schneeſturm in den Felſengebirgen“ welt—
berühmt geworden iſt. Wenn erſt das eiſerne Roß bis zu
jener hohen Burg des nordamerikaniſchen Continentes hin—
jagt, werden gewiß Tauſende von Touriſten in jedem Som—
mer dieſe herrliche Gebirgsgegend, mit Recht die amerika—
niſche Schweiz genannt, beſuchen. —
Bleich und düſter brach der Morgen des 29. April an,
an welchem Tage ich meine Weiterreiſe von Denver antreten
ſollte. Ein Blick aus dem Fenſter meines Schlafgemachs im
wohnlichen „Planter's Hotel“, wo ich zum erſten Mal ſeit
ich Leavenworth verlaſſen wieder in einem Bett geſchlafen,
zeigte mir die Luft draußen lebendig von großen Schnee—
flocken. Vom Gebirge war gar nichts zu ſehen, Fußgänger,
bis über die Ohren in Mäntel gehüllt, eilten ſchnell vorüber
und ich erwartete jeden Augenblick, das Klingeln eines
Schlittens zu hören. Es war ein Wintertag, wie man
ihn im Januar ſich nicht beſſer hätte wünſchen können!
Bald hatten wir Paſſagiere, welche die Fahrt über
die Felſengebirge machen ſollten, uns im Speiſeſaal des
Hotels verſammelt und nahmen dort in wenig reiſeluſtiger
55
Stimmung unſeren Morgenimbiß ein, ab und zu mit ſchwer—
müthigen Blicken das immer heftiger werdende Schnee—
geſtöber durch die Fenſter betrachtend. Die Chicagoer
Familie, welche während der Reiſe über die Steppe meine
philoſophiſche Langmuth ſo ſehr auf die Probe geſtellt hatte,
war zu meiner Beruhigung in Denver zurückgeblieben,
und von meinen alten Reiſegefährten bemerkte ich nur die
Mormonendame mit ihrem ſanften blauäugigen Knaben, der
von dem Agenten der Stage-Compagnie beim Empfange
des Paſſegeldes als viertel Größe taxirt worden war.
Fünf männliche Paſſagiere, welche nach Salt Lake City und
Montana reiſen wollten, bildeten meine neuen Begleiter.
Dieſelben hatten ſich mit Büffelpelzen, Wollendecken,
ſchottiſchen Umſchlagetüchern, Federkiſſen, Zephyrs, Ohren—
wärmern, Pelzmützen, Muffs und Ueberſchuhen verſehen,
als ob ſie eine Reiſe nach Alaska unternehmen wollten.
Einer von ihnen, ein reicher ariſtokratiſcher Irländer, wie es
ſchien ein ſeelenguter Mann, bediente ſich bei jeder paſſen—
den und unpaſſenden Gelegenheit des Wortes wonderful.
Das Schneegeſtöber war „wonderful!“ — der blauäugige
Mormonenſohn, die Frau Wirthin mit den verſchloſſenen
Augen, der fette Bärenſchinken, die ſteinhart geſottenen Eier
waren „wonderful!“ — Ein zweiter Paſſagier war eine
von jenen unglücklichen Naturen, die Alles ſchlecht finden,
Jedermann haſſen und ſich und ihren Nebenmenſchen das
Leben verbittern. Der Kaffee war ihm zu heiß, die Hühner—
augen plagten ihn ſchrecklich, der Speiſeſaal war zu dunkel,
der Kellner zu dumm, die Zeit zum Abfahren zu früh, und
den ſanften Mormonenknaben ſah er, als derſelbe ihm
einmal zufällig zu nahe kam, mit orthodorchriftlicher Ent—
rüſtung an. Dieſer Miſanthrop, ein getaufter Jude, war
ein Yankee aus Boſton und nannte ſich Miſter Eiſak
(Iſaac). Er ſchien der Mentor des Herrn Wonderful
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zu ſein, von deſſen fabelhaftem Reichthum und frommer
Geſinnung er der Tiſchgeſellſchaft vor ihm laut erzählte.
Herr Wonderful reiſ'te nach Montana, um dort von Miſter
Eiſak für den Spottpreis von 60,000 Dollars eine Gold—
mine zu kaufen, welche, wie dieſer verſicherte, unter Brüdern
ihre zwei Millionen werth ſei. Die drei anderen mit—
reiſenden Herren waren Spießbürger aus Denver, welche
ſich in Utah und Montana ein Bischen umſehen wollten.
Das Peitſchenknallen und das Hallohrufen auf der
Straße deutete an, daß die Stage vorgefahren ſei, und ich
eilte hinaus, mir das Gefährt anzuſehen, welches uns über
die Felſengebirge befördern ſollte. Es war ein mittel—
großer, mit einem Leinentuch überdachter Wagen, anſtatt
der eleganten Kutſche, welche uns über die Ebenen bis
nach Denver gebracht hatte. Beim Kutſcher war nur ein
extra Außenſitz, im Wagen kaum Raum für ſechs Paſſagiere
vorhanden. Da meine neuen fünf Neiſegefährten ſich alle
vor mir in Denver hatten einſchreiben laſſen und der Mor—
monendame mit ihrem Knaben ſelbſtverſtändlich der beſte
Platz im Wagen reſervirt worden war, ſo mußte ich mit
dem Außenſitz vorlieb nehmen; beim Schneegeſtöber und
vorausſichtlich kalten Wetter in den Hochgebirgen während
einer ſechshundert Meilen langen Reiſe, die ununterbrochen
Tag und Nacht dauern ſollte, gewiß ein wenig beneidens—
werther Platz! Das Gefährt, welches beim reiſenden
Publikum den unpoetiſchen Namen „Schmutzwagen“ (mud
wagon) führte, wurde von unſerem ariſtokratiſchen Irländer
ſofort mit „wonderful“ bezeichnet.
Wir ſollten von nun an unter dem Banner der
Mammuth-Expreß-Geſellſchaft von Wells, Fargo und
Comp. reiſen, welche ſich im Beſitze der Haupt-Stage—
linien und Poſtrouten im Veſten der Vereinigten Staaten,
zwiſchen dem Miſſouri und dem Stillen Ocean, befindet.
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Alle Verkehrslinien zuſammen gerechnet, auf denen Wells,
Fargo und Comp. Stagekutſchen fahren, betragen circa
3500 engliſche Meilen. Ueber 2000 Pferde, 500 Zug—
ochſen und Mauleſel und eine ganze Brigade von Kutſchern,
Stallknechten, Stationswächtern, Fuhrleuten und Agenten,
von bewaffneten Schutzwachen auf den Stages, welche die
edlen Metalle befördern, von Zahlmeiſtern ꝛc. ſtehen im
Dienſte der Compagnie. Auf allen ihren Linien ſind jede
zehn bis zwölf engliſche Meilen Stationsgebäude und
Stallungen erbaut, auf Tauſenden von Wegſtunden die
einzigen Zeichen der Civiliſation in den Wildniſſen des
Continents.« Von der Geſellſchaft wird auf allen ihren
Routen nebſt ihrer eigenen Brief- und Packetpoſt, gegen
hohe Vergütung die Poſt der Vereinigten Staaten befördert.
Die Kaufleute und Miner in den Staaten und Territorien
an der pacifiſchen Küſte ziehen meiſtens die Briefcouverte
von Wells, Fargo und Comp., welche à 5 Cents koſten,
denen der Vereinigten Staaten zu 3 Cents vor, weil jene
dem Adreſſaten ſchnell und direct ins Haus befördert werden.
Das Hauptbureau von Wells, Fargo und Comp. in San
Franzisco iſt ein großartiges Etabliſſement, in welchem Alles
mit militäriſcher Genauigkeit angenommen und abgeliefert
wird. Ein etwaiger Verluſt von Werthſachen, wenn z. B.
die Stages, wie oft vorkommt, ihrer Metallſchätze beraubt
werden, wird dem Eigenthümer ohne Widerrede ſofort ver—
gütet und ſind Fälle vorgekommen, wo die Geſellſchaft
10,000 und mehr Dollars auf ſolche Weiſe auf einmal
ausgezahlt hat. Die in einem Jahre zurückgezahlten Ver—
* Seit der Eröffnung der Pacificbahn fahren täglich mit Werth—
ſachen und Eilgütern beladene geſchloſſene Waggons, die Wells,
Fargo und Comp. excluſiv gehören, von New⸗York bis nach San
Franzisco. Wo keine Eiſenbahnlinien ſind, fahren nach wie vor
Stagekutſchen im Dienſte jener Geſellſchaſt.
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lüſte haben ſich ſchon auf 100,000 Dollars belaufen. Da—
gegen berechnen Wells, Fargo und Comp. ſelbſtverſtändlich
einen hohen Procentſatz (aus entfernten Minenlagern zwei
bis vier Procent vom Werthe) für die Beförderung der
edlen Metalle von den Minen nach San Franzisco und
dem Oſten, welche faſt ganz in ihren Händen iſt. In je—
dem nur einigermaßen bedeutenden Orte, von Arizona bis
nach Montana und Britiſh Columbia, vom Stillen Meer
bis nach den Felſengebirgen, hat dieſe Geſellſchaft ein
Expreßbureau errichtet. In jedem Minendiſtricte iſt fie
Bankier, Poſtbote und Generalagent ſowohl der Kaufleute
als Miner. Eine Kneipe, eine Schmiede und eine Wells,
Fargo und Comp. „Office“ find die erſten Grundbeſtand—
theile jeder neuen Minenſtadt.
Für die Beförderung und die Verpflegung der Paſſa—
giere iſt auf den Stagerouten, welche jener Geſellſchaft
gehören, ſo gut geſorgt, wie es ſich in ſolchen wilden und
entlegenen Gegenden vernünftiger Weiſe erwarten läßt.
Eine Ausnahme bildete jedoch die erſt kürzlich durch Wells,
Fargo und Comp. käuflich erworbene Linie von Nebraska
nach Salt Lake City, wo Alles in größter Unordnung und
die Verpflegung geradezu abſcheulich ſein ſollte. Da ich
in Denver genaue Erkundigung über die Beſchaffenheit der
Naturalverpflegung eingezogen, womit die Reiſenden zwiſchen
dort und der Marmonenſtadt am großen Salzſee regalirt
wurden, jo hatte ich mich mit „extras“ und „et caèteras“
wohl verſorgt und ſchob zur Freude des Kutſchers, neben
dem ich Platz nahm, einen anſehnlichen Proviantkaſten unter
den Bock. Der Inhalt deſſelben beſtand, wie ich hier beiläufig
erwähnen will, aus zehn Dutzend hart geſottenen Eiern und
zwei gebratenen, mit Roſinen ausgeſtopften Truthühnern,
nebſt entſprechendem Vorrath von Knackwürſten, getrocknetem
Büffelfleiſch, Limburger Käſe, ſauren Gurken, Sardinen und
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Auſtern in Blechbüchſen, Aepfeln, Feigen und Mandeln,
Eingemachtem, Kringeln, Biscuit, Brot, Kuchen und Pfeffer—
nüſſen und ſechs Flaſchen von dem beſten Whisky, den ich
in Denver hatte auftreiben können. Der keines Neides
fähige Irländer, welcher meinen Proviantkaſten wißbegierig
muſterte, bezeichnete denſelben beifällig als „wonderful“.
Um ſieben Uhr Morgens waren wir reiſefertig, und
mit einem Fluche auf das Wetter hieb unſer Kutſcher auf
das Viergeſpann ein. Durch die winterlichen Straßen von
Denver jagten wir, paſſirten den Cherokeebach auf einer
langen Holzbrücke und fuhren im dichten Schneegeſtöber
direct nach Norden. Die Stage-Route, welcher weiter
nördlich das Nivellement der Unionpacific-Eiſenbahn in uns
gefährer Richtung folgte, lief von Denver aus nach Norden
bis zur großen Laramie-Ebene , dann in einem Bogen
nach Nordweſt und überſchritt die Felſengebirge im Bridger's
Paß, von wo ſie in direct weſtlicher Richtung, nach dem
Becken des großen Salzſees führte. Die bedeutend kürzere
Linie, durch den 11,400 Fuß hohen „Berthoud-Paß“ direct
nach Weſten, war, wegen der daſelbſt faſt unpaſſirbaren,
entſetzlich felſigen Straßen, nach kurzem Verſuche im vorigen
Jahre von der Stage-Compagnie wieder aufgegeben worden.
Unſere erſte Tagereiſe führte uns durch das beſte Acker—
bauland und die blühendſten Anſiedelungen des Territoriums
Colorado. Die Fahrt auf einer vortrefflichen Landſtraße
wäre eine ſehr angenehme geweſen, hätte nicht das dichte
Schneegeſtöber alle Fernſicht verſchloſſen und die Hoch—
gebirge ganz unſerem Blick entzogen. Die Niederlaſſung
St. Vranes, 33 englifche Meilen von Denver, würde eine
* Auf dieſer Linie iſt die „Cheyenne- und Denver-Eiſenbahn“,
als Anſchluß an die Unionpacifiebahn bei der zur Zeit meiner Reiſe
noch nicht exiſtirenden Stadt Cheyenne, erbaut worden,
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Zierde für eins der geſegneten Counties im Miſſiſſippithale
ſein. Eine Luſt war es, das herrliche grüne Heu an den
Stationen zu ſehen, welches auf den Prärieen geſchnitten
wird und ein außerordentlich nahrhaftes Futter für das
Vieh giebt. Mehrere kleine Flüſſe paſſirten wir, reißende
Berggewäſſer, deren klare Fluth quer über die Landſtraße
lief. Die bedeutendſten derſelben, der große und der kleine
Thompſon, verſperren, da ſie nicht überbrückt ſind, nach
ſchnellem Schmelzen des Schnees im Gebirge oft tagelang
die Paſſage. Beide Flüſſe waren ziemlich geſchwollen,
ſo daß beim Hindurchfahren uns das Waſſer bis in's
Wagenbett trat.
Am Nachmittage klärte ſich das Wetter auf. Nach
rechts hin rollte der Schneeſturm ſeine grauen Wolken
über die Ebene, linker Hand zeigten ſich in der Nähe,
in pittoresken Formen, aber faſt ganz von Baumwuchs
entblößt, die felſigen Schwarzen Hügel. Dieſer berg—
ähnliche Höhenzug erſtreckt ſich in nördlicher und nordweſt—
licher Richtung, mit den Felſengebirgen bis zu den britiſchen
Beſitzungen parallel laufend. Weiter nördlich iſt derſelbe
mit Kiefern dicht beſtanden, welche von fern ſchwarz aus—
ſehen; daher ſein Name. Der mächtige Stamm der Sioux
Indianer pflegt dort ſeine Winterquartiere aufzuſchlagen,
weil zahlreiche Büffelheerden in den geſchützten Thälern
jener Bergkette vor dem rauhen Wetter alsdann eine Zu—
flucht ſuchen und in bequemer Nähe einen unerſchöpflichen
Vorrath von Fleiſch zum Lebensunterhalte gewähren.
Gegen Abend wurde das Wetter wunderſchön, und beim
Sonnenuntergange glühte rechter Hand die weite Ebene
wie vergoldet. Es war dies ein prächtiges Schauſpiel
und ganz einzig in ſeiner Art, das ſeine Urſache in dem
Reflex der Sonnenſtrahlen hatte, welche ſchräge auf die
dort meilenweit abgebrannte Grasfläche fielen.
61
Bei eintretender Dunkelheit erreichten wir, 67 englische
Meilen von der Stadt Denver, die Stage-Station „Cache
la Poudre“, neuerdings „La Porte“ getauft. Der frühere
Name wurde dem Orte nach einigen franzöſiſchen Bären—
jägern gegeben, welche, von Indianern hart bedrängt, einen
bedeutenden Pulvervorrath in einer nahe gelegenen Höhle
vergraben hatten. Ein klarer Bergſtrom, reich an köſtlichen
Forellen, welcher dicht bei der Station vorbeirauſchte,
wohlgepflegte grüne Felder und Gärten und die ſauberen
Gebäulichkeiten gaben ein freundliches Bild. La Porte
war eine Oaſe unter den Stations-„Hotels“, welche wir
bis jetzt geſehen hatten, und die immer ſchlechter wurden,
je weiter wir kamen. Beim Anblick der ſauberen, mit
duftenden Speiſen reich beſtellten Tafel und insbeſondere
der bildſchönen jungen Wirthin, die bei Tiſch aufwartete,
vergaß ich meinen Proviantkaſten. Nie hat mir ein Abend—
brot in einem Hotel erſter Claſſe beſſer gemundet, als die—
ſes in der beſcheidenen Stage-Station an der Grenze des
entlegenen Territoriums Colorado. Zum Verwundern war
es, wie unſere jugendliche Wirthin die Grazie einer feinen
Cultur an einem Orte bewahrt hatte, wo rohe Fuhrknechte,
Abenteurer und Grenzler die Hauptbeſtandtheile der männ—
lichen Nomadenbevölkerung bildeten, die mit nichts weniger
als polirten Sitten jene Station frequentirte.
Wir befanden uns wieder auf der Landſtraße, noch
immer nordwärts kutſchirend. Langſam verging die Nacht,
während welcher ich mich mit Gewalt wach hielt, um nicht
auf dem rauhen Wege vom hohen Kutſcherbock herunter
zu fallen. Dabei wehte ein eiſig kalter Wind, der durch
meine ſchwere Wolldecke wie durch dünnes Tuch hindurch—
blies. Als wir uns dem Felsthale von Virginia Dale
näherten, graute endlich der Morgen. Hier rieth der Kut—
ſcher allen Paſſagieren auszuſteigen und zu Fuß nach der
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nächſten Station durch die etwa zwei Meilen lange Schlucht
zu wandern, um die romantiſche Scenerie, beſſer als vom
Wagen aus geſchehen konnte, zu genießen. Mit Ausnahme
des Miſter Eiſak, der einen weinerlichen Methodiſten—
Morgengeſang in der Kutſche angeſtimmt hatte, befanden
wir männlichen Paſſagiere uns bald alle zu Fuß auf der
Landſtraße und wanderten rüſtig durch das enge Thal, wo
ſich die mit rieſigen Granitblöcken überſäeten ſchneegekrönten
Bergabhänge und nackte Felswände zu beiden Seiten mehrere
hundert Fuß hoch emporthürmten. Mein Gefährte, der
liebenswürdige Irländer, mit dem ich beſondere Freundſchaft
geſchloſſen und öfters Reiſeerinnerungen aus der Schweiz,
die er vor Kurzem beſucht hatte, austauſchte, rief vor Eeſtaſe
einmal über das andere „wonderful“ aus und fand dieſen
Engpaß ſo großartig, wie die Via Mala. Es hält ſchwer,
einen richtigen Vergleich zwiſchen ſolchen weit von einander
getrennt liegenden Naturſcenerieen anzuſtellen, da das Neue
auch den unbefangenen Beobachter ſtets vorwiegend feſſelt.
Großartige Berg- und Felspartieen find immer anziehend,
und dieſes Felsthal war gewiß ſehenswerth; aber der nach
dem Splügen führenden weltberühmten Schweizerſtraße war
daſſelbe an grandioſer Schönheit, trotz aller Bewunderungs—
rufe meines Freundes Wonderful, nicht ebenbürtig.
In der Station Virginia Dale, wo wir, nach einer
Reiſe von hundert engliſchen Meilen ſeit wir Denver ver—
laſſen hatten, gegen fünf Uhr Morgens anlangten, erfreute
uns in der Wirthsſtube ein rieſiges Kaminfeuer, welches,
mit Hülfe einer Taſſe heißen Moccas, unſer fröſtelndes
Blut bald wieder warm pulſiren machte. Zur Sommerszeit
mußte dies ein reizender Aufenthaltsort ſein, obgleich von
Bequemlichkeit daſelbſt nicht die Rede war. Die keineswegs
palaſtartigen Gebäulichkeiten — ein beſcheidenes Wohnhaus,
nebſt Pferdeſtall und Schmiede — boten keinen Comfort,
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und die Mahlzeiten vermöchte ſelbſt ein im Küchenzettel wenig
wähleriſcher Hinterwäldler nicht als luculliſch zu bezeichnen.
Aber die romantiſche Umgebung gab hinreichenden Erſatz
dafür. Im felſigen Bette rauſchte ein klarer Bergſtrom
durch einen kleinen Thalkeſſel, in den ſich die Felsſchlucht,
durch welche wir gekommen waren, öffnete. Die zu dieſer
Jahreszeit ſchneegekrönten Bergkuppen, gewaltige Fels—
abhänge, an denen hin und wieder ſchlanke Fichten Fuß
gefaßt hatten, und im Thalgrund ein reizendes, von waldi—
gen Höhen umkränztes hellgrünes Stück Wieſenland gaben
ein ſchweizeriſches Bild. Am jenſeitigen Rande der Wieſe
ſtanden maleriſch die weißen Zelte eines Truppendetachements,
das zum Schutze der Station gegen die Indianer daſelbſt
ein Lager bezogen hatte. Zur Zeit meines Beſuchs wohnten
in Virginia Dale, außer den wenigen Soldaten im nahen
Zeltlager, nur drei Männer, deren Geſchäft ſich darauf
beſchränkte, die Pferde zu füttern und in der Schmiede
etwaige Reparaturen an den Stagekutſchen zu machen.
Eine einzelne Frau bediente die Gäſte und hatte das
wenig beneidenswerthe Amt, täglich für zwei Stageladungen
hungriger und beſtaubter Reiſenden die Mahlzeiten zu kochen.
Unſere frühere liebenswürdige ſchöne Wirthin in La Porte
hatte bis vor Kurzem hier gewohnt und Virginia Dale
den Reiſenden zum Paradieſe auf der Ueberland-Stageroute
gemacht. Von der vierſchrötigen iriſchen Köchin, welche hier
gegenwärtig als Hebe bei Tiſch aufwartete, war jedoch
nicht zu behaupten, daß fie einem Praxiteles ein paſſendes
Modell für eine Venus Amathuſia gegeben hätte.
Nur ungern nahmen wir Abſchied von dem romantiſchen
Virginia Dale. Ein ueues Viergeſpann war eingeſchirrt,
und der Kutſcher, der in ſchlechter Laune war, hätte uns
juſt ſo lieb zurückgelaſſen, als fünf Minuten länger auf
uns zu warten. Unſer Plan, den Soldaten in ihrem Zelt—
— . 0 00¶9tg
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lager einen freundſchaftlichen Morgenbeſuch abzuſtatten,
wurde durch die im kategoriſchen Imperativ geſtellte Auf—
forderung des Roſſelenkers, ſofort einzuſteigen, vereitelt.
Ehe noch die Inſaſſen des „Schmutzwagens“ gehörig Platz
genommen und ſich in ihre Büffelpelze, Wollendecken, ſchot—
tiſchen Umſchlagetücher, Zephyrs, Muffs ꝛc. gehüllt hatten,
jagten wir bereits weiter über eine felſige Landſtraße, auf
welcher ſich die Stage in halsbrechenden Sätzen erging.
Die Paſſagiere wurden erbärmlich durcheinander geworfen.
Zum erſten Male hörte ich den frommen Miſter Eiſak
gottesläſterliche Flüche äußern, während mein Freund, der
Irländer, in den Schoß der ihm gegenüberſitzenden Mor—
monendame geſchleudert wurde und ſich wiederholt mit dem
Ausruf „wonderful“ entſchuldigte, — eine urkomiſche Scene,
welche ſogar die ernſten Spießbürger aus Denver in ein
homeriſches Gelächter ausbrechen ließ.
Nach einer Fahrt von dreizehn engliſchen Meilen, die
uns eine öde Gebirgsgegend, voll von gigantiſchem Fels—
geröll, führte, debouchirten wir in weſtlicher Richtung auf
die „große Laramie Ebene“, ein mehr als 7000 Fuß über
dem Meere erhabenes ausgedehntes Plateau, über welches
der eiſig-kalte Wind mit doppelter Stärke hinpfiff. Der—
ſelbe bläſt hier manchmal mit ſolcher Heftigkeit, daß nicht
nur Zelte, ſondern ſogar Wagen mit dem leinenen Bezug
davon umgeworfen werden.
Linker Hand hatten wir einen prächtigen Blick auf die
mit dichten Waldungen bedeckte ſchueegekrönte Centralgruppe
der Felſeugebirge, über welche ſich der gewaltige Long's
Peak mit ſeinem 14,050 Fuß hohen eiſigen Scheitel in
den blauen Aether emporthürmte. Die helle Morgenſonne
zeigte die Gebirge in blendender Beleuchtung; die Bäume
ſahen ſo friſch aus, als ob ſie eben den Schlaf abgeſchüttelt
hätten. Auf der Hochebene ſtanden hier und dort ſeltſame
65
Felsgebilde wie fremde Geſtalten da, die an das Felſen—
Meublement eines Schweizergletſchers im Hochſommer er—
innerten. Die geologiſche Formation des Continents änderte
ſich hier, und weißer oder röthlicher Sandſtein und Kies—
conglomerat traten an die Stelle der Kreidelager. Die
außerordentlich heftigen, mit feinem Sand geſchwängerten
Winde, welche von Zeit zu Zeit über das Hochland ſtreichen,
thun im Bunde mit der ſibiriſchen Kälte des Winters und
den Regengüſſen der Herbſt- und Frühlingsmonate das
Mögliche, um jene leicht zerbröckelnden Geſteinmaſſen in
groteske Formen umzubilden.
Auf glattem Wege fuhren wir den ganzen Tag hin⸗
durch über die Laramie Ebene. Gegen Mittag waren wir
gezwungen, bei einer Station während zwei Stunden zu
verweilen, da die Mauleſel, welche uns weiter bringen
ſollten, es ſich in den Kopf geſetzt, einen längeren Spazier—
gang zu machen. Dieſer unerwartete Aufenthalt kam mir
jedoch ſehr gelegen, indem ich dadurch Zeit zu einer Sieſta
auf einem duftenden Heuſchober gewann, mein erſtes Schläf—
chen in Dakota, deſſen Grenze wir ſoeben überſchritten
hatten. Der Mangel an Schlaf iſt von allen Strapazen
auf einer ſolchen Reiſe das Schlimmſte. Man muß den—
ſelben förmlich ſtehlen, und oft war ich froh, wenn es mir
gelang, auf dem Kultſcherbock in ſitzender Stellung ein
halbes Stündchen nicken zu können. Unter ſolchen Ver—
hältniſſen kam mir der Heuſchober wie das weichſte Daunen—
bett vor! Nur zu früh nach unſerem Wunſche waren die
Eſel wieder eingefangen, und mit ſchwerem Herzen verließ
ich mein bequemes Lager, um auf's Neue meinen Jammer—
ſitz beim Kutſcher wieder einzunehmen.
Nach und nach verengte ſich jetzt die Ebene, welche
zu beiden Seiten von niedrigen Höhenzügen begrenzt war.
Rechter Hand ſtand in weiter Ferne der ſchöne bläuliche
5
66
Eiskegel des Laramie Peak, der die Hochebene um 6000 Fuß
überragte. Der Boden war hier mit kleinen Feuerſteinen,
bunten Kieſeln und Quarzſtücken gleichſam überſäet, und
hin und wieder bemerkte ich Striche von Alcaliſalzen, welche
den ſpärlichen Graswuchs wie friſchgefallener Schnee be—
deckten. Die Stationshäuſer, bei denen wir vorſprachen,
ſahen alle arg verfallen aus, und an der Mahlzeit mußte,
nach den ſauren Mienen meiner Miteſſenden zu urtheilen,
wenig zu loben ſein. Mein unerſchöpflicher Proviantkaſten,
zu dem ich meinen Freund Wonderful und die Mormonen—
dame mit ihrem Knaben wiederholt einlud, überhob mich
jedoch der Gaſtmähler, welche die Stage-Compagnie den
Reiſenden auftiſchte. Der Nektar in meinen Flaſchen hatte
mir den Kutſcher zum Buſenfreund gemacht, ſo daß dieſer
mir willig die Hälfte von ſeiner warmen Büffeldecke abtrat.
Als es gegen Abend immer kälter wurde, war dies ein
wahrer Freundſchaftsdienſt!
Um zehn Uhr in der Nacht langten wir bei der Station
Coopers Creek an. Hier begannen die eigentlichen
Strapazen der Ueberlandreiſe, welche mir alle vorhergehen—
den Mühſale im roſigen Lichte erſcheinen ließen. Man
bedeutete uns, daß die Stagekutſche, vulgo „Schmutzwagen“
genannt, nicht weiter fahren könnte. Stellenweiſe läge der
Schnee noch achtzehn Fuß tief auf der Landſtraße, die ſo
ſchlecht ſei, daß jeder auf Federn ruhende Wagen dort
kurz und klein brechen müßte — und wie ſonſt die be—
ängſtigenden Neuigkeiten hießen! Genug, wir wurden per—
emptoriſch aufgefordert, in einem federnloſen ſogenannten
Rumpelwagen (lumber wagon) Platz zu nehmen,
der einem jütiſchen Bauernwagen auf ein Haar glich, und
den mein iriſcher Freund ſofort mit „wonderful“ bezeichnete.
Sitze waren, mit Ausnahme von ſolchen, welche unſere
Mantelſäcke und des guten Onkel Samuels benagelte Poſt—
67
beutel bildeten, keine darin vorhanden. Doch ermöglichten
wir es, durch ſinnreiches Ineinanderſchlagen unſerer Beine
uns acht und ein viertel Perſonen in dem Gefährte ein
Unterkommen zu verſchaffen. Die Mormonendame und
ihren Knaben (die viertel Größe) bemitleideten wir am
meiſten, und ſorgten für ihre Bequemlichkeit, ſo gut es
ſich unter den Umſtänden machen ließ. Was mich bei dem
Arrangement allein befriedigte, war die Gewißheit, daß
Miſter Eiſak, welcher ſtets um den beſten Platz im Wagen
geſtritten hatte, fortan in keiner Beziehung bequemer als
wir anderen Paſſagiere fahren würde. Da wir nach An-
gabe der Stationsleute an dreihundert engliſche Meilen in
ſolchen „Poſtkutſchen“ zurücklegen ſollten, ſo wird es der
Leſer natürlich finden, daß mein Vorſatz, auf dieſer Reiſe
jegliches Ungemach als ein weiſer Mann fortzulachen, gänz—
lich zu Schanden wurde und ſich meiner eine Art ver—
zweifelten Ingrimms bemächtigte.
Keine hundert Ellen weit waren wir im ſchlanken
Trab auf einem entſetzlich holperigen Wege gefahren, als
Miſter Eiſack, wie ein Türke fluchend, vom Wagen ſprang,
wobei er der Länge nach hinfiel und Wells, Fargo und
Comp., die Beſitzer dieſer famoſen Stagelinie, mit einer
Fluth von unliebenswürdigen Wörtern überſchüttete. Er
ſchwor, daß er lieber zu Fuß nach Salt Lake City laufen
wolle, als ſich auf einem ſolchen Wagen rädern und ſchinden
zu laſſen! Der Kutſcher nahm keine Notiz von ihm und
fuhr ſchnell weiter, bis er nach einer viertel Stunde auf
unſere Bitten ſtill hielt und den Murrkopf, der bereits ein
halbes Dutzend Mal in tiefe Schmutzlöcher gefallen war
und gottsjämmerlich ausſah, wieder an Bord nahm. Da
wir andern Paſſagiere es uns während ſeiner Abweſenheit
den Umſtänden nach bequem gemacht hatten, ſo mußte Eiſak
zur Strafe für feine unbefonnene Hitze mit einem Sitz auf
5 *
68
der ſcharfen Kante des Wagenbetts vorlieb nehmen. Es
war übrigens eine Nachtfahrt, wie man ſich derſelben Zeit
ſeines Lebens erinnert! Der eiſige Nordwind pfiff uns
um die Ohren und eine klingende Kälte drang ſelbſt durch
die Büffeldecken, ſo daß wir Alle wie Espenlaub zitterten
und uns die Zähne vor Froſt klapperten. Wo man hinſah
lag Eis und Schnee (wir befanden uns 7000 Fuß über
dem Meere), und der Weg war ſo holperig, daß wir auf
den mit eckigen Kupfernägeln beſchlagenen Poſtſäcken, die
ſich fortwährend unter uns verſchoben und deren nichts
weniger als ſanfter Inhalt von voluminöſen Staatsdocu—
menten und Congreß Pamphleten mich unangenehm be—
rührte, hin und her gerüttelt wurden, als ob eine Ladung
von loſen Knochen im Wagen läge. Etwas nach Mitter—
nacht hatten wir das ſeltene Schauſpiel, die „Venus durch
den Mond gehen“ zu ſehen, was mich in anderen Ver—
hältniſſen ſehr intereſſirt haben würde. Ehe der ſchöne
Planet hinter der leuchtenden Mondſichel verſchwand, ſah
das Bild genau ſo aus wie der türkiſche Halbmond mit
ſeinem Stern darüber, und dabei funkelte die Venus in
der klaren winterlichen Nacht heller als ich ſie je geſehen.
Bei dieſer ſchändlichen Fahrt im Rumpelwagen ärgerte ich
mich jedoch ſowohl über die Venus als den Mond, die
beide gar keine Urſache hatten, uns ein ſolches Schauſpiel
zum Beſten zu geben.
Endlich brach der Morgen an, der erſte des Monats
Mai. Wunderſchön war er freilich nicht, aber klar und
froſtig, wie ein Januarmorgen. Die Umgebung war ſonſt
recht romantiſch. Seitwärts zeigten ſich bewaldete Berg—
kuppen und weite Schneefelder, vor uns lag das finſtere
Elkgebirge, welches wegen der faſt täglich auf ihm wüthen—
den Schneeſtürme einen böſen Namen hat. Dieſes Gebirge,
ein vereinzelt daliegender Bergrücken, erhebt ſich ganz all—
69
mählig und fällt an feiner höchſten Stelle fteil ab. Aus
der Ferne geſehen erinnert daſſelbe an einen rieſigen Be—
lagerungswall, wie ihn Cäſar gegen den Vereingetorix an—
wandte. Das Elkgebirge iſt die Heimath unzähliger Elen—
thiere (elk — daher fein Name), Antilopen, Wölfe, ſchwarz—
geſchwänzte Hirſche und ſchwarzer und brauner Bären.
Auch der gewaltige Grizzly-Bär, der König der amerika—
niſchen Thierwelt, hat in ihm ſein Domicil aufgeſchlagen.
In den elenden Stageſtationen, wo ich kaum eine einzige
Feuerwaffe ſah, waren die Bewohner alle in tödtlicher Angſt
vor den Indianern, welche bereits mehrere Mordthaten
unter haarſträubenden Grauſamkeiten auf der Laramie Ebene
in Scene geſetzt hatten. Sobald das Gras, welches ihren
Ponies Nahrung geben müſſe, hinreichend gewachſen ſei,
hieß es, würden ſie auch in dieſer Gegend ihr Erſcheinen
machen.
Als wir weiter fuhren, fanden wir die Landſtraße
durch Schneebänke, die an dreißig Fuß tief lagen, ganz
verſperrt. Das eingetretene Thauwetter hatte ein Hinüber—
fahren über dieſelben unmöglich gemacht, ſo daß wir einen
halsbrechenden Weg am Rande eines abſchüſſigen Berges
einſchlagen mußten, wo unſer Fuhrwerk in der ſogenannten
„Teufelsſchlucht“ ſtecken blieb. Hier hieß es: ausſteigen
und abladen! — Im Kniehoſencoſtüm wateten wir durch
den breiartigen halbgeſchmolzenen Schnee, zogen die Poſt—
ſäcke achtzig Schritt weit durch den Sumpf auf trockenes
Land und zerrten ſchließlich die wild hintenausſchlagenden
ſtörriſch gewordenen vier Mauleſel nebſt dem Rumpelwagen
mit vereinter Kraft durch den tiefen Moraſt, eine Arbeit,
welche wenigſtens das Gute im Gefolge hatte, daß ſie uns
recht erwärmte. Jenſeits der „Teufelsſchlucht“ nahmen
wir unſere Jammerſitze auf Onkel Sam's Poſtſackkiſſen,
welche durch den Schmutz hübſch lackirt worden waren,
70
aufs Neue ein und fuhren in trübſeliger Stimmung weiter.
Bei meinen Leidensgefährten, welche ſeit dem vorigen Nach—
mittage keinen Biſſen zu ſich genommen hatten, meldete ſich
auch noch ein nagender Hunger. Hier war mein uner—
ſchöpflicher Proviantkaſten, aus deſſen Inhalt ich ein herr—
liches Mahl für die Reiſegeſellſchaft auftiſchte, in Wahrheit
eine Hülfe in der Noth!
Die Gegend, durch welche wir hinfuhren, beſtand aus
einer Reihe von aufeinander folgenden allmählich anſteigenden
Thalmulden, welche für den Bau einer Eiſenbahn wie ge—
ſchaffen ſchienen. Die Gebirge hatten nicht die Geſtalt einer
zuſammenhängenden Bergkette, ſondern waren in viele ver—
einzelte Höhenzüge getrennt. An den Abhängen ſtanden
hie und da verkrüppelte Fichten und Bergceedern, an den
Bächen und in den Niederungen wuchſen Weiden und cana—
diſche Pappeln. Aber die meiſten Berge waren von Bäumen
ganz entblößt. Die allerorten ſich zeigenden aſchefarbigen
zwei bis drei Fuß hohen Büſche von wildem Salbei (sage-
brush; artemisia tridentata) gaben der Landſchaft ein troſt—
loſes Ausſehen.
Das dichtbewaldete Elkgebirge zeigte ſich immer groß-
artiger, je näher wir demſelben kamen. Plötzlich rollten
finſtere Wolken den langgeſtreckten Gebirgszug hinan, ein
Schneegeſtöber fiel in das Thal und der Sturm kam mit
einer ſolchen Wuth daher gebrauſ't, daß wir gezwungen
waren, eine halbe Stunde lang anzuhalten. Als wir uns,
hinter den Wagen geduckt, vor dem blendenden Schneeſturm
zu ſchützen ſuchten, tauchten plötzlich ein paar hundert
flüchtige Thiergeſtalten kaum fünfzig Schritt vor uns durch
das dichte Schneegeſtöber auf und eilten wie eine wilde
Jagd quer über die Landſtraße. Es waren der Mehrzahl
nach Antilopen, mit rieſigen Elenthieren untermiſcht, welche
letzteren mächtige vier bis ſechs Fuß lange Geweihe trugen.
71
Das fliehende Heer, mit dem Gewimmel der großen und
kleinen Geweihe, erſchien ſo unerwartet und verſchwand ſo
ſchnell vor unſeren Blicken, daß wir keine Zeit fanden, ihm
einige Schüſſe nachzuſenden und uns damit begnügen mußten,
ſeine Flucht durch ein lautes Hurrah zu beſchleunigen.
Schnell wie er gekommen, brauſ'te der Schneeſturm vor—
über, und als dann plötzlich wieder die helle Sonne ſchien,
und die über die wilde Gebirgslandſchaft hineilenden dunklen
Wolken wie mit Silber umſäumte, war das Bild groß—
artig ſchön.
Gegen Mittag paſſirten wir das ganz verlaſſen da—
ſtehende Fort Halleck, eine Reihe von jämmerlichen Woh—
nungen und Stallungen, zu deren Erhaltung auch nicht das
Geringſte gethan war. Die dort ſtationirt geweſenen Truppen
waren vor einigen Tagen nach dem auf der Laramie Ebene
liegenden Fort Sanders gezogen, wie es hieß zum Schutze
der dortigen Gegend gegen die Indianer, obgleich ihre Ge—
genwart hier eben ſo nothwendig geweſen wäre. Der Kut—
ſcher behauptete ſarkaſtiſch, daß der Umzug beſonders des—
halb ſtattgefunden, weil das Brennholz hier zu billig ſei
und die Herren Lieferanten damit beſſere Geſchäfte auf der
holzarmen Laramie Ebene machen könnten. Bald nachdem
wir Fort Halleck verlaſſen hatten, kamen wir nach der Elk
Mountain⸗Station, wo meine Mitreiſenden ſich ein arm—
ſeliges Mittagsmahl buchſtäblich erbetteln mußten, während
ich mich mit Freund Wonderful wieder über meinen uner—
ſchöpflichen Proviantkaſten hermachte. Müde und hohläugig
und an allen Gliedern wie zerſchlagen, boten wir ein wahres
Jammerbild, als wir mit den ſchweren Poſtſäcken und un-
ſerem Handgepäck den Umzug nach dem zweiten Rumpel—
wagen bewerkſtelligten.
Weiter ging's durch die Gebirge, gottlob auf einer
nicht ſo rauhen Straße wie früher, ſo daß der Wagen
72
wenigſtens erträglich ſtieß. Nachdem wir durch den 7560
Fuß über dem Meere liegenden „Klapperſchlangenpaß“
paſſirt waren, traten wir hinaus auf ein weites Plateau.
Heerden von Antilopen flohen hie und da über den Plan,
und auf gutem Wege fuhren wir raſch dahin. Als wir
gegen Abend eine Bodenhebung erſtiegen hatten, breitete
ſich ein herrliches Panorama vor uns aus. Die Haupt—
kette der Felſengebirge lag vor uns, weit von Südoſt bis
über den an einer Sattelſenkung zu erkennenden Bridger's
Paß nordweſt reichend. Der Fuß der Gebirge war mit
Schneefeldern bedeckt, in mittlerer Höhe zog ſich ein Kranz
dunkler Wälder hin, die von leuchtenden Schneegipfeln über—
ragt wurden. Zacke an Zacke, Kuppe an Kuppe, Grat an
Grat dehnte ſich die gewaltige Gebirgskette vor uns aus,
den halben Horizont mit ihrem blitzenden Demantgürtel
umſchließend. Als beim Sonnenuntergange alle Schnee—
gipfel auf einmal wie in Brand ſtanden, war das Rieſen—
gemälde wundervoll. Ueber anderthalb Stunden hatten wir
das grandioſe Gebirgspanorama vor Augen; dann fuhren
wir auf abſchüſſigem Wege ſchnell hinunter in das Thal des
Nord Platte und erreichten, 226 engliſche Meilen von Denver,
bei einbrechender Dunkelheit die Station Nord Platte, in
der wir übernachten ſollten.
Zunächſt forſchte ich nach einem bequemen Nacht:
quartier, da ich todtmüde war und wir, wie vorauszuſehen
war, während der uns bevorſtehenden Fahrt über den
Bridger's Paß wieder wenig Gelegenheit zum Schlafen
finden würden. Wie gewünſcht entdeckte ich an der Seite
eines gewaltigen Heuſchobers ein trauliches Plätzchen, wo
ich mich für die Nacht comfortable einrichtete und bald, das
ſternenbeſäete Firmament als Himmelbett über mir, ent—
ſchlummerte. Die Sonne ſtand bereits hoch am Himmel,
als mein Freund, der Irländer, mich mit dem Ausruf
73
„wonderful“ aus dem duftenden Heu hervorzog und die
Meldung brachte: das Frühſtück fer aufgetiſcht! — Antilopen⸗
ſteaks, Cinnamonbären-Friccaſſee und ein mit Zwiebeln ge—
füllter Schweinskopf à la francais. Die beiden letztge—
nannten Gerichte waren leider bereits verzehrt, als ich
in eiliger Haſt im Speiſeſaal anlangte, ſo daß ich mich zu
meinem Aerger mit einem ledernen Antilopenſteak begnügen
mußte. Mich nach der Ausſicht zur Weiterreiſe erkundigend,
erfuhr ich, daß noch keine Stagekutſche vom Paß ange—
langt ſei und wir wahrſcheinlich den Tag über in Nord
Platte verweilen müßten. Die gegebene Mußezeit be—
nutzte ich, um mich in der Station und ihrer Umgebung
etwas umzuſehen.
Die „Home-Station“ Nord Platte liegt in der Nähe
des Fluſſes, deſſen Namen ſie trägt, eines klaren und ſchnell—
fließenden Stromes, welcher ſich mit dem weſtlich von der
Stadt Denver entſpringenden Süd Platte etwa hundert eng—
liſche Meilen unterhalb Julesburg vereinigt. Bei Hochwaſſer,
wenn der Schnee in den Gebirgen ſchmilzt, iſt die Paſſage
dieſes Fluſſes eine äußerſt gefährliche, für ſolche Fälle be—
fand ſich allerdings ein Fährboot zur Stelle, das aber
ſtark leckte und ganz unbrauchbar war. Seit einigen Tagen
war der Fluß bedeutend angeſchwollen. Sollte derſelbe
noch drei Fuß ſteigen, ehe die Stage vom Paß anlangte,
ſo mußten wir mit Gepäck und Poſtſäcken in einem Nachen
an das jenſeitige Ufer befördert werden, — eine ge—
fährliche Paſſage! Man erzählte uns, daß im vergangenen
Jahre fünf Perſonen bei einer ſolchen Fahrt ertrunken
ſeien. Dieſelbe hätten die Zeit nicht abwarten wollen, bis
der Fährmann ſein Frühſtück eingenommen, und wären
allein über den Fluß gerudert, wobei ihnen der Kahn um—
ſchlug. Die Frau eines der Ertrinkenden hatte vom dies—
ſeitigen Ufer unter herzzerreißendem Geſchrei das Unglück
ER.
mit angeſehen, ohne ihrem mit den Fluthen ringender
Manne irgend welche Hülfe bringen zu können. Erſt kürz—
lich wäre eine Ochſenfuhr, welche den Fluß zu kreuzen ver:
ſucht, von der Fluth erfaßt und fortgeriſſen worden; ein
Meile unterhalb hatte der Strom aber Fährmann und
Ochſen glücklicherweiſe gegen das Land geſchleudert, ſo daf
ſie gerettet worden waren. Dieſe Erzählungen trugen ihr
gut Theil dazu bei, daß wir den Tag über das ſchnelle
Steigen des Fluſſes mit Unruhe beobachteten.
Mit Ausnahme der nothwendigſten Einrichtungen war
von den Bewohnern der Station Nord Platte abſolut gar
nichts zur Bequemlichkeit ihres Lebens gethan worden. Weder
Gartenanlagen noch ſonſtige Verſchönerungen bemerkte ich,
kein Federvieh, Kühe oder andere nützliche Hausthiere waren
vorhanden: nur ein Paar ausgehungerte Hunde zerrten
gierig an den in Menge auf dem Hofe umherliegenden
Antilopenfellen. Unſere ſonſt ſehr arbeitſamen Wirthsleute
erklärten freimüthig, daß ſie nicht geneigt ſeien, die Station
für ihre Nachfolger zu verſchönern. Sie wüßten nicht,
wie lange ſie noch hier wohnen bleiben ſollten, und erwar—
teten außerdem eheſtens die Indianer, die ſo wie ſo Alles,
was nicht niet und nagelfeſt ſei, fortſchleppen würden. Lieber
zahlten ſie einen Dollar für das Pfund Faß-Butter, zwei
Dollars für das, Dutzend Eier aus Denver oder Salt
Lake City, und anderthalb Dollars für eine Blechbüchſe mit
eingemachten Früchten, als dieſe Dinge ſelber zu produciren.
Vor zwei Jahren wäre es in dieſer Gegend ſchrecklich her—
gegangen. Sogar Frauen und Kinder wären damals von den
Indianern ſcalpirt worden. An einem Tage hätten die rothen
Teufel fünf Weiße ermordet und alle Pferde geraubt, und
die Station ſei wochenlang förmlich in Belagerung geweſen,
ſo daß die Inſaſſen derſelben faſt vor Hunger umgekommen
wären, |
75
Unſere Naturalverpflegung beſtand hier faſt ausſchließ—
lich aus Antilopenfleiſch, das beim Kauen deſſelben ſeltſam
an Volumen zunahm. Mir ſagte ſein Geſchmack nicht zu,
obſchon andere Reiſende das Delicate jenes Wildfleiſches
ſehr gerühmt haben. Möglicherweiſe war es jedoch das
Fleiſch von alten Böcken, welches uns aufgetiſcht wurde.
Um unſeren Mittagstiſch mit einigen neuen Gerichten zu
verſorgen, gingen wir Paſſagiere am Vormittage ſämmtlich
auf die Jagd und waren auch ſo glücklich, einen Haſen und
zwei fette Sagehühner zu ſchießen. Letztere haben eine
den Sagebüſchen ähnliche aſchgraue Farbe. Oft laſſen ſie
ſich unter jenen Sträuchern kaum erkennen, und fliegen, ehe
man ſie bemerkt hat, Einem dicht vor den Füßen auf. Sie
ſind bedeutend größer als die bekannten Prairiehühner und
haben ein zartes und wohlſchmeckendes Fleiſch.
Während der Nachmittagsſtunden machte ich es mir
im Telegraphen-Zimmer bequem und lauſchte dem „Klick!
Klick!“ des electromagnetiſchen Zauberſtromes. Geſprächs—
weiſe erfuhr ich von den Beamten, daß die Telegraphiſten
an der Ueberland-Route 50 Dollars per Monat Gehalt
und freie Verpflegung, die Stationswächter an den Home—
Stationen 75, an den Nebenſtationen 50, die Fuhrleute
und Stagekutſcher 50 Dollars den Monat bezögen. Erſt—
genannte Anſtellungen wurden für fette Poſten gehalten,
da ſich ſtets viel nebenbei „machen“ ließ, wogegen die oft
den Angriffen der Indianer ausgeſetzten Fuhrleute ein we—
niger beneidenswerthes Amt inne hatten. Das Leben in
den Wildniſſen des fernen Weſtens hat aber für jene Leute
einen großen Reiz. Bei den Fuhrleuten gilt dazu die ge—
ſellſchaftliche Stellung eines Stagekutſchers als der höchſte
Ehrenpoſten in der Kutſchercarriere. Einer dieſer Herren
vom Bock würde eher ein Vier- oder Sechsgeſpann, ſei es
auch mitten durch ein Lager von feindlichen Indianern,
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76
umſonſt lenken, als freiwillig jenem Ehrenpoſten, dem ver—
wirklichten Ehrgeize eines ganzen Lebens, entſagen.
Nicht umhin konnte ich, über die Nachläſſigkeit zu erftau-
nen, mit der man in dieſer Station, mehr noch als in anderen,
mit den Poſtſäcken umging. Zweihundertundfünfzig der—
ſelben lagen ohne jegliche Aufſicht im Freien am Heuſchober
aufgeſtapelt, manche davon halb offen und alle dem Regen
und Wetter ausgeſetzt. Nicht die geringſte Mühe ſchien
man ſich zu nehmen, dieſelben prompt weiter zu befördern.
Von den Säcken, die wir mitgebracht, wurde ein halbes
Dutzend auf den Poſtſack-Chimborazo geworfen, wo ſie nach
der Aeußerung des Stallknechtes wohl liegen bleiben würden,
bis man Gelegenheit fände, ſie auf einem Ochſenwagen
nach Californien weiter zu transportiren. Während meines
Aufenthaltes in der Station Nord Platte lieferten fremde
Fuhrleute zwei volle Briefbeutel, welche ſie von der Land—
ſtraße aufgehoben hatten. Den ehrlichen Findern dankte man
in dieſem Falle nicht einmal und behauptete naiver Weiſe,
daß die nächſte Stagekutſche ſo wie ſo die verlorenen Säcke
gefunden und mitgebracht haben würde. Ein in der Tele—
graphenſtube anweſender Agent der Stage-Compagnie ſtellte
die Behauptung auf, daß die Poſtſäcke oft von den Paſſa—
gieren vom Wagen heruntergeworfen würden, wenn dieſen
die Kupfernägel als Sitz nicht mehr convenirten, — eine
ſchmähliche Verläumdung, gegen welche ich nicht umhin konnte,
lebhaft Proteſt einzulegen.
Am hohen Nachmittage langte zu unſerer nicht ge—
ringen Freude eine ſchöne Concord-Stage* vom Weſten
an, die den Namen „Montezuma“ in goldenen Lettern am
Kutſchenſchlag trug. Unſeren abgedankten Rumpelwagen be—
* Nach der Stadt Concord im Staate New⸗Hampſhier benannt,
wo jene Wagen gebaut werden.
77
trachteten wir jetzt mit Blicken grenzenloſer Verachtung und
lebten der frohen Hoffnung, ſeines Gleichen während unſerer
Weiterreiſe nie mehr zu ſchauen. Da der Nord Platte
bedenklich im Steigen begriffen war, ſo erhielt der Kutſcher
die Weiſung, ſobald als möglich nach dem „Paß“ zurück—
zufahren, welche Anordnung mit allſeitigem Jubel begrüßt
wurde. Punkt ſieben Uhr waren wir reiſefertig, und bald
befand ſich die „Montezuma“ mitten im Nord Platte, wo
das Waſſer bereits einen halben Schuh tief in's Wagenbett
ſtieg. Doch erreichten wir ohne Unfall das jenſeitige Ufer.
Nur die hinten am Wagen in einem Lederverſchlag tiefer
liegenden Briefbeutel wurden gründlich eingeweicht.
Als die Sonne unterging, hatten wir einen intereſſanten
Rückblick auf das Elkgebirge, welches, der Geſtalt eines
rieſigen Wallfiſches treffend ähnlich, in herrlicher Beleuch—
tung über den niedrigeren kahlen Höhen ſich erhob. Unter
den wenigen Vögeln, welche dieſe ungaſtliche Wildniß be—
wohnten, bemerkte ich ein Elſternpaar, das auf dem Tele—
graphendrathe augenſcheinlich eine wichtige Unterredung mit
einander hielt. Aber bald verdeckte die Nacht Gebirg und
Thal, und wir konnten von der Gegend nichts als mit—
unter einige ſchroff am Wege emporſteigende Felswände und
weiße Schneebänke erkennen. In der Kutſche ſchwieg die
Unterhaltung, und Einer nach dem Andern von uns ſank in
einen unruhigen Schlummer. Wenn wir auf beſonders
holperigen Stellen tüchtig hin und her gerüttelt wurden
und, erwachend, mit ängſtlichen Händen über die Büffel—
pelze hinfuhren, ſo ſchienen tauſend Sternlein im Wagen
aufzublitzen, — elektriſche Funken, welche, mitunter kniſternd,
aus den Büffelhaaren unter unſeren Fingern hervorſprangen.
Um Mitternacht kamen wir, fünfundzwanzig engliſche
Meilen vom Nord Platte, bei der Station „Pine Grove“
unerwartet zum Stillſtand. Die Stagekutſche, hieß es,
78
könnte auf dem ſchlechten Wege nicht weiter fahren, wir
müßten hier auf einen Rumpelwagen vom Paß warten.
Mit ſchwerem Herzen verließen wir die warme „Montezuma“
und ſuchten uns Schlafſtellen auf einem nahen Heuſchober.
Die Nacht war grimmig kalt und über uns funkelten die
Sterne prächtig am dunkelblauen Himmelsgewölbe. In den
Wipfeln einiger einſam daſtehenden Fichten, nach denen die
Station ihren Namen erhalten, rauſchte der Wind, und
das Geheul eines in der Nähe umherſtreifenden Wolfes
verſcheuchte den Schlaf von unſeren Augen. Ein Schuß,
dem ein Jammerſchrei folgte, ſchreckte uns plötzlich auf und
bewog uns Alle, in der Richtung des Knalls nach einem
nahen Hügel hinzueilen, wo einer der Stationswächter uns
einen ſoeben von ihm erlegten gewaltigen ſilbergrauen Wolf
zeigte. Fortan war von Schlafen keine Rede mehr, und
froh nahmen wir die freundſchaftliche Einladung unſeres
Nimrods an, ihm bei einer Taſſe Kaffee Geſellſchaft zu
leiſten. Bald waren wir Alle in dem kleinen von einem
brennenden Kienſpan erleuchteten Zimmer des Stations—
wächters verſammelt und ſchlürften behaglich den heißen
duftenden Trank, während wir den ſchauerlichen Erzählungen
von Abenteuern und Grizzly-Bären und Indianern horchten,
mit denen unſer Wirth uns gratis regalirte.
Endlich brach der neue Tag an, der dritte des Mai—
monds, kalt und glanzlos wie ein deutſcher Novembermorgen,
und bald darauf kam der Rumpelwagen vom Weſten durch
die winterliche Gegend dahergeraſſelt und hielt vor der
einſamen Station. Schnell warfen wir unſere Bagage und
die Poſtſäcke in das offene Gefährt, verſchafften der Mor—
monendame mit ihrem Knaben den bequemſten Sitz und
nahmen auf Onkels Sam's benagelten Vriefbeuteln Platz,
und raſſelnd und klappend rollte unſere „Staatskaroſſe“
dem Paß entgegen. Die Landſtraße war entſetzlich rauh,
79
und oft biſſen wir wie verzweifelt die Zähne zuſammen,
wenn der federloſe Wagen ſich in kühnen Sprüngen er—
ging. Miſter Eiſack ſaß wie ein Geſpenſt, hohläugig
und mit blaſſen Wangen, auf einem beſonders eckigen Poſt—
ſack und ächzte bei jedem Satz, den der Wagen machte,
daß es zum Erbarmen war, während der Irländer nicht
umhin konnte, dieſe Expreßfahrt wiederholt mit „wonderful“
zu bezeichnen.
Die Gegend ſah troſtlos öde aus. Von Waldungen
war nirgends eine Spur zu ſehen: nicht einmal vereinzelte
Bäume brachten Abwechſelung in das öde Landſchaftsbild.
An den Abhängen wuchſen verkrüppelte Salbeibüſche, Schnee
lag in den Schluchten und Felsgetrümmer am Wege. Die
Berge erhoben ſich, von unſerem Standpunkte aus geſehen,
zu geringer Höhe und ſahen einer Kette von Hochgebirgen
gar nicht ähnlich. Vergebens ſuchte mein Auge nach den
leuchtenden Alpengipfeln, von denen phantaſiereiche Touriſten
hier geredet haben! Bridger's Paß iſt ſo unromantiſch wie
nur denkbar, und von großartiger Gebirgſcenerie iſt in ſeiner
Nähe gar nicht die Rede. Für den Bau einer Ueberland—
Eiſenbahn ſcheint derſelbe jedoch wie geſchaffen zu ſein.
Die Terrainſenkung iſt von der großen Steppe und über
die Laramie Ebene, mit Ausnahme der etwas über 8000
Fuß hoch anſteigenden „Schwarzen Hügel“ *, bis zur Paß—
höhe ſo allmählig, daß dieſelbe dem Nivellement eines
practikablen Schienenweges unmöglich ernſte Schwierigkeiten
bereiten kann. Das größte Hinderniß, welches ſich dem
Bau einer Eiſenbahn durch die Mitte des Continents ent—
gegenſtellt, iſt nicht die Geſtaltung des Bodens, ſondern
*Die dort an der Unionpacific-Eiſenbahn erbaute Station
Sherman, die höchſte Eiſenbahnſtation in der Welt, liegt 8235
Fuß über dem Meeresſpiegel.
80
die menſchenleere faſt endloſe Wildniß. Im Winter ma
der Schnee die Fahrten der Dampfzüge zeitweilig unter
brechen; aber die Gegend iſt zu offen, als daß ſolche leich
zu beſeitigende Schwierigkeiten den Verkehr auf die Daue
ſtören dürften. Von dem tiefen Schnee, der hier im ver
gangenen Winter gelegen, wußte unſer Kutſcher Wunder
bares zu berichten. Stellenweiſe waren die etwa fünfzehn
Fuß hoch an den Pfoſten hinlaufenden Telegraphendräht
durch Schneebänke verdeckt geweſen, und bei einzelnen Stage
ſtationen hatte man Stufen bis zu vierzig Fuß tief durd
den Schnee ſchaufeln müſſen, um von der Landſtraße ar
die Thüren der Gebäude gelangen zu können. Der eigent
liche Paß, welcher 7100 Fuß über dem Meere liegt, if
fünfundzwanzig engliſche Meilen lang.
Die aufeinander folgenden Thalmulden, durch welch
wir hinfuhren, erhoben ſich faſt unmerklich. Der Wes
verſchlechterte ſich jedoch zuſehends. Mancher Felsblock kan
den Wagenrädern unangenehm in die Quere und veran
laßte, namentlich in Folge unſerer ſeltſam queckſilberiger
Poſtſackſitze, oft nicht eben freundſchaftliche Berührunger
unſerer Köpfe und Schultern. Der Schnee war ſtark in
Schmelzen begriffen, und mitunter geriethen wir unverſehens
in tiefe Löcher und rollten auf jämmerliche Weiſe im Wager
untereinander. In einem ſolchen Sumpfloch fiel der Wager
um und ſchleuderte uns in romantiſchem Gewirr mit Ge—
päck und Briefbeuteln in den tiefen Schnee. „Wonderful!“
rief der Irländer, als der unter ihn und die Mormonen—
dame gefallene Miſter Eiſack, Mund, Naſe und Ohren voll
Schnee, puſtend und ſich ſchnäuzend auf allen Vieren unter
ihm hervorkroch. Sobald das Gepäck und die Poſtſäcke wieder
aufgeladen und die Mormonenfrau mit ihrem weinenden
Knaben im Wagen untergebracht worden waren, jagte der
Kutſcher weiter und ließ uns männlichen Paſſagiere eine
81
halbe Stunde lang durch den tiefen Schnee hinterdrein—
laufen, ehe er uns wieder an Bord nahm.
Von jetzt an war unſere Reiſe mit Recht eine be—
jammernswerthe zu nennen! Mit jeder Minute wurde es
mir klarer, daß ich die allerſchlechteſte Jahreszeit zur Stage—
fahrt über die Felſengebirge gewählt hatte. Wir vertauſchten
den Rumpelwagen jetzt mit einem Schlitten, oder, beſſer
geſagt, mit einem auf Eiſenreifen ruhenden halbzerbrochenen
Wagengeſtell. Ehe fünf Minuten vergangen waren, warf
der Wagen um, diesmal zur Veränderung mitten in
einem an zwanzig Schritt breiten Graben, der etwa
drei Fuß tief mit einer halbzerſchmolzenen breiartigen
Schneemaſſe angefüllt war. Ganz durchnäßt reiſten wir
weiter, bald im Schlitten hockend, der im Paß noch drei
Mal umwarf, bald bis an die Kniee durch loſen Schnee
nebenher watend, bald auf halbgefrorenen Schneefeldern,
wo wir faſt bei jedem Schritt durch die dünne Kruſte brachen
und oft auf Händen und Füßen kriechen mußten, uns, ſo
gut es ging, einen Weg ſuchend.
In der Mitte vom Bridger's Paß paſſirten wir zwölf,
je mit zehn Mauleſeln beſpannte Frachtfuhren. Die Ladung
dieſer Karavane, welche von Salt Lake City nach einem
Militairpoſten auf der Laramie Ebene unterwegs war, be—
ſtand aus Speckſeiten und lag auf einer Strecke von anderthalb
engliſchen Meilen am Wege im Schnee zerſtreut da, weil
die Wagen ihre Fracht in kleinen Partien mit doppeltem
Vorſpann über den beinahe bodenloſen Gebirgspaß ſchaffen
mußten. Die Fuhrleute verwünſchten den Paß; die ſtör—
riſch gewordenen Eſel ſchlugen hinten und vorne aus, biſſen
nach den Treibern, oder wälzten ſich im Schnee; mehrere
Wagen waren umgeſtürzt und lagen, der Speck darunter,
unterſt zu oberſt im Schnee. Wir machten ſchlechte Witze
und erkundigten uns nach den „Speckpreiſen im Paß“, und
6
82
der luſtige Irländer lief mit zwei prächtigen Schinken davon,
von einem grimmig ſcheltenden Fuhrmann durch Schnee
und Salbeigeſtrüpp verfolgt, — ein amüſantes Intermezzo,
das uns Alle wieder in fröhliche Stimmung brachte.
Weiter gings durch den Paß, jetzt auf härterem Wege
und wieder auf einem Rumpelwagen. Neben uns rieſelten
die Bäche von geſchmolzenem Schneewaſſer noch immer nach
Oſten thalab, deren Lauf ich aufmerkſam beobachtete, um
die Waſſerſcheide des Continents zu entdecken. Endlich be—
merkte ich einen kleinen, ſehr kleinen Strom, der nach Weſten
lief. Dicht hinter mir lagen nun die Quellen des Platte,
der ſein klares Gebirgswaſſer dem finſteren Miſſouri ent—
gegenträgt. Der Vater der Flüſſe wird es, nach einem
Laufe von mehr als tauſend deutſchen Meilen, in ſeinem
gewaltigen Fluthenſchoße dem blauen mexikaniſchen Golfe
zuſenden; und hier ſtand ich auf dem Rückgrat des Con—
tinents, an den Quellen des unerforſchten Colorado, der,
fünfhundert Stunden von uns entfernt, im ſonnigen Süd—
weſten ſeine Wellen in den Golf von Californien ergießt.
2. Die Salbei: und Alcaliwüſte.
Hinter uns lag der Bridger's Paß, und in einem mit
Leinewand überdachten, ringsum geſchloſſenen Wagen, einem
ſogenannten Käfig (cage), raſſelten wir luſtig bergab.
Während unſerer Fahrt über den Paß hatten wir ſechs
Mal Fuhrwerke gewechſelt: Rumpelwagen, Schlitten,
Schmutzwagen, Schlitten, Rumpelwagen und Käfig. Bei
der Station „Sulphur-Springs“, die nach einigen in
ihrer Nähe hervorbrechenden Schwefelquellen benannt war,
verließen wir den eigentlichen Paß, die Schneefelder ver—
ſchwanden hinter uns und die öde Berglandſchaft erweiterte
ſich mehr und mehr. Von Baumwuchs war nirgends eine
Spur zu ſehen; nichts als ſonnenverbranntes Salbeigeſtrüpp,
ſpärliches an Büſcheln wachſendes vergilbtes Gras und
Zwerg-Cactuſſe bedeckten den Boden. Dabei ſauſ'ten ſtoß—
weiſe ein heftiger mit Staub und feinem Sand geſchwän—
gerter Wind, daß Einem die Haut davon prickelte, als
würde man mit Nadeln geſtochen.
An jeder Station wurden wir mit Beſchreibungen von
dem ſchrecklichen Zuſtande der Straßen unterhalten. Wie
man uns erzählte, hätten noch vor vierzehn Tagen die
Stages im günſtigſten Falle volle zwei Wochen zur Reiſe
von Salt Lake City nach Bridger's Paß gebraucht. Mehrere
derſelben wären bis zum Grünen Fluß, einer Strecke von
nur 183 engliſchen Meilen, ſechszehn Tage und Nächte
unterwegs geweſen, wobei die Paſſagiere ſtellenweiſe bis an
6 *
84
den Leib durch die geſchwollenen Berggewäſſer hätten waten
müſſen. Froh waren wir, als wir am Nachmittage eine
leere Concord-Stage, welche den Namen „Eelipſe“ führte,
am Wege daſtehen fanden, der wir uns ſofort bemächtigten
und den Käfig an ihrer Stelle für die nächſte Reiſegeſell—
ſchaft zurückließen. Leere Wagen und Stages ſtanden an
dieſer Strecke der Ueberland-Route nicht ſelten auf der
Landſtraße unter Gottes freiem Himmel da und wurden
von den Kutſchern nach Belieben ausgetauſcht. Keiner be—
wachte dieſelben, weil ſie Niemand ſtehlen konnte. Ein
Wagendieb würde auf der einzigen durch dieſe Wildniß
führenden Landſtraſte bald von den Stationswächtern an—
gehalten werden, wenn er nicht auf einem Fuhrwerke ſüd—
wärts nach dem Lande der Montezumas oder nordwärts
nach der Baffinsbai ſozuſagen querfeldein fahren wollte.
Die hohläugigen Inſaſſen der Rumpelwagen und Käfige,
denen wir ab und zu begegneten, wußten erbärmliche Jere—
miaden über die entſetzliche Reiſe, welche ſie durchgemacht
hatten, zu erzählen.
Als wir uns gegen Abend dem berüchtigten Thale des
Bitterbachs (bitter creek) näherten, verflachte ſich die Ge—
gend. Verkrüppeltes, aſchgraues Salbeigeſtrüpp, Sandhügel,
heftige, dichte Staubwolken aufwirbelnde Windſtöße, hie
und da Striche von fchmutzig weißen Alcaliſalzen und, außer
gelegentlich einer Sagehenne oder einem einſamen Vogel,
der ſeinen Weg verloren haben mußte, von lebendigen
Weſen keine Spur, — ſo ſah es im Vorhofe jenes Thales
aus. Da es innerhalb ſeiner Grenzen auf einer Strecke
von achtzig engliſchen Meilen nur alcalihaltiges Waſſer zum
Trinken gab, das unſerem Gaumen wenig zuſagte, ſo hatten
wir, ehe wir dorthin gelangten, wohlweißlich alle unſere
leeren Flaſchen mit reinem Quellwaſſer gefüllt. Während
der Nachtfahrt wurden wir jämmerlich im Wagen hin und
85
her geſtoßen. Oft mußten wir ausſteigen, um den Maul-
eſeln, welche den Vorſpann bildeten, das Ziehen zu er—
leichtern, und waren gezwungen, auf langen Strecken im
Finſtern durch Pfützen und Bäche zu waten. Brücken exiſtirten
nirgends, und es nahm Wunder, daß auf dem entſetzlichen
Wege nicht Alles am Wagen kurz und klein brach. In
keinem Lande der Welt würde man es wagen, mit Poſt—
kutſchen auf ſolchen Wegen zu fahren!
Endlich brach der Morgen an und geſtattete uns, die
ſchreckliche Gegend genauer zu betrachten. Zu beiden Seiten
war das ſchmale gewundene Thal von Bergen umkränzt,
die ausſahen, als ob ſie mit Aſche beſtreut ſeien. Schmutzig—
weißes Alcali bedeckte meilenweit die Landſtraße, und der
Boden war von der Sonnenhitze gebacken und zerſprungen.
Wohin man ſah, wuchs verkrüppeltes gelblich-graues Salbei—
geftrüpp. Bäume oder nur Büſche gab es keine; grün
wird es in dieſer Gegend nie! Alle paar hundert Schritt
lagen Thiergerippe am Wege, und ekelhafte Verweſungs—
dünſte ſetzten unſere Geruchsnerven in Aufruhr. Skelette
von Wölfen, welche Thiere von den Stationswächtern der
Bequemlichkeit halber mit Strychnin vergiftet wurden, waren
beſonders zahlreich. Die Pfützen im Wege ſahen bräunlich
aus, wie Blutlachen in einem Schlachthaus. In den Sta—
tionen brannte, in Ermangelung eines anderen Feuerungs—
materials, auf den Kochheerden trockenes Salbeigeſtrüpp,
das ein ſchnelles und außerordentlich heißes, dabei aber in
wenigen Minuten ausbrennendes Feuer giebt, und den
Speiſen einen pikanten Saleratusduft mittheilt. Der Kaffee
hatte von dem Alcaliwaſſer, worin er gekocht ward, einen
eigenthümlichen Beigeſchmack wie von grüner Seife. Der
ſich in den Green River ergießende Bitterbach iſt ein etwa
vierzig Fuß breites Gewäſſer, mit gegen zwanzig Fuß hohen
ſteilabfallenden und durch und durch von ſchmutzig weißen
86
Alcaliſalzen geſchwängerten Uferbänken. In kurzen Schlangen-
windungen ſtrömte das ſchwarze ſtygiſche Waſſer durch dieſe
entſetzliche Wüſtenei, als ob ein Ungeheuer dort auf Raub
hinkröche.
Wir begegneten einer Bande von etwa hundertund—
fünfzig Schlangenindianern (Snakes) unter ihrem den Weißen
freundlich geſinnten Häuptlinge Waſhakie, der auf einem
elenden Klepper, deſſen Rippen man unter der ſchlotterigen
Haut zählen konnte, an den Kutſchenſchlag geritten kam.
„Wonderful!“ — rief mein Freund, der Irländer, als
Sr. Majeſtät, der ſo ſchmierig ausſah, als wäre Sie ſo—
eben aus einem ſchmutzigen Fetttopf gekrochen, ihm herab—
laſſend die Hand reichte uud um Taback bettelte. Dieſer
indianiſche Häuptling bildete ein frappantes Gegenſtück zu
den „edlen rothen Männern“, welche von den Dichtern oft
in anmuthigen Romanzen beſungen worden ſind! Waſhakie's
Unterthanen gehörten zu demſelben Indianerſtamme, welcher
im öſtlichen Oregon jahrelang ſoviel Unfug trieb. Seit
General Connor aber im Jahre 1863 an vierhundert der—
ſelben am Bärenfluſſe tödtete und General Crook ſie im
Oregon zuſammenhieb, haben ſie ſich, die Untugend des
Pferdeſtehlens abgerechnet, in dieſer Gegend muſterhaft be—
tragen. Ich konnte deshalb nicht umhin, mit Fürſt Waſhakie
Brüderſchaft zu trinken. Leider war ich ſo unvorſichtig,
ihm die dickbauchige Whiskeyflaſche mit dem köſtlichen Feuer—
waſſer darin zuerſt hinzugeben, die er, wahrſcheinlich in
der Abſicht, um mir einen Beweis ſeiner tiefgefühlten Hoch—
achtung zu geben, auf einen Zug bis auf die Nagelprobe
leerte. Die Indianer brachen ſoeben ihr Lager ab, das an
einer Stelle geſtanden, wo mächtige Sandſteinwälle wie
rieſige Baſtionen aus einem anſehnlichen Berge (table rock)
hervortraten. Die Squaws, welche ihre Kinder in Korb—
geflechten auf dem Rücken trugen, waren alle fleißig bei
87 ;
der Arbeit und leiſteten willig Handlangerdienſte. Die in
Lumpen gehüllten Männer der Wildniß ſahen gleichgültig
der Arbeit zu, während ihre Ehehälften ſchwere Bündel
fortſchleppten und die langen Zeltſtangen, den Proviant
und die als Zeltdächer dienenden getrockneten Büffelhäute
auf den Rücken der Ponies befeſtigten. Auf der Wande—
rung ſchleifen die mit einem Ende am Sattelknopfe befeſtigten
ſechszehn bis achtzehn Fuß langen Zeltſtangen mit dem an—
deren Ende am Boden hinter den Ponies her. Waſhakie
war Generallieutenant (lighting chief) der Bande. Ein
älterer Häuptling ſchlichtete die häuslichen Zwiſtigkeiten
und handhabte die Geſetze mit eiſerner Strenge. Die
Stage-Compagnie hatte aus Reſpect gegen den großen Häupt—
ling Waſhakie eine ihrer Stationen, die zweite weſtlich von
Bridger's Paß, nach ihm benannt, *
Das Bitterbach-Thal ſchien gar kein Ende nehmen zu
wollen. Wie es Leute geben konnte, die freiwillig in einer
ſolchen Gegend wohnten, war ein pſychologiſches Räthſel.
Aber die Stationswächter ſahen Alle geſund und zufrieden
aus, und das Seifenklima mußte ihnen wohl zuträglich
fein. Da der Boden dieſes Thales ganz von Alaaliſalzen
geſchwängert und ſelbſt das als Feuerholz benutzte Salbei—
geſtrüpp und das Trink- und Kochwaſſer voll davon waren,
ſo kamen die Bewohner dieſes Seifenſiederparadieſes eigent—
lich nie aus dem Seifengeſchmack heraus. In einer Weg—
ſtation wohnte eine Mormonenfamilie. Die Hausfrau, eine
vierſchrötige Schwedin, erzählte uns, daß ihr Gemahl mit
ſeiner erſten Ehehälfte, einer Dänin, nach Salt Lake City
gereiſt ſei. Hier war ein practiſcher Beweis von der Aus—
Von der Unionpacific-Eifenbahn iſt dieſe Station als Halte⸗
platz beibehalten worden, ſo daß Waſhakie's ſtolzer Name der Zu—
kunft nicht verloren gehen wird.
88
führbarkeit einer ſkandinaviſchen Union, obgleich Dänemark
wie gewöhnlich das Commando führen wollte. Die Schwedin,
welche die Kinder der Dänin mit ihren eigenen zu Hauſe
behalten hatte und hätſchelte, ſchien mit ihrer Familienſtellung
als zweite Ehehälfte ganz zufrieden zu ſein und wurde von
uns mit Verwunderung betrachtet.
Für die nach dem Weſten ziehenden Emigranten iſt das
Bitterbachthal oft ein wahres Todtenthal geworden, denn
Hunderte von Stück Vieh kommen daſelbſt jährlich durch
Futtermangel und Entbehrungen um. Von den Mauleſeln
und Ochſen werden im Nothfall die Salbeiblätter gefreſſen,
aber die Pferde ſind für ein derartiges Futter zu civiliſirt;
dieſe hungern lieber oder knabbern an den ſpärlich wachſen—
den mit Alcaliſalzen gewürzten vergilbten Grasbüſcheln, als
ſich an den Salbeibüſchen zu vergreifen. Bricht etwas an
den Fuhrwerken, was auf den rauhen Wegen nicht ſelten
vorkömmt, ſo iſt bei alsdann unvermeidlichem Aufenthalte
der Tod eines Theiles der Zugthiere die unvermeidliche
Folge. In den Sommermonaten ſoll der mit Alcali ge—
ſchwängerte Staub bei der hier herrſchenden Backofenhitze
kaum zu ertragen ſein. Die Stationsgebäude und die er—
bärmlichen Wickiups (Zelthütten) der Indianer abgerechnet,
ſieht man gegenwärtig auf der ganzen vierhundert engliſche
Meilen langen Strecke von der Laramie Ebene bis zum
Salzſee kaum eine einzige Menſchenwohnung. Im Bitterbach-
thale gipfelt die troſtloſe Dede dieſer Salbeiwildniß. Es
muß Wunder nehmen, wie Ochſenfuhren, welche nur zehn
bis zwölf engliſche Meilen im Tage zurücklegen, es möglich
machen, jene endlos ſcheinende Einöde zu durchkreuzen.
Aber ſie thun es, Jahr ein, Jahr aus. Wenn erſt das eiſerne
Roß ſeine Stelle einnehmen wird, und die Reiſenden aus
den Fenſtern dahinfliegender Palaſtwaggons dieſe ungaſtliche
Wildniß betrachten werden, mögen ſich Jene der armen Emi
89
granten erinnern, welche vor ihnen mit heißen und wunden
Fußſohlen, entzündeten Augen und ausgetrocknetem Gaumen
Schritt vor Schritt durch dieſe gleichſam von Gott ver—
fluchte Gegend ziehen mußten, ehe ſie die fruchtbaren Thäler
am fernen Stillen Meere erreichen konnten.
Endlich hatten wir das Bitter-Creek-Thal hinter uns
und wir fuhren am hohen Nachmittage auf hartem Wege
über eine baumleere Hochebene. Rechter Hand hatten wir
eine ſchöne Ausſicht auf die ſchneegekrönten Windfluß-Berge
(wind river mountains), welche ſich mit ihren zahlreichen
glänzenden Gipfeln, worunter der Fremont's Peak, herrlich
ausnahmen. Im Frühjahr 1868 wurden in jener Berg—
kette Goldadern entdeckt; zwiſchen ihr und dem Süd-Paß
in den Felſengebirgen liegen, nicht weit von den Quellen
des Grünen Fluſſes, die „Sweet Water-Goldminen“. Das
Land zeigte ſich jetzt wieder ſehr zerriſſen, die Berge waren
mit loſem gebrannten Geſtein bedeckt. Mit Ausnahme von
grauem Salbeigeſtrüpp, verkrüppeltem Wachholder und
ſpärlich wachſenden vergilbten Grasbüſcheln gab es auch
hier keine Vegetation. Unter den Steinen waren rothe und
bunte Carneole, welche geſchnitten zu Ringen verarbeitet
werden, und Achate zahlreich. Der hier beſonders häufig
vorkommende Moosachat, ein von feinen Moosblättchen
gleichſam durchwirkter Feuerſtein, wird geſchliffen vielfach
zu Bruſtnadeln, Siegelringen, Uhrgehängen und dergleichen
Zierrathen benutzt.
Bei Sonnenuntergang erreichten wir den hier die
Grenze zwiſchen den Territorien Wyoming und Utah bil—
denden Green River, einen Nebenfluß des Colorado. Die
Berge an den Ufern jenes Stromes waren nackt und
phantaſtiſch geformt. Gewaltige Felspyramiden wuchſen gleich—
hie und da aus den jähen Abhängen hervor. Auf
halsbrechendem Wege fuhren wir im ſchlanken Trab hin—
90
unter in das felſige Thal, überſchritten den etwa achtzig
Ellen breiten Strom vermittelſt einer Fähre und gelangten
bei einbrechender Nacht nach der 403 engliſchen Meilen von
Denver entfernten Station „Green River“. Zu unſerer
Freude erfuhren wir todtmüden Reiſenden hier, daß wir
vor dem nächſten Morgen nicht weiterfahren ſollten. Nach
genoſſenem frugalen Abendbrot ſtreckten wir uns im ge—
ſelligen Nebeneinander auf dem nackten Fußboden des Fremden—
zimmers und fielen bald in tiefen Schlaf, trotzdem ſieben
Grünfluß⸗Dilettanten eine ohrzerreißende muſikaliſche Soiree
mit vier kratzenden Geigen, einer verſtimmten Guitarre, einem
Banjo und einer Ziehharmonika in unſerer Stube aufführten.
Die neue Sonne fand uns, geſtärkt von erquickendem
Schlummer wieder auf der Reiſe, in der bequemen „Eclipſe“
immer noch weſtwärts kutſchirend. Das Wetter war wunder—
ſchön und ein wolkenloſer tiefblauer Himmel wölbte ſich
über uns. Einen eigenthümlichen Gegenſatz zu der uns
umgebenden einförmigen Landſchaft, mit ihren öden Sand—
hügeln und dem mit verkrüppeltem Salbeigeſtrüpp ſpärlich
bewachſenen harten Lehmboden, bildeten rechts in der Ferne
die Windfluß-Berge und linker Hand, im Südweſten, das
ſchöne Uinta-Gebirge in Utah. Beide, zu dieſer Jahreszeit
* Als der nach dem Weſten fortſchreitende Bau der Union—
pacific⸗Eiſenbahn den Green River erreichte, ſprang hier eine von
den wüſteſten Städten, welche Amerika je geſehen hat, gleichſam aus
dem Boden hervor, die beim Weiterbau der Eiſenbahn aber eben ſo
ſchnell wieder verſchwand. Das zu damaliger Zeit ſich in „Green
River City“ breit machende ungezügelte Leben der daſelbſt aus aller
Herren Länder zuſammengeſtrömten Abenteurer ſpottet aller Be—
ſchreibung. Jetzt iſt dort auf das Lärmen und wüſte Treiben jener
Strolche, auf den Glanz der Spielhöllen, Trinkbuden ꝛc. ꝛc. die
öde Stille der Wildniß gefolgt, und nur das bei einer beſcheidenen
Station zeitweilig anhaltende Dampfroß macht die Felshänge von
ſeinem wilden Geheul widerhallen.
91
ſchneebedeckte, Bergketten blinkten mit ihren gezackten
Gipfeln herrlich in dem hellen Sonnenlichte. Ab und zu
kamen wir an einigen elenden indianiſchen Wickiups vorbei,
deren zerlumpt bekleidete Bewohner, die dem Stamme der
Shoſhones angehörten, uns mit verdummten Geſichtern
nichtsſagend anſtierten. Als Lewis und Clark im Jahre
1805 ihre erſte Reiſe über den nordamerikaniſchen Continent
machten, waren die Shoſhones ein mächtiger, kriegeriſcher
Stamm; jetzt ſind ſie geiſtig und körperlich ganz verkommen
und gehen mit ſchnellen Schritten ihrem Untergange entgegen.
Der Boden wird nun ſteiniger, und hie und da traten
ſeltſame iſolirt daſtehende Hügel (Buttes) aus der baum—
leeren öden Ebene hervor. Der Grund war mit bunten
Kieſeln, Granitſtückchen, weißen, gelben und marmorirten
Quarzſplittern und pechartig ausſehendem Obſidian (ſchwar—
zem natürlichen Glaſe) gleichſam überſäet, welche Steine
augenſcheinlich alle in der Urzeit von einer über dieſes
Plateau hinbrauſenden gewaltigen Fluth abgerundet worden
waren. Die in dieſer Gegend häufig vorkommenden Moos—
achate nahmen unſere Aufmerkſamkeit ganz beſonders in
Anſpruch: ſchnell ſprangen wir vom Wagen, wenn wir ein
hübſches Stück davon am Wege gewahr wurden, um uns
gegenſeitig den Fund abzujagen. Dreißig Meilen weſtlich
vom Green River wurden wir zur Veränderung wieder
einmal auf einen Rumpelwagen verſetzt, ein ganz unnöthiger
Umzug, da die Poſtkutſche juſt ſo gut wie ein offener
Bauernwagen auf dieſem glatten Wege hätte fahren können.
Doch hatten wir dabei das Angenehme, auf den Poſtſack—
Kiſſen eine freie Rundſchau genießen zu können.
Wir näherten uns jetzt dem ſogenannten Kirchen—
felſen (church butte), einem der intereſſanteſten Natur—
wunder auf der Ueberland-Route. Bereits aus bedeutender
Ferne ſahen wir ſeine unförmliche Felsmaſſe linker Hand
92
dicht an der Landſtraße über die öde Ebene emporragen.
Ich fühlte mich zuerſt ſehr getäuſcht, denn ich vermochte
in dem Felſen durchaus keine Aehnlichkeit mit einer Kirchen—
ruine zu entdecken. Als wir jedoch demſelben näher kamen,
nahm die Sandſteinmaſſe allmählich eine wunderbare Ge—
ſtalt an, und als wir langſam erſt vor feiner langen Fagade
und dann ganz um den Berg herumfuhren, erſtaunten wir
über dieſen einer ungeheuren Tempelruine in der That auf—
fallend ähnlichen Naturbau.
Der Berg, denn als einen Felſen konnte man die
vor uns liegende gewaltige Sandſteinmaſſe nicht wohl be—
zeichnen, war von jeglicher Vegetation entblößt. Seine
lange Fagade zeigte eine wunderbare Aehnlichkeit mit einer
in Trümmer ſinkenden uralten rieſigen Tempelmauer. Ver—
witterte Säulen und hohe, und halb zerfallene Spitzbögen
ragten empor, die ſich bald wie Fenſterniſchen, bald wie
von Schutt ausgefüllte Portale ausnahmen. Gigantiſche
Bilder waren gleichſam aus den Felſen hervorgehauen, hatten
aber im Laufe der Jahrtauſende ihre Schönheit eingebüßt.
Mit theilweiſe abgebrochenen Gliedern, hier kopflos, dort
wieder mit weit aufgeriſſenen Augen Einen ſeltſam an—
ſtierend, ſaßen ſie in faltenreichen Gewändern an der Berg—
wand da. Es bedurfte nur ein wenig Einbildungskraft,
um dieſe ſeltſamen Sandſteingebilde in Götzen der Urzeit
umzuwandeln. Mächtige Strebepfeiler, wie man ſie an
gothiſchen Kirchen ſieht, traten in gleichmäßigen Zwiſchen—
räumen aus der Maſſe des Berges hervor, als ob die zu—
ſammenſinkenden Mauern damit geſtützt werden ſollten. Als
wir um den „Church Butte“ herumfuhren, der eine halbe
Meile im Umfang war, vermehrte ſich unſer Erſtaunen
über die ſonderbaren Felsgebilde, womit die ſchaffende Natur
dieſen Wunderbau ausgeſtattet hatte. Wir meinten an den
Mauern ſeltſame Thiergeſtalten zu erkennen, und an einer
93
Stelle drängten ſich die zwölf Apoſtel, mit abgebrochenen
Beinen und Naſen, in einer Niſche zuſammen. Weiterhin
war ein Dach eingeſtürzt, und die Kapitäler zerbrochener
Säulen bedeckten den Boden; daneben lag ein Arm und die
Rieſennaſe eines Mönchs, der, in zerriſſener Kutte, unter
eine Säule gefallen war. Von einer zertrümmerten Orgel
ſtanden noch eine Anzahl Pfeifen da, und eine Kanzel ſchien
ziemlich gut erhalten zu ſein. Das Hauptſchiff war ganz
zuſammengeſtürzt, nur hie und da ſtand noch eine offene
Fenſterniſche, durch welche man den blauen Himmel ſehen
konnte. War nun der „Church Butte“, bei Tage geſehen,
ſchon ein Wunder in der Wüſte, welchen Eindruck mußte
er da in heller Mondnacht mit ſeinen geiſterhaften Ruinen
und Märchengeſtalten auf den Beſucher machen!
Der Kirchenfels.
Ein wüſter Tempel ragt empor
Im Weſt, an Wundern reich,
Wo ſich Dakota's Oede bleich
Ausdehnt zum Echothor.“
Durch's Bitterthal dein Weg dich führt,
Wo die Gebirge ſchau'n
Wie aſchenfarb'nes Todesgraun,
Von Wölfen Nachts durchſpürt.
Uinta blinkt im hellen Blau
Im Süd von Utah her,
Und um und um ein endlos Meer
Von Haide, dürr und grau.
* Der öſtliche Zugang von Echo Canon.
— ..
94
War'n thätig fleiß'ge Geiſterhänd'
Beim Bau des Tempels dort?
Fürwahr, ein ſeltner Schauerort
Für ſolch ein Monument!
Vor hunderttauſend Jahren ſtand
Allhier ein Rieſendom,
Davor die Peterskirch' in Rom
Wie eitler Spielwerkstand.
Der Ew'ge hat aus Chaos Leer'
Im Anfang ihn gebaut;
Doch wie ſein Tempel einſt geſchaut,
Weiß Niemand heute mehr.
Nur Trümmer, rieſenhaft zertheilt,
Zernagt vom Zahn der Zeit,
Sieht der beſtaubte Wand'rer heut',
Der durch die Wüſte eilt.
Zerbroch'ne Säulen, gelblich-braun,
Und Mauern, morſch und bloß,
Aus deren trümmervollem Schoß
Gigant'ſche Bilder ſchaun;
Wie betende Figuren bald,
Wie Ungeheuer hier,
Halb Menſchen gleich, halb wildem Thier
In fremder Urgeſtalt.
Die Kanzel an den Fels ſich ſchmiegt:
Der ſtolze Hochaltar
Mit alter Heil'genbilder Schar
In tauſend Trümmern liegt.
95 ( Er
Die Kuppel ragt im Sonne gol
Wie ein Gebirg' empor, —
Die mächt'ge Orgel, Rohr an Rohr,
Als ob ſie donnern ſollt'!
Ein Chor, durchbrochen einſt im Kranz
Von wunderbarem Fries, —
Der Mososachate ſelt'ner Kies
Beweiſt den alten Glanz! —
Wenn voll der Mond mit Silberſchein
Umſpielt die Trümmer ſacht,
Soll's um die ſtille Mitternacht
Hier nicht geheuer ſein.
Man hat geſehn, wie Bild auf Bild
Vom Felſen kam herab,
Und wanderte um's Tempelgrab,
In Trauer tief gehüllt.
Und dröhnte dann der Orgel Baß,
Als ob Niagara
Den Bau durchtobte, — wer ihm nah',
Entfloh, vor Schrecken blaß!
. 4 *
An den von allen Seiten aus dem „Church Butte“
ſo zu ſagen herausfließenden Strömen von pulveriſirtem
Sandſtein kann der Beſchauer leicht erkennen, wie jenes
ſeltſame Naturſpiel entſtanden iſt. Regen, Sturm, Froſt
und Hitze, und namentlich die in dieſer Gegend ſtetig wehen—
den, feine Sandtheile mit ſich fortführenden, heftigen Winde
haben die weicheren Beſtandtheile des Felſens allmählig
|
—— . ONE. u
96
fortgenagt, ihn gleichſam ausgemeißelt. Noch ein paar
Jahrhunderte, vielleicht nur Jahrzehnte, und jener Wunder—
felſen wird von der Erdoberfläche verſchwunden ſein. Ein
öder Sandberg wird die Stätte andeuten, wo einſt der ge—
waltige „Kirchenfels“ ſtand und die Reiſenden in Erſtaunen
geſetzt hat.! Aehnliche, wenn auch nicht in demſelben Grade
wie der „Church Butte“ merkwürdige Felsgebilde zeigen ſich,
wie oft erwähnt worden, weſtwärts vom Miſſouri bis nach
den Grenzen Californiens in erſtaunlicher Menge und Ab—
wechſelung. So einförmig die endlos ſcheinenden Steppen
und Salbeiwüſten ſonſt ſind, jene ſeltſamen Felsauswüchſe
geben ihnen einen immer neuen Reiz. Die meilenlangen
Felſenmauern, welche, oft eine über der andern, an den
Hügelkronen hinlaufen, bald wie künſtlich aufgeworfene
Dämme, mit Durchbrüchen in regelmäßigen Zwiſchenräumen,
bald wie Feſtungsmauern, mit Baſtionen, Cavalieren und
detachirten Forts ſich ausnehmend; jene natürlichen Säulen,
Pyramiden und Obelisken und die tauſend mehr Nonde—
* Die Pacific-Eiſenbahn nimmt ihren Weg ſieben engliſche
Meilen nördlich vom Church Butte. Wenn Robert von Schlag—
intweit (dem ich bei dieſer Gelegenheit meinen Dank für die freund—
liche Aufmerkſamkeit ſage, womit derſelbe meinen Namen in ſeinen
Werken öfters genannt hat) in ſeinem intereſſanten Buche „Die
Pacific-Eiſenbahn in Nordamerika“ (bei Eduard Heinrich Mayer,
Cöln und Leipzig 1871) bemerkt: — „daß man von der Eiſenbahn—
Station Church Buttes die Umriſſe einer rieſigen Cathedrale 2c.
hoch oben am Gebirge ſehe“ — ſo iſt dies ein doppelter Irr—
thum. Der „Kirchenfels“ liegt unter einer Reihe von niedrigen,
aus Sandſtein und Conglomerat gebildeten Hügeln auf einer flachen
Hochebene, und iſt von der Eiſenbahn gar nicht bemerkbar. Wie
der gegenwärtig in der Eiſenbahnſtation Church Buttes angeſtellte
Agent, Herr J. Leach, mir gütigſt mitgetheilt, zerfällt der „Kirchen—
fels“ in letzten Jahren ſehr ſchnell und hat jetzt faſt gar keine Aehn—
lichkeit mehr mit einer Tempelruine. Der Verf.
97
feripta, welche wie Runenringe und Monumente auf den
Hügeln thronen, oder wie halbzertrümmerte Rieſenwerke
der Urzeit auf den Ebenen und am Gebirge daſtehen, muß
man geſehen haben, um ſich eine richtige Vorſtellung von
ihnen machen zu können.
Doch die Zeit drängt zur Weiterreiſe! — Noch ein
paar hübſche Stücke Moosachat, zur Erinnerung an den
„Church Butte“, leſen wir auf, und dann haut der Kut—
ſcher auf die Gäule ein, der Rumpelwagen tanzt flott dahin,
und wir vergeſſen die Poeſie des in Staub zerfallenden
Wüſtentempels bei den unſanften Berührungen mit den
Kupfernägeln und eckigen Staatsdocumenten von Onkel
Sams Poſtſackkiſſen.
Die Sonne brannte heißer herab und bräunte uns
mehr und mehr. Die dichten Staubwolken, welche das
offene Gefährt umgaben, Augen, Naſe und Ohren mit feinen
Sandtheilen anfüllten und das Geſicht grau überzogen, gaben
uns das Anſehen von vergilbten, in dieſem verzauberten
Lande wieder zum Leben erſtandenen Mumien. Wenn wir
nach dem ſchneebedeckten Uinta-Gebirge hinüberblickten, wel—
ches uns in einer Entfernung von etwa fünfunddreißig engliſchen
Meilen zur linken Hand das Geleite gab, ſo konnten wir
nicht umhin, uns nach ſeinen Schneefeldern und ſchattigen
Thälern zu ſehnen und den Wunſch zu hegen, unſere bren—
nenden, beſtaubten Glieder in einem kühlen Waldbache baden
und den trockenen Gaumen mit friſchem Quellwaſſer netzen
zu dürfen. Der Gegenſatz zwiſchen der öden, ſonnver—
brannten Gegend, durch welche die Landſtraße führte, und
jener prächtigen Bergkette ließ die Salbeiwüſte doppelt
traurig erſcheinen
Als wir uns gegen Abend Fort Bridger näherten, ge—
wann die Gegend ein freundlicheres Ausſehen. Am Ufer
eines murmelnden Baches, der ſich wie ein luſtiger Wanderer
1
98
durch die Salbeiwüſte einen Weg ſuchte, erfreuten ſaftige
grüne Grasflächen das Auge. Auch einige canadiſche Pap—
peln bemerkte ich, die erſten Bäume, welche ich ſah, ſeit
wir Bridger's Paß verlaſſen hatten. Gegen Sonnenuntergang
zeigten ſich endlich die erſehnten Wohnhäuſer und Garniſons—
gebäude von Fort Bridger, und bald darauf galoppirte
unſer Viergeſpann über den großen Raſenplatz des „Forts“
nach dem Stations-Wirthshaus, wo wir ein angenehmes
Quartier fanden. Auf den beſouderen Wunſch ſämmtlicher
Paſſagiere telegraphirte der Agent der Stage-Compagnie
in Fort Bridger in unſerem Namen ſofort nach der Station
Weber und erſuchte den dort anſäſſigen Diviſionsagenten,
uns zu erlauben, hier bis zum nächſten Morgen raſten zu
dürfen. In zwei und einer halben Minute brachte der
dienende Blitz, welcher mittlerweile hundert engliſche Meilen
durcheilt hatte, die frohe Erwiderung: „permitted with
pleasure!“ — In Fort Bridger war es idylliſch, daß
man uns den Wunſch, daſelbſt ein wenig zu verweilen,
nicht verargen konnte. Der anſehnliche Militairpoſten, wo,
außer den dort garniſonirenden Truppen, mehrere dem Civil—
ſtande angehörige Familien in ſchmucken Privathäuſern
wohnten, lag in einer fruchtbaren Niederung, die von vier
Armen des Black Fork-Fluſſes durchſtr᷑ömt ward. Grüne
Wieſen, rauſchende Baumwipfel, Blumengärten, mur—
melnde Bäche und die ſilbernen Alpenwipfel von Ulinta
in der Ferne: — es war wie ein Zauberparadies in der
endloſen Salbeiwildniß, das wir, nach langer Entbehrung
aller jener Herrlichkeiten, wie eine Oaſe in der Wüſte be—
grüßten!
3. Die Cauons * in Utah.
Der ſechste Morgen des Maimonds war angebrochen,
der achte Tag unſerer Stagefahrt von Denver, und wir
rüſteten uns zur Weiterreiſe. Nur ungern ſagte ich dem
freundlichen Fort Bridger Lebewohl, wo wir, ſeit wir La
Porte am Fuße der Schwarzen Hügel verlaſſen hatten,
zum erſten Male wieder ein angenehmes Quartier und gute
Verpflegung fanden. Sogar Auſtern und eingemachte Früchte
erſchienen hier auf der Wirthstafel, als ſollte damit der
Beweis geliefert werden, daß ſolche Gerichte auch wirklich
auf der Ueberland-Route exiſtirten. Als Regel werden
dieſelben jedoch nur in Amerika berühmten Journaliſten und
Reiſenden aufgetiſcht, bei denen die Stage-Compagnie vor—
ausſetzt, daß ſie die noble Behandlung, welche ihnen wäh—
rend der Fahrt über den Continent zu Theil ward, in den
Landeszeitungen gebührend rühmen werden. Was die allen
Paſſagieren vor dem Antritt der Ueberland-Reiſe verſprochene
ſchnelle Beförderung in eleganten Concord-Kutſchen anbe—
trifft, ſo iſt dabei im Allgemeinen dieſelbe Regel wie bei
der Naturalverpflegung ſtichhaltend, wie der Leſer es von
den Rumpelwagen, Schmutzwagen, Schlitten und Käfichen
wohl ſchon gemerkt hat. Doch hört es ſich recht hübſch an,
wenn man z. B. erfährt, wie der Millionär Ben Holladay
|
* Sprich: Kénnyon — enges Thal — ein dem Spaniſchen
entlehntes Wort.
1
7 *
100
in ſechs und einem halben Tage von Salt Lake City nach
Atchiſon am Miſſouri fuhr und nur zwölf Tage und zwei
Stunden, ohne das eiſerne Roß zu benutzen, von San
Francisco dorthin unterwegs war.
Die Stagekutſcher, welche gern von ſolchen ſchnellen
Reiſen berichten, erzählen den Paſſagieren oft und mit
Stolz von der wilden Fahrt, womit einer von ihrer Gilde,
der berühmte Sechsgeſpannlenker Hank Monk weiland
den weltbekannten Horace Greeley über die Sierra Ne—
vada beförderte. Dieſem ging die Reiſe über den Con—
tinent (es war im Jahre 1859) immer noch zu langſam,
obſchon man überall auf der Linie für friſchen Vorſpann
und die beſten Renner geſorgt hatte. Er befand ſich ge—
rade in dem damaligen Territorium Nevada und bemerkte
zu dem Kutſcher, daß man ihn zu einer beſtimmten Stunde
in einer kleinen californiſchen Stadt jenſeits der Sierra
erwarte, in der er eine Rede halten ſolle; er würde
aber ſicherlich die dort angeſagte Vorleſung verſäumen, falls
die Reiſe in einem ſolchen Schlendrian weiter ginge. Hank,
der den mürriſchen Philoſophen dazumal in Obhut hatte,
ſpannte bei der nächſten Station ſechs wilde Muſtangs vor
und rief Herrn Greeley zu, als er die Zügel ergriff und
auf die Renner einhieb: „Keep your seat, Mr. Greeley,
we'll get yon there on time!“ (bleiben Sie nur ruhig
ſitzen, Herr Greeley, wir werden Sie ſchon zur rechten Zeit
hinbringen). — Die Straße war hier eine der felſigſten
und gefährlichſten auf der ganzen Ueberland-Route; aber
darum kümmerte ſich Hank Monk gar nicht. In ſauſender
Carrierre jagte er bergauf und bergab, in kurzen Wendungen
um vorſpringende Felswände herum und am Rande tiefer
* Gegenwärtig legt man diefelbe Strecke auf der Pacifiebahn
in regelmäßig vier Mal vierundzwanzig Stunden zurück.
101
Abgründe entlang, ohne auf die großen Steine im Wege
zu achten, gegen welche die Kutſche jede Minute mit den
Rädern anrannte, ſo daß dieſelbe wie ein Schiff in hohler
See wankte und ſchwankte und jeden Augenblick entſetzliche
Sätze machte.
Greeley, welcher ganz allein in der Stage ſaß, machte
die verzweifeltſten Anſtrengungen, ſeinen Sitz zu behaupten.
Vergebliche Mühe! Von einer Ecke des Wagens in die andere
ward er geſchleudert und ſtieß bei jedem Sprung, den die
Kutſche machte, mit dem Kopfe gegen die Wagendecke. An
einer etwas weniger rauhen Stelle auf der Landſtraße
rief Horaz dem Kutſcher ängſtlich aus dem Wagenfenſter
zu, daß er nicht ſo große Eile habe, worauf dieſer ganz
ſarcaſtiſch erwiederte: „Bleiben Sie nur ruhig ſitzen, Herr
Greeley, wir werden Sie ſchon zur rechten Zeit hinbringen!“
— und weiter ging's in noch raſenderer Eile, und Hank
peitſchte auf die Muſtangs los und ſtimmte dabei ein india—
niſches Schlachtgeheul an, daß es dem friedlichen Welt—
weiſen bei dem wilden Gejauchze und den unaufhörlichen
Knuffen und Stößen in der Stage förmlich grün und gelb
vor Augen wurde. Als Hank auf die Minute in dem
Städtchen anlangte, wo Herr Greeley ſeine Rede halten
wollte, ſoll der dazumal halb geräderte Horaz mit ſeinem
ganz demolirten weißen Cylinderhut eine gottsjämmerliche
Figur geſpielt haben. Doch war er klug genug, die wilde
Stagefahrt als einen guten Scherz hinzunehmen. Als Hank
Monk ſpäter einmal mehrere Paſſagiere auf ähnliche Weiſe
über dieſelbe gefährliche Gebirgsſtraße beförderte, ſchenkten
ihm dieſe eine ſilberne Uhr mit dem darauf gravirten Spruch:
„keep your seat ete.““ —, und das von Greeley erlebte
Abenteuer iſt auf der Ueberland-Stageroute hiſtoriſch be—
rühmt geworden, — wir reiſ'ten jedoch nicht auf eine ſolche
barbariſche Weiſe, ſondern mehr nach dem Motto: „Nur
102
immer langſam voran!“ Doch hatten wir den Vortheil da—
von, Land und Leute gründlich kennen zu lernen. Eine
Geſchwindreiſe in eleganten Concord-Kutſchen, wie ſie Ben
Holladay, Colfax, Greeley und andere über den Continent
gemacht haben, wobei unterwegs in Saus und Braus ge—
lebt wird und nur die Lichtſeiten des Landes durch ge—
ſchliffene Champagnergläſer geſehen werden, hat gewiß ihre
ſehr angenehmen Seiten; aber eine richtige Vorſtellung von
den Culturzuſtänden im fernen Weſten können berühmte
Männer in Amerika auf ihren Ausflügen unmöglich erlangen,
außer ſie beſehen ſich das Land incognito und reiſen wie
andere gewöhnliche Sterbliche. —
Hinter uns lag die Oaſe von Fort Bridger und wir
ſteuerten wieder hinaus in eine öde Gegend, welche je—
doch nicht mehr paſſend als eine Wüſte bezeichnet werden
konnte. Grüne Grasflächen wechſelten mit den Schnee—
feldern ab, und ab und zu paſſirten wir kleine Hölzungen
von niedrigen Cedern. Die Hügel waren theilweiſe be—
waldet, ſelbſt die Salbeibüſche wuchſen üppiger und nahmen
eine mehr grünliche Farbe an. Linker Hand begleitete uns
noch immer das ſchöne Uinta-Gebirge, während die Wind—
fluß⸗Berge wie weiße Wolken weit hinter uns am Horizonte
lagen. Das Wetter war wunderſchön und in dieſer hoch—
gelegenen Gegend, trotzdem die Sonne aus wolkenloſem
Himmel ihre Strahlen herabſandte, angenehm kühl. Wir
befanden uns hier noch immer 6000 bis 7000 Fuß über
dem Meeresſpiegel und näherten uns, über zerriſſene Pla—
teaus fahrend, den Ausläufern der Waſatch Berge, der öſt—
lichen Waſſerſcheide des großen Salzſee-Beckens. Unter den
oft ſeltſam geformten „Buttes“ führte einer den Namen
„Die Rennbahn“ (race course), ein runder ringsum ſteil—
abfallender Felsberg, deſſen ganz glatter Gipfel an ſeinem
äußeren Rande genau eine engliſche Meile im Umfang hat,
103
— ein natürlicher, regelrecht angelegter Hippodrom. Zu
beiden Seiten der Landſtraße lief eine doppelte Reihe von Tele—
graphenpfählen hin, die eine die Denver- und die andere
die Fort Laramie-Linie. Dicht neben uns fand fortwährend
unſichtbar der Gedankenaustauſch zwiſchen dem Oſten und
Weſten dieſes ungeheuren Continents ſtatt, und obgleich
wir ſeit Wochen nur gelegentlich und in weiten Zwiſchen—
räumen eine einſame Station paſſirt hatten, befanden wir
uns doch hier, mitten in der Wildniß, ſtets in unmittel—
barer Nähe des geiſtigen Verkehrs der Menſchheit; für—
wahr! ein Gedanke, der zum etwas Stolzſein auf die Zeit,
in welcher wir leben, wohl ſeine Berechtigung hatte.
Wir kamen nun in ein entſetzlich felſiges Land, das
voll von iſolirten Bergrücken, engen Schluchten und tiefen
Thälern war. Viele Hügel hatten ein röthliches Ausſehen
und manche von ihnen waren ſtellenweiſe mit weißer Thon—
erde bedeckt, als ob Schnee auf ihnen läge. Fichten und
Zitter-Espen (quaking asp) bildeten den Hauptbaumwuchs
in dieſer Gegend. Das dunkelgrüne Laubwerk jener Bäume
und die rothen und weißen Felſen, untermiſcht mit Schnee—
feldern und gelblich grünem Salbeigeſtrüpp, gaben äußerſt
bizarre Farbenſchattirungen. Wilde Berggewäſſer rauſchten
in kurzen Zwiſchenräumen über die Landſtraße, und der
Weg wurde furchtbar rauh und ſteinig. Nicht ſelten waren
wir Paſſagiere gezwungen, neben dem Rumpelwagen zu
marſchiren, namentlich an den mit wüſtem Felsgeröll be—
deckten Bergabhängen, welche der Wagen langſam und
ſchwankend, den Hemmſchuh an den Rädern, mehr gleitend
als rollend hinabfuhr. Oefters mußten wir auf meilen-
langen Strecken eine beſſere Straße ſuchen und fuhren über
halbzerſchmolzenen Schnee, wobei die Räder das, einen pi—
kanten Salbeiduft verbreitende Sagegeſtrüpp zerquetſchten.
Im Wagen verſchoben ſich auf den rauhen Wegen, nament-
104
lich beim Bergabfahren, das Gepäck und die Poſtſack-Sitze
faſt fortwährend. Es war zum Verzweifeln, auf dem
Rumpelwagen ſo durcheinander geſchleudert zu werden,
wenn nicht gar, wie mehrere Male geſchah, der Wagen
umwarf und wir nebſt Gepäck und Poſtſäcken in intereſſanter
Gruppirung zwiſchen Felsblöcken, Schnee und Sage-Ge—
ſtrüpp ein plötzliches Unterkommen fanden.
Gegen Mittag erreichten wir den Bärenfluß, welcher
ſich in den großen Salzſee ergießt. Am Fuße einer ſteilen
Felsterraſſe floß zwiſchen Weiden und canadiſchen Pappeln
der gegen vierhundert Fuß breite Strom durch ein enges
Thal, die Terraſſen waren mit grünem Graswuchs bedeckt,
und darüber erhoben ſich baſtionenartig die rothen Felſen:
ein außerordentlich romantiſches Bild! Wir hatten jetzt die
Kette des Waſatch-Gebirges erreicht und befanden uns be—
reits in ſeinen öſtlichen Ausläufern. An verſchiedenen
Stellen wird jener Bergzug von langen und tiefen Quer—
thälern, Casſons genannt, durchſchnitten, den natürlichen
Zugängen zum Becken des großen Salzſees. Rechter Hand
erhob ſich eine Kette von Schneebergen, vor uns öffneten
ſich die Cafions, in denen der Schnee noch tief gehäuft lag.
Goldige, blaue und weiße Sternblümlein, hellrothe Ver—
benen und große glänzend gelbe Sonnenblumen wuchſen
hart an den Schneefeldern, und manche bunte Blume ſchaute
aus der kühlen weißen Decke zum blauen Himmel empor.
Hier ſtanden, in geringer Entfernung vom Wege, die ge—
waltigen „Nadelſelſen“ (needle rocks), mächtig aufgebautes
Conglomeratgeſtein, das ſich in der That ſeltſam ausnahm.
Unter den ſcharfen Felszacken, welche in langer Reihe ſchräge
übereinander lagerten, oder umgeſtürzt am Berghange da—
lagen, zeigten ſich halbzerſtörte Figuren, wie Nachbildungen
von rieſigen Thiergeſtalten, Katafalken, offenen Särgen, mit
lebloſen Mönchen darin, und anderen der Wirklichkeit täuſchend
105
ähnlichen Wunderdingen, welche Wind und Wetter aus dem
langſam zerbröckelnden Geſtein geſchaffen hatten.
Jetzt fuhren wir auf abſchüſſigem Wege hinunter zum
Gelben Bach (yellow creek). Schneebänke, rauſchende
Gebirgswaſſer und dicht emporwirbelnde Staubwolken, —
Alles war hier dicht beieinander! Während der Wagen
den jenſeits des Thales liegenden ſteilen Berg mühſam
hinanwankte, eilten wir männlichen Paſſagiere demſelben zu
Fuß voran und erreichten den Gipfel, als gerade die Sonne
unterging. Noch nie hat mich eine Rundſchau mehr über—
raſcht, als auf jener Höhe, denn wir waren nur deshalb
den Berg hinangeſtiegen, um den Pferden das Ziehen des
Wagens zu erleichtern, und hatten keine Ahnung davon,
dort oben eine beſonders ſchöne Ausſicht zu treffen. In
ungeheurem Bogen umſpannten den ganzen Geſichtskreis
ſcharfgezackte, mit Schnee gekrönte Gebirgskämme, die von
einander abgeſondert liegenden Ketten und Ausläufer der
Waſatch-Berge; und alle Schneegipfel blinkten im Lichte der
untergehenden Sonne, wie vergoldet. Die tauſend von
einander getrennten Schneefelder, welche durch dunkle Wälder
und ſchwarze Landſtriche ſcharf geſchieden waren, ließen die
tiefer liegende Gegend ſchwarz und weiß gewürfelt erſcheinen,
— ein ungeheures Schachbrett, das einen ganz ſeltſamen
Anblick bot. Nirgends war von Cultur die geringſte Spur
zu entdecken, die ganze Gegend ſah ſo urwild wie nur ir—
gend denkbar aus. In weiter Ferne zeigte ſich vor uns
die lange hellrothe Linie der Felſen von Echo Canon.
Die Sonne war bereits untergegangen, als wir beim
Zwielicht des aufgehenden Mondes um neun Uhr Abends
den Eingang jener herrlichen Thalſchlucht erreichten. Un—
merklich hatte ſich das Terrain während unſerer letzten
zwei Tagereiſen geſenkt, und hier, 5535 Fuß über dem
Meeresſpiegel, war die Luft milde und lau wie in einer
106
Sommernacht. Im Mondſchein fuhren wir auf offenem
Wagen langſam durch dieſes romantiſchſte Felsthal in der
neuen Welt, das nicht mit Burgen und Schlöſſern ge—
ſchmückt iſt, ſondern, wie die Natur es geſchaffen hat, den
Wanderer entzückt.
Echo Kafion, welches mit feinen Fortſetzungen, dem
Silberbach- und Parley's Canon, von Oſten den Haupt—
verbindungsweg nach dem Baſſin des großen Salzſees bildet,
iſt ein gegen dreißig engliſche Meilen langes gewundenes
und enges Felsthal, daß ſich in nordweſtlicher Richtung
nach dem Weberfluſſe erſtreckt. An ſeiner Nordſeite ragen
die meiſtens ſenkrecht abfallenden Felſen dreihundert bis
fünfhundert Fuß hoch empor. Dort haben die in dieſer
Gegend vorherrſchenden heftigen Südwinde dem Geſtein ein
verwittertes Ausſehen gegeben, mit nur ſpärlich darauf
wachſender Vegetation, wogegen an der Südſeite die vor
Wind und Wetter mehr geſchützten Berge gewölbt und mit
Gras und Strauchwerk bedeckt ſind. Durch das Thal fließt,
in oft zwanzig Fuß tief eingeſchnittenem Bette, ein Ge—
birgsbach, der ſeinen Lauf bald auf der einen, bald auf der
andern Seite deſſelben nimmt. Weiden und Büſche ver—
decken nicht ſelten ſeine klare Fluth. Die rothen Felſen
an der Nordſeite ſind von zahlreichen Querſchluchten durch—
brochen und folgen einander wandartig, indem das weichere
Geſtein zwiſchen dem härteren allmählig zerbröckelt und von
Regengüſſen fortgeſchwemmt wurde. Die ſtehen gebliebenen
Felſen find meiſtens Conglomerat. Mitunter ſpielen die—
ſelben in's Weißliche und Hellgelbe, in der Regel aber ſind
fie ocherroth und bilden dabei die ſeltſamſten Figuren: na=
türliche Feſtungswerke, Pyramiden, Obelisken, Minarets,
Pagoden, Thürme, Säulen, Porticos ꝛc. An jedem vor—
ſpringenden Winkel wird das Auge durch eine neue impo—
ſante Scenerie überraſcht.
107
Langſam fuhren wir durch das romantiſche Felsthal,
welches im unbeſtimmten Mondlichte einen wunderbaren An—
blick gewährte. Auf den gewölbten Höhen an der Süd—
ſeite lag der Schnee noch ſtreifenweiſe auf dem dunklen
Grunde, aus deſſen oft ſeltſam verſchnörkelten Figuren wir
allerlei Urweltungeheuer erdichteten, während die blutrothen
Felsabhänge an der anderen Seite des Thales unheimlich
herabſchauten. In der Tiefe brauſ'ten friſch geſchmolzene
Schneewaſſer und erfüllten die Schlucht, wo ſich dieſelbe
verengte, mit dumpfem Getöſe. Wir ſtimmten laute Ge—
ſänge an und riefen zahlloſe Hurrahs, um der plauderhaften
Schönen, nach welcher das Kanon feinen Namen genommen
hat, ein Lebenszeichen zu entlocken. Vergebliche Mühe!
Obgleich wir, mit einander abwechſelnd, uns die ganze
Nacht hindurch die Kehlen heiſer ſchrien, erzielten wir
doch nicht den geringſten Erfolg. Bei einem alten Biber—
damme, an welchem die Fluthen des Bachs aufgeſtaut wa—
ren, ſtiegen wir männlichen Paſſagiere aus, um den Wagen
zu erleichtern, kletterten an der ſüdlichen Thalſeite etwa
hundert Fuß hoch durch Buſchwerk und über Felsgeröll eine
halbe Meile weit an der überſchwemmten Stelle vorbei und
ſprangen ſchließlich mit kräftigem Zulauf über den ge—
ſchwollenen Bach auf den Fahrweg zurück, — im Halb—
dunkel der Nacht eine keineswegs angenehme Paſſage!
Jenſeits der Halbwegſtation „Echo“, die wir nach
Mitternacht paſſirten, verengte ſich das Thal, die Fels—
wände ragten höher und immer phantaſtiſcher empor, und
eine dichte Vegetation von Schilf, Gräſern und Strauch-
werk überwucherten den Bach. An dieſer Stelle hatten die
Mormonen im Jahre 1857 Befeſtigungswerke gegen die
Armee der Vereinigten Staaten errichtet, welche die wider—
ſpenſtigen „Heiligen“ zur Raiſon bringen ſollte. Die Forti—
ficationen beſtanden aus oben am Berge angelegten Bruft-
108
wehren, aus Dämmen quer über das Thal, welche das
Waſſer des hindurchſtrömenden Baches ſtauen ſollten, und
aus Haufen von loſen Steinen an den Abhängen, womit
man die freundliche Abſicht hatte, Onkel Sam's Myrmidonen
die Hirnſchädel einzuwerfen. Ein paar hundert Scharf—
ſchützen hätten jedoch dieſe „Thermopylen der Heiligen“
leicht von den jenſeitigen Höhen unhaltbar machen oder um—
gehen können. Während des Mormonenkrieges fand
ein intereſſantes Intermezzo in Echo Canon ſtatt, als der
vom Präſidenten der Vereinigten Staaten zum Gouverneur
von Utah ernannte Herr Cummings bei Nacht durch dieſen
Paß nach Salt Lake City reiſ'te, um dort mit Brigham
Young Unterhandlungen anzuknüpfen. Die Mormonen
ſetzten jenen friedliebenden Beamten durch die bedeutende
Heeresmacht in Schrecken, welche fie in Echo Gafion ent—
falteten. Jede halbe Meile kam er bei einer neuen Ab—
theilung von Mormonen-Grenadieren vorbei, die von ihren
Officieren mit verſchiedenen Regimentsnummern bezeichnet
wurden, deren Stärke ſich der „Governor“ insgeheim notirte.
Feuer brannten auf den Felshöhen, aufſteigende Raketen,
Signalſchüſſe und Werdarufen wollten kein Ende nehmen,
und Herr Cummings ward von Poſten und Feldwachen, die
ihn nicht paſſiren laſſen wollten, halbſtundenlang examinirt.
In Folge deſſen brachte er eine hohe Meinung von der Macht
der Mormonen mit ſich nach Salt Lake City, was ſich dieſe
bei den bald darauf folgenden Friedensunterhandlungen
nach Kräften zu Nutze machten. Die große Kriegsmacht
der Mormonen in Echo Caſion beſtand aber aus nicht mehr
und nicht weniger denn einhundertfünfzig Mann, welche die
Generäle der „Heiligen“ bei jedem Aufenthalte des Herrn
Cummings ſchnell auf Wagen das Thal hinunter beför—
derten, um als neue Heerſchaar und unter einem neuen
Namen dem „Governor“ wieder zu imponiren.
109
Bei Tagesanbruch paſſirten wir die romantiſchſten Fels—
abhänge in Echo Cafion, die ſich in rothen Maſſen ge-
waltig emporthürmten und oft faſt über unſern Köpfen
hingen. Zahlreiche Elſtern und Raben hatten ſich in dieſem
Theile der Thalſchlucht an den Felswänden eingeniſtet und
antworteten uns krächzend und ſchreiend, als wir ſie mit
lautem Hurrah vom Morgenſchlummer aufſtörten. Aber
Fräulein Echo blieb ſchweigſam. Beim Weberfluſſe
öffnete ſich das Thal. Uns zur Rechten thürmten ſich dort
die letzten Felsmauern von Echo Cafon empor, unter denen
der „Kanzelfels“ (pulpit rock) mit ſeiner rieſigen röthlichen
Steinbrüſtung beſonders prächtig hervortrat.
Echo Canon.
Ein Engpaß liegt im Utahland,
In wilder Einſamkeit;
Die rothen Felſen meilenweit
Steh'n thurmhoch, Wand an Wand.
Wie war es doch ſo anders hier
Vor fünfzig Jahren noch,
Als Echo fröhlich rufend zog
Durch's rothe Felsrevier!
Kein Lärmen, Schießen und Halloh
Wie jetzt, Tag aus, Tag ein;
Kein Roſſeſtampfen, wildes Schrei'n
Von Kutſchern, wüſt und roh!
Zu jener Zeit kam oft in's Thal
Ein Häuptling, ſtolz und kühn;
Nicht ſchreckten in der Wildniß ihn
Gefahren ohne Zahl.
110
Vom Felsgebirge kam er her,
Wo blinkt der ewge Schnee,
Und zog zum blauen ſalz'gen See,
Zum landumſchloſſ'nen Meer.
Sein Weg lag durch den rothen Grund,
Wo ſie, der Mädchen Pracht,
Wie Minnehaha ſilbern lacht
Mit loſem Schelmenmund.
Drum hatt' er prächtig ſich geſchmückt,
Als wollt' zur Schlacht er ziehn,
Mit Farben, gelb und roth und grün,
In Linien, kunſtgeſchickt.
Auf ſteiler Felswand ſaß allein
Das holde Kind. — „O komm'!“ —
So rief der Krieger laut — „O komm'!“
Ruft's bald, wie Glöcklein fein.
Doch kam er näher, ſchnell entflieht
Des Mädchens Lichtgeſtalt.
Sein Ruf am leeren Fels verhallt;
Die Maid er nimmer ſieht.
Und was er ſagte Wort für Wort,
Sie ſpricht's ihm nach, vielmal,
Und folgt ihm ungeſehn durch's Thal
Zum letzten Felſen dort.
Und ging er weiter, ſah zurück,
Da ſaß im rothen Kleid
Auf hohem Kanzelfels die Maid
Mit ſchelmiſch frohem Blick.
111
Und rief er dann ein laut: „Lebwohl!
Du liebe Maid, lebwohl!
So rief fie leiſ' ihm nach: „Lebwohl! —
Lebwohl! — Lebwohl! — Lebwohl!“
Der weißen Männer Lärmen trieb
Hinweg das frohe Kind;
Die Felſen ſtumm geworden ſind
Und nur der Name blieb.
Wohl ſtehn ſie wie im Morgenroth
Noch immer herrlich dort;
Jedoch die Poeſie iſt fort
Und jeder Fels iſt todt.
Und noch der Bach im kühlen Grund
Schwatzt gern von alter Zeit;
Mir hat von jener Echomaid
Erzählt ſein Silbermund.
Die Stageſtation „Weber“ hatte eine idylliſch-roman—
tiſche Lage. An der einen Seite war der weſtliche Zugang
von Echo Canon mit feinen gewaltigen rothen Felsmauern;
die andere Seite umkränzten Gartenanlagen, grüne Wieſen
und eingehegte Felder. Dicht hinter den Gebäuden ſtrömte
der reißende Weber (ſprich: Wieber), nach dem Bear River
der größte ſich in den Salzſee ergießende Fluß, und lie—
ferte den Stationsleuten einen unerſchöpflichen Vorrath
von köſtlichen Forellen. Meinem Freunde Wonderful ge—
fiel es hier ſo gut, daß er mit dem Wirthe in allem Ernſte
den Kaufpreis der Stationsanlagen beſprach. Auf dem
„Kanzelfels“ wollte er ein Bierhaus erbauen und Echo
112
Caſion reizend verſchönern ꝛc. — Es bedurfte aller Logik
des Miſter Eiſack, dem es um den Verkauf ſeiner Gold—
minen in Montana bange ward, um feinem excentriſchen
Reiſegenoſſen dieſe unpractiſchen Pläne wieder auszureden.“
Bei herrlichem Wetter fuhren wir weiter, zunächſt im
Thale des Weber. Linker Hand lagen grüne gewölbte
Berge, deren Gipfel theilweiſe noch mit Schnee bedeckt
waren, rechts floß der wilde Weber zwiſchen Wieſen und
wohlbeſtellten Feldern. Wir kamen jetzt durch eine Reihe
von blühenden Mormonenniederlaſſungen, worunter das
Städtchen Coalville, das ſeinen Namen nach einigen in ſeiner
Nähe liegenden Kohlengruben führt.** Wieſenlerchen zwit—
ſcherten ihren frohen Morgengeſang und die Menſchen
grüßten uns alle herzlich und freundlich. Zahlreiche Berg—
gewäſſer ſtrömten quer über die ſonſt wohlgehaltene Land—
* Die Pacific-Eiſenbahn folgt, nachdem ſie Echo Canon ver—
laſſen hat, dem Laufe des Weberfluſſes bis zum Baſſin des großen
Salzſees und tritt durch das wild-romantiſche „Teufelsthor“ aus
dem Waſatch-Gebirge in die Niederung, wo ſie bald darauf die
Stadt Ogden erreicht. Salt Lake City, welches mit Ogden durch
ein Nebengeleiſe verbunden iſt, 40 Meilen hinter ſich laſſend, läuft
die Eiſenbahn (von hier an die Centralpacific genannt) nordwärts
und im großen Bogen nach Nordweſt um den großen Salzſee,
bis ſie ſich an ſeinem nördlichen Ende wieder direct nach Weſten
wendet. Die alte Stageroute führte von Echo Canon erſt eine
Strecke durch das Thal des Weber, dann in ſüdlicher Richtung
durch das Silberbach- und Parley's Canon nach Salt Lake City.
*. Die Wichtigkeit jener Kohlenablagerungen, welche eine Mäch—
tigkeit von 26 Fuß haben, iſt, namentlich in Folge der in neuerer Zeit
entdeckten reichen Silberminen im Territorium Utah, von großer
Tragweite geworden, da der Koſtenpunkt des Bearbeitens der Erze
durch die Nähe eines billigen Feuerungsmaterials bedeutend ver—
ringert wird. In der Nähe von Salt Lake City find Schmelz- und
Reductionswerke entſtanden, welche die aus jenen Gruben geförderten
Kohlen vortheilhaft verwenden.
113
ſtraße nach dem Weber hinüber. Einen Bach überſchritten
wir auf einer Strecke von acht engliſchen Meilen dreizehn
Mal. Aus einem Thor von hellrother Thonerde brach er
links vom Wege brauſend aus dem Gebirge hervor.
Wir gelangten jetzt in das „Silberbach Caſion“
(silver creek cafion), eine enge gewundene Thalſchlucht,
in deren Mitte ein brauſender Bach, der mehrere Säge—
mühlen trieb, zwiſchen Weiden hinſtrömte. Jedes zum An—
bau geeignete Fleckchen Erde hatten die fleißigen Mormonen
hier, oft durch Anwendung koſtſpieliger Irrigation, unter
Cultur gebracht. Die dicht auf einander folgenden Cafions
wurden von nun an immer enger und felſiger, und der
Weg verſchlechterte ſich zuſehends. Derſelbe war aus der
Böſchung des Berges herausgeſchnitten und ſo ſchmal, daß
das äußere Rad unſeres Rumpelwagens oft beinahe den
Rand des Abhanges berührte. An einer ſolchen Stelle be—
gegneten wir einem mit zehn Joch Stieren beſpannten Fracht—
wagen und waren gezwungen, unſer Fuhrwerk eine viertel
Meile weit zurückzuziehen, um jenem an einem breiteren
Platze Gelegenheit zu geben, an uns vorüber zu fahren.
Da der im Thalgrund fließende Bach mitunter hoch an—
ſchwillt und den Weg überfluthet, ſo war für ſolche Fälle
eine zweite Landſtraße, etwa hundert Fuß höher und ſpa—
rallel mit der unteren, am Berge entlang gebaut, die wegen
ihrer gefährlichen Lage aber nur bei Hochwaſſer benutzt
wird. Bergrutſche ſind in dieſem Engpaß häufig und rich—
ten oft großen Schaden an. Das Geröll aus Sandſtein
und Kreide, welches die oberen Gebirgsſchichten bildete,
hatte ſich feſt verkittet und trat öfters in ſeltſamen Figuren
zu Tage.
Endlich öffnete ſich die Thalſchlucht und wir traten
hinaus auf ein baumloſes, rings von Schneebergen um—
kränztes Plateau, den Parley's Park. Die Gegend ſah
8
114
hier ganz winterlich aus und es gehörte nicht viel Phan—
taſie dazu, ſich plötzlich in den Januarmond verſetzt zu
wähnen. Der Weg durch dieſen „Park“, dem zum Parke
weiter nichts als die Bäume fehlte, durch Schnee, Moraſt
und Salbeigeſtrüpp, war beinahe bodenlos. Da die Pferde
den Wagen nicht weiter zu ziehen vermochten, ſo mußten
wir Paſſagiere, mit Ausnahme der Mormonenfrau und
ihres Knaben, ausſteigen und wieder einmal eine kleine aber
geſunde Spaziertour von etwa zwei engliſchen Meilen über
die im Schmelzen begriffenen Schneefelder machen. Um
uns vor dem hellen Sonnenſcheine zu ſchützen, der, von dem
weißen Schnee reflectirend, uns faſt blind machte, ſchwärzten
wir uns auf den Rath meines Freundes Wonderful gegen—
ſeitig die Augenlider, und zwar mit Patent-Stiefelwichſe,
welche Miſter Eiſak, der gern den Eleganten ſpielte, ſtets
in der Weſtentaſche bei ſich führte. Der ſchwarze Farbe—
ſtoff, welcher die blendenden Sonnenſtrahlen zum Theil ab—
ſorbirte, gab unſeren Sehnerven ſofort Erleichterung; aber
wir ſahen eher einer Bande von Straßenräubern, als einer
lebensmüden Geſellſchaft von Ueberland-Reiſenden ähnlich.
Gegen Mittag hatten wir endlich die Schneefelder auf dem
baumloſen Park überſchritten und erreichten mit frohem
Herzen das ſtattliche Wohnhaus des Mormonenpaſcha's
Wilhelm (Bill) Kimball, wo wir mit unſeren Banditen—
geſichtern zuerſt unter dem Frauenvolk einen nicht geringen
Schrecken erregten. Mit Hülfe von etwas Seife und war—
mem Waſſer verſchwand jedoch die Patent-Stiefelwichſe bald
wieder von unſeren Augenlidern, ſo daß wir bei dem uns
aufgetiſchten ſuperben Mahle wie ehrliche Menſchenkinder
unſer Erſcheinen machen konnten.
Wilhelm Kimball, kurzweg Bill genannt, ein Sohn
des Mormonenälteſten Hebert C. Kimball, war in dem
Staate Newyork gebürtig und wohnte hier auf ſeiner Farm
115
in einem großen Steingebäude, welches er ſich im vers
gangenen Jahre mit einem Koſtenaufwande von zwölftauſend
Dollars gebaut hatte. Er war ein vierſchrötiger aber gut—
müthig ausſehender Burſche, mit einem wahren Stiernacken:
ein entſchiedener Verehrer ſowohl von Gott Bacchus als
von der Venus Amathuſia. Als Whiskytrinker hatte er in
Salt Lake City einen bedeutenden Namen. Von ſeinen
fünf Gemahlinnen lebten zwei bei ihm auf der Farm zu
Hauſe, die dritte und vierte hatte er der Bequemlichkeit
halber in zwei anderen Ortſchaften des Territoriums Utah,
die fünfte in Salt Lake City untergebracht, wo er ſie auf
ſeinen Reiſen gelegentlich beſuchte. Die Tochter einer der
beiden auf der Farm wohnenden Frauen, ein ſchmuckes vier—
zehnjähriges Mädchen, wiegte in der Gaſtſtube das Kind
ihrer in Salt Lake City anſäſſigen Rivalin. Ein kleiner
„Bill“ erzählte mir im Pferdeſtall, wo ich durch die Pfeffer—
nüſſe in meinem Proviantkaſten bald mit ihm vertraut ge—
worden war, daß er zehn Brüder und acht Schweſtern
habe. Durch die mit uns reiſende Mormonendame er—
fuhren wir, daß die eine der beiden Hausfrauen Arbeits—
drohne ſei, während ihre Genoſſin im ehelichen Bande ſich
die Zeit im Schaukelſtuhle mit Romanleſen vertreibe und
ſehr glücklich wäre. Uns Paſſagieren gelang es nicht, die
beiden Madams Kimball von Angeſicht zu Angeſicht zu
ſchauen. Dem Herrn Wonderful, der mit Gewalt in's
Parlor dringen wollte, um Madame Nr. 1 (der im Schaufel-
ſtuhle) ſeine Aufwartung zu machen, ſchlug der alte Bill
die Stubenthüre grober Weiſe vor der Naſe zu.
Wilhelm lebte recht comfortabel und hatte alle Ur—
ſache mit ſeinem Loos als Mormone zufrieden zu ſein.
Auf der Farm ſah es wie in einem wohlhabenden kleinen
Dorfe aus, deſſen Herrenſitz Bill's Wohnhaus vorſtellte.
Es war eine Freude, die prächtigen von Getreide und
8 *
116
Heu ſtrotzenden Scheunen zu betrachten! — Da die Stage,
welche uns weiter bringen ſollte, noch nicht von Salt Lake
City angelangt war, ſo benutzten wir die Zwiſchenzeit zu
einem Mittagsſchläfchen auf duftendem Heuboden, nach den
vielen ſchlafloſen Nächten für uns ein wahrer Hochgenuß!
— Um vier Uhr Nachmittags weckte man uns. Der
Rumpelwagen war da, deſſen hohläugige Inſaſſen haar—
ſträubende Schilderungen über den entſetzlichen Zuſtand der
Landſtraße zwiſchen hier und Salt Lake City machten.
Sieben Mal ſeien ſie während der letzten vier Stunden
umgeworfen! Von Bill Abſchied nehmend, nahmen wir mit
ſchwerem Herzen unſere Sitze auf den Poſtſäcken wieder
ein und kutſchirten der großen Salzſeeſtadt entgegen.
Der Weg über die Waſatchberge war in der That
ein entſetzlicher, und dieſer Abſchnitt unſerer Ueberland—
Reiſe ſchlimmer als alle vorherigen. Der Schnee war im
ſchnellen Schmelzen begriffen, und brauſende Gewäſſer floſſen
in allen denkbaren Richtungen querfeldein und über die
Landſtraße, durch welche ſie an vielen Stellen förmliche
Abgründe gewühlt hatten. Jede zehn Minuten blieb der
Wagen ſtecken und warf halb um, und alle paar hundert
Schritt mußten wir denſelben aus dem tiefen Schnee los—
ſchaufeln. Halbſtundenlang wateten wir, oft bis an den
Leib durch weiche Schneebänke, oder liefen verzweifelt über
halbzerſchmolzene Eiskruſten, die faſt bei jedem Schritt, den
wir thaten, unter uns einbrachen. Die acht Meilen von
„Bill's“ bis zum „Summit“ (der Paßhöhe über das
Waſatch-Gebirge) ſpotteten jeglicher Beſchreibung. Die wilde
Gebirgslandſchaft, mit den chaotiſch darin zerſtreuten rieſigen
Felsblöcken, den jähen Abhängen und herrlichen Pechtannen
(spruce trees), hätte mich in anderen Verhältniſſen des
Lebens entzückt, aber bei dieſen Spaziergängen durch drei
bis fünf Fuß tiefen Schnee ſank in meinen Augen alle
117
Natur-Romantif bis tief unter den Gefrierpunkt der Be—
geiſterung. Oft mußten alle Paſſagiere auf den Zuruf des
Kutſchers auf dieſe oder jene Kante des Wagenbetts ſpringen,
um das ſchwankende Gefährt über eine gefährliche Schlucht
hinüber zu balanciren, oder wir griffen mit vereinter Macht
in die Speichen, um den Pferden beim Ziehen zu helfen.
Aber, trotz aller Vorſicht, warfen wir dreimal kläglich um,
ehe wir den Sattel des Paſſes erreicht hatten. Die Mor—
monenfrau und ihr ſanfter blauäugiger Knabe, der vor
Angſt und Kälte bitterlich weinte, thaten uns Allen außer—
ordentlich leid; eine Verbeſſerrung ihrer Lage war jedoch
unter den Verhältniſſen unmöglich. Miſter Eiſak gewann
mehr und mehr das Ausſehen eines Seekranken, der juſt
ſo lieb ſterben, als einen Finger zur Selbſtrettung rühren
möchte, und der Irländer vergaß ſogar ſeine „Wonderfuls“.
An die Gewäſſer, welche ſich in kurzen Abſtänden brauſend
über die Landſtraße ergoſſen, hatten wir uns ſo gewöhnt,
daß wir ohne weiteres mitunter knietief hindurch wateten.
Todtes halb verweſtes Zugvieh, das öfters am Wege dalag
und einen peſtilentialiſchen Geruch verbreitete, machte dieſe
Stagefahrt doppelt entſetzlich.
Endlich hatten wir den Gebirgspaß überſtiegen und
fuhren nun in ſo raſender Eile wieder bergab, daß es uns
in der Nähe der Abhänge, an deren Rande wir hinjagten,
grün und gelb vor Augen ward. Bei eintretender Dunkel—
heit erreichten wir Parley's Kafon, ein ſieben engliſche
Meilen langes enges Felsthal, das letzte in der Reihe der
Caſions, welche den öſtlichen Zugang zum Becken des
großen Salzſees bilden. Die ganze Breite dieſer Thal—
ſchlucht, deren Seitenwände höher, aber weniger pittoreſk
als die in Echo Caſion find, war von einem brauſenden
Gebirgswaſſer, dem geſchwollenen Parley's Creek, über—
ſchwemmt. In dunkler wolkenſchwangerer Nacht fuhren
118
wir langſam und vorſichtig durch das finftere Felsthal, wo-
bei die Fluthen mehrere Male in das Wagenbett traten,
bis die Berge endlich hinter uns lagen und wir die Ebene
erreicht hatten. Hier wurden wir in eine mit ſechs präch—
tigen Rennern beſpannte Concord-Kutſche verſetzt, denn auf
allen Stagelinien in Amerika gilt die Regel, immer mit
den beſten Kutſchen und den ſchönſten Geſpannen in größere
Städte einzurücken. Mancher, der ſolch eine prächtige Poſt—
kutſche mit dem blank geſtriegelten Sechsgeſpann im geſtreckten
Galopp in eine Stadt jagen oder ſie in gleichem Aufzuge
verlaſſen ſieht, denkt: Welch ein köſtliches Pläſir muß doch
ſo eine wilde Stagefahrt ſein! — Verſuche es nur, Freund!
nichts bereichert das Wiſſen mehr, als praktiſche Erfahrung.
Die Erlebniſſe in den Rumpelwagen, Käfigen, Schmutzwagen
und halb zerbrochenen Schlitten, die queckſilberigen Poſtſack—
Sitze, die luculliſchen Mahlzeiten und andere Ueberraſchungen
auf der Ueberland-Stageroute gönne ich auch Dir, mein
Beſter, — denn das Elend hat gerne Geſellſchaft!
Bald war ich in einer bequemen Ecke der Stage ent—
ſchlummert und erwachte nicht eher, als bis das Raſſeln der
Räder in den Straßen der erſehnten Mormonenſtadt wieder—
hallte. Um die Mitternachtsſtunde vom 7. auf den 8. Mai
hielten wir endlich, nach einer Stagefahrt von ſechszehn
Tagen und Nächten, ſeit wir bei Salina auf die große
Steppe hinausfuhren, vor dem „Revere Houſe“ in Salt
Lake City. Wie ein ſeltſames Traumbild lagen die Aben—
teuer und Erlebniſſe auf der tauſend Meilen langen Stage—
fahrt durch die Steppen-, Gebirgs- und Salbeiwildniſſe des
Continents hinter uns, und wir prieſen unſer Geſchick, das
uns wohlbehalten in dieſen gaſtlichen Hafen der „Heiligen
vom jüngſten Tage“ einlaufen ließ.
C.
Im Lande der Mormonen.
1. Great Salt Lake City, das neue Jeruſalem.
Die Morgenſonne des 8. Mai 1867 ſchien klar und
golden durch die Fenſter meines Schlafgemachs in der
Stadt der „Heiligen“ und weckte mich nach kurzem aber
erfriſchendem Schlummer. Toilette hatte ich bald gemacht,
und nachdem ich ein vorzügliches Frühſtück genoſſen, nahm
ich meinen Gemſenſtock (den von mir unzertrennlichen Reiſe—
begleiter aus der Schweiz) zur Hand und wanderte hinaus
in die ſonnenhellen Gaſſen des neuen Jeruſalem.
Wahrlich, einen reizenden Platz bewohnten die Heili—
gen vom jüngſten Tage (latter day saints) hier am
Ufer des großen Salzſees; in Wahrheit eine Oaſe in der
endloſen Salbeiwüſte! Schon mein erſter Spaziergang durch
die breiten und ſauberen Straßen machte mich zu einem
Bewunderer dieſer Stadt. Grüne Baumreihen von Akazien
und canadiſchen Pappeln wuchſen in abwechſelnder Laub—
ſchattirung an den 20 Fuß breiten Gehwegen, rauſchende
Waſſer floſſen neben denſelben hin, und die freundlichen
Privatwohnungen waren von Blumen- und Obſtgärten um—
geben. Wohin das Auge ſah, verbreiteten unzählige in
120
voller Blüthe ſtehende Pfirſichbäume einen röthlichen Glanz,
der von dem weißen und bunten Blüthenſchmuck der vielen
Kirſchen⸗, Aepfel-, Birn- und anderen Obſtbäume ange—
nehm gemildert wurde. Ueber der Blumenſtadt wölbte ſich
ein azurblauer Himmel, der von den leuchtenden Schnee—
gipfeln der ſchöngeformten Waſatchkette gleichſam getragen
ward. Nach unſerer entſetzlichen Steppen- und Wüſten—
reiſe ſchien mir dieſe idylliſche Stadt ein Zauberparadies zu
ſein! — Die meiſtens aus Adobes (in der Sonne ge—
trockneten Ziegeln) erbauten Häuſer in der Stadt waren
faſt ohne Ausnahme mit hellen Farben angemalt, die Gärten
mit hohen Steinwällen aus cementirten Feldſteinen umhegt,
über welche die in voller Blüthe ſtehenden Obſtbäume empor—
ragten. An der 132 Fuß breiten Oſt-Tempelſtraße, der
Hauptſtraße des Ortes, hatten die Gebäude ein ſtädtiſch
elegantes Ausſehen.
Am nördlichen Ende der Oſt-Tempelſtraße gewahrte
ich linker Hand eine hohe Feldſteinmauer, worüber ſich ein
gewaltiges dem Rücken einer rieſigen Schildkröte ähnliches
Dach emporhob. Es war dies das weltberühmte Mormonen—
Tabernakel. Durch einen offenen Thorweg trat ich unge—
hindert auf den Bauplatz, um das fremdartige Gebäude
näher in Augenſchein zu nehmen. Einer von den Arbeitern
am Tempel, ein Norweger, den ich im Expeditionshäuschen
am Thorweg traf, erbot ſich, mein Cicerone zu ſein, welches
freundliche Anerbieten ich mit Dank annahm.
Im Vordergrunde des weiten Hofraumes befand ſich
das Fundament für den zukünftigen großen Mormonen—
tempel. Die mächtigen behauenen Granitblöcke, welche dort
in Menge am Boden lagen, gaben deutlichen Beweis, daß
es den Mormonen Ernſt ſei, hier das prächtige Gottes—
haus zu erbauen, von welchem ich im Expeditionsſtübchen
den Plan eingeſehen hatte. Nach dieſem ſollte der Tempel
121
(mit ſechs Thürmen, jeder von 225 Fuß Höhe) ganz aus
Granit aufgeführt werden und eine Länge von 1863 bei
einer Breite von 99 Fuß erhalten. Der Stil war ein
Gemiſch von alter und neuer Bauart, worin der aus
Königin Eliſabeth's Zeit vorherrſchte. Ob die Mor—
monen im Stande ſein würden, ein ſolches Rieſenwerk
zu vollenden, ſchien mir jedoch ſehr problematiſch.* Hinter
dem Embryo-Tempel lag das neue Tabernakel, wel—
ches bis auf die noch offene Vorderſeite und die innere
Ausſchmückung fertig war. Daſſelbe iſt, mit Ausnahme
von 46 aus rothem Sandſtein erbauten quadratiſchen Pfei—
lern, welche, jeder von ihnen 16 Fuß hoch und 4 Fuß dick,
das tief herabreichende und verandaartig vorſpringende Dach
tragen, ganz aus Holz aufgeführt. Das Tabernakel iſt
250 Fuß lang, 150 Fuß breit und 80 Fuß hoch, mit
zwei daſſelbe 65 Fuß überragenden Fahnenſtangen. Schön
war das Gebäude, in welchem 12,000 Menſchen Platz
finden, entſchieden nicht, und das ſeltſame Dach, deſſen
Prototyp meines Wiſſens noch kein Bauſtil in der Welt
aufweiſt, hatte eine nichts weniger als claſſiſche Form. In—
deß iſt vermöge dieſer Conſtruction die Akuſtik im Gebäude
eine ausgezeichnete, ſelbſt ganz leiſe auf der Tribüne ge—
ſprochene Worte ſind in dem weiten Raume überall hörbar.
Die coloſſale Orgel darin hat 70,000 Dollars gekoſtet.
Durch Vermittelung meines Cicerone ward mir vergönnt,
das heilige Schildkrötendach zu beſteigen, von deſſen Höhe
ich eine herrliche Ausſicht auf die wie in einem Blumen—
garten unter mir ansgebreitete Stadt genoß. Am Tempel
ſowie am Tabernakel werden nur Mormonen als Arbeiter
angeſtellt, welche ihren Lohn größtentheils in Naturalien
* Gegenwärtig (1874) ragen die Grundmauern des Tempels
erſt drei Fuß über dem Boden empor.
122
ftatt in Geld zugetheilt erhalten. Brigham Young, der ein
ausgezeichneter Financier iſt und ſtets ein wachſames Auge
für ſeinen eigenen Nutzen hat, behält das baare Geld, wel—
ches, namentlich in England, in großen Summen zum
Tempelbau geſammelt wird, und liefert den Zimmerleuten,
Maurern, Steinhauern ꝛc. als Equivalent dafür gelbe
Rüben, Kartoffeln, Mehl, Speck, Ziegen und Hühner, wo—
von er durch die „Zehnten“ -Abgaben ſtets einen großen
Vorrath auf Lager hat.
Neben dem neuen Tabernakel lag das alte, das ſich
wie eine große Scheune ausnahm und den Anſprüchen
der an Zahl ſchnell wachſenden Mormonengemeinde ſchon
lange nicht mehr genügte. Im Sommer wird der Gottes—
dienſt unter dem ſogenannten „Laubdach“ (Bowery) ab—
gehalten, einem mit Reihen von Holzbänken verſehenen
Platze, der mit einem hölzernen Gitterwerk überdacht iſt,
worauf grüne Büſche und Zweige ausgebreitet werden,
um Schutz gegen die Sonne zu geben. Die „Bowery“
ſowie das alte Tabernakel haben beide Raum für 3000
Zuhörer. In der Nähe liegt das „Haus der Einweihung“
(endowment house), in welchem die Prieſterweihe und die
Verheirathungen ſtattfinden.
Nächſt dem Tabernakel iſt des „Präſidenten“ (wie
Brigham Poung gewöhnlich von den Mormonen genannt
wird) Privatwohnung, für den Fremden das Sehenswertheſte
in Salt Lake City. Brigham Young's Reſidenz, der
„Prophetenblock“ genannt, liegt an der Oſt-Tempelſtraße
(East Temple Street), dem Tabernakel ſchräge gegenüber,
und umfaßt einen Bodenraum von etwa zwanzig Ackern,
der mit einer zwölf Fuß hohen feſtungsartigen Mauer um—
geben iſt. Der Haupteingang iſt vom Süden durch das
„Adlerthor“, das ſeinen Namen nach einem großen aus
Stein gehauenen Adler führt, der darüber mit ausgebreiteten
—
123
Flügeln auf einem Bienenkorb (dem Wappen der Mor⸗
monen) ſteht. Der innere Raum in dem Steinwall-Viereck
iſt mit Obſt⸗, Wein- und Gemüſegärten beſetzt. Ber:
ſchiedene Gebäude ſtehen am Wall und weiter zurück, z. B.
das „Zehntamt“ (tithing office) und der zweiſtöckige
„Deſerét-Store“, in welchem ſich eine Druckerei befindet.
Eine Reihe von Werkſtätten für Handwerker — Schuh—
macher, Tiſchler, Grobſchmiede ꝛc. — und andere kleine Ge—
bäude, worin des „Präſidenten“ Arbeiter wohnen, liegen
im inneren Hofraum zerſtreut. Auch einige Viehhürden
befinden ſich dort, wo die als Zehent von den Mormonen
gelieferten Rinder, Ziegen ꝛc. ein vorläufiges Unterkommen
finden, ehe Brigham ſie „für die Kirche“ nach den Inſeln
im großen Salzſee — die N. B. ſein perſönliches Eigen—
thum ſind! — verſetzt.
Eins der anſehnlichſten Gebäude im „Prophetenblock“
iſt das nahe beim Adlerthor liegende Bienenſtockhaus
(bee hive house), ſo benannt nach einer Menge von Bie—
nenſtock-Modellen, die daran angebracht find. Die Honig—
biene (nach dem Wörterbuche der Mormonen Deſerét ge—
nannt) iſt das Symbol der „Heiligen vom jüngſten Tage“,
und dies Gebäude wurde zu ihrer Verherrlichung errichtet.
Von den Mormonen wird Utah (ſprich: Yuhta) ſtets als
„Deſerét“ (Das Land der Honigbiene) bezeichnet und der
„Staat Deſerét“ iſt ihr officiöſes Kanaan. Bienen habe
ich im Territorium Utah jedoch kaum geſehen. Das Bie—
nenſtockhaus iſt ein zweiſtöckiges, aus Adobes aufgeführtes
und von Außen weiß cementirtes elegantes Gebäude, das
65,000 Dollars gekoſtet haben ſoll. Auf ſeinem Dache
befindet ſich eine Sternwarte, in Form eines Bienen—
korbes. Früher wohnte Mary Ann Angell, die erſte
Frau des Propheten, in jenem Gebäude. Dieſelbe hat
aber ſpäter der holden Amelia Platz machen müſſen,
124
welche jetzt als Königin im Bienenkorbe neben mehreren
untergeordneten Frauen Brigham's reſidirt. Ferner finden
im „Prophetenblock“ das Schulhaus, worin die Spröß—
linge des Propheten, etliche fünfzig *, erzogen werden, die
Bibliothek und ein weiß angemaltes Gebäude, wie des
Präſidenten Wohnung in Waſhington „das weiße Haus“
genannt, beſondere Erwähnung. In letzterem wohnt gegen—
wärtig Madame Young Numero Eins, die erſte recht—
mäßige Frau des Propheten.
Das Wohnhaus des Propheten Brigham Young zieht
unter allen Gebäuden im „Prophetenblock“ die Aufmerk—
ſamkeit des Fremden beſonders auf ſich. Daſſelbe wird nach
einem gewiß nicht von Thorwaldſen modellirten vor der
Hausthüre liegenden ſteinernen Löwen das „Löwenhaus“
genannt, iſt aber beſſer unter dem Namen der Harem
bekannt. Das „Löwenhaus“ iſt ein zweiſtöckiges, aus Holz
aufgeführtes langes Gebäude, mit einem Souterrain dazu.
An der Vorderſeite zieht ſich eine Reihe von Erkerfenſtern
hin, von denen die Fama behauptet, daß jedes die Wohnung
einer Frau des Propheten bezeichne. Die Zahl der Frauen
des Propheten vermag Niemand genau anzugeben, außer
vielleicht er ſelber. Trotz meiner eifrigſten Erkundigungen
nach den Familienverhältniſſen Brigham's, konnte ich in Salt
Lake City nicht Genaues über jenen intereſſanten ſtatiſtiſchen
Punkt erfahren. Die Angaben variirten zwiſchen 18 und
67 Frauen. Seit der Congreß der Vereinigten Staaten
im Jahre 1862 ein Verbot gegen Vielweiberei in den Ter—
ritorien erließ, halten die Mormonen die Zahl ihrer Frauen
geheim. Obgleich die „große Jury“ in Salt Lake City
unter Eid von den in Dienſten der Vereinigten Staaten
ſtehenden Richtern aufgefordert wurde, Beweiſe von Viel—
* 1874 hatte fi) die Zahl der Kinder auf angeblich 65 vermehrt.
125
weiberei in Utah feſtzuſtellen, iſt dies bis jetzt nicht ge—
ſchehen. Niemand beſtreitet, daß dieſelbe hier in ausge—
dehntem Maße ſtattfindet, aber die Macht und der Einfluß
des Präſidenten Young find in Utah derartig, daß die Be—
amten der Vereinigten Staaten dagegen faſt gar nichts
auszurichten vermögen.
Das Innere des Harems blieb für mich leider terra
incognita, und ich mußte mich damit begnügen, die Wohnung
des Propheten von Außen zu betrachten und über das ele—
gante Innere derſelben Muthmaßungen anzuſtellen. Mit—
unter bewegte ſich leiſe eine von den weißen Gardinen an
der langen Giebelfenſterreihe, wo vielleicht eine von den
vielen Madams Young den frechen „Gentile“ (wie Alle
anderen Glaubens, einerlei ob Juden, Chriſten oder Heiden,
von den Mormonen genannt werden) durch den Faltenwurf
eines Vorhangs muſterte, als er mit verdächtigen Schritten
um das Haus des Propheten ſchlich. Den Fremden wer—
den allerlei „Bären“ über den Harem aufgebunden. Man
munkelt z. B. von geheimen Paſſagen, doppelten Wänden,
Schatzkammern und — dies halte ich entſchieden für eine
Verläumdung! — von abgelegenen Zimmern im Gebäude,
wo widerſpenſtige Gemahlinnen mitunter von der Hand des
Propheten gezüchtigt würden. In enger Verbindung mit dem
Löwenhauſe ſteht Brigham Poung's „Office“, wo er Fremde
empfängt und die laufenden Tagesgeſchäfte beſorgt. Eine
Audienz iſt bei ihm leicht zu erlangen, da er ſich den Fremden
gegenüber durchaus nicht verſchloſſen zeigt. Leider lernte
ich aber den modernen Mohomet nicht perſönlich kennen, da
derſelbe zur Zeit meines Beſuchs auf einer Rundreiſe im
Territorium begriffen war.
Das häusliche Leben der Familie Young iſt, wie
mir aus zuverläſſiger Quelle mitgetheilt wurde, durchaus
nicht der Art, wie man es in einem Harem vermuthen
126
möchte. Wenn Freunde des Präſidenten zu Beſuch kommen,
ſo ſind im Parlor ſelten andere Frauen als eine von den
drei Favoritinnen Emeline, Lucy und Clara ſichtbar. Der
geſellſchaftliche Ton iſt ein durchaus geſitteter. Iſt kein
Beſuch da, ſo beſchäftigen ſich die Frauen mit allerlei häus—
lichen Arbeiten. Die Haushaltung iſt der in einer Pen—
ſionsanſtalt für junge Mädchen ähnlich, mit dem Unter—
ſchiede, daß hier verheirathete Frauen die Stelle der jungen
Damen einnehmen. Jede Madame Poung beſitzt ihr ab—
geſondertes hübſches Zimmer oder eine Privatwohnung,
wo ſie ganz ihre eigene Herrin iſt. Zum Gebet oder bei
Tiſch verſammelt ſich die ganze Familie, groß und klein.
Der Schlüſſelbund und die Aufſicht über Küche und Keller
wechſeln unter den Frauen von Zeit zu Zeit. Im Hauſe
giebt es Nähmaſchinen, Spinnräder, Farbekäſtchen ꝛc. zur
beliebigen Benutzung für ſämmtliche Frauen. Privatlehrer
für den Unterricht in Muſik, Tanz und franzöſiſcher Sprache
ſtehen im Dienſt, und oft geht es recht luſtig im Harem
zu, da Brigham nichts weniger als ein Philiſter iſt. Ein
Liebhabertheater füllt manche müſſige Stunde aus, und
diejenigen unter den Frauen, welche ſich in den mimiſchen
Künſten beſonders hervorthun, ſpielen mitunter Rollen im
Salt Lake City-Stadttheater. Sogar Dichterinnen giebt
es unter den Frauen im Harem, von denen ſich Eliza
Snow als Verfaſſerin begeiſterter Hymnen beſonders aus—
gezeichnet hat. —
Die kurze Zeit, welche ich in Salt Lake City ver—
weilte, benutzte ich auf's Beſte, um mich mit der Stadt
und ihren Umgebungen bekannt zu machen. Great Salt
Lake City (gewöhnlich Salt Lake City, und von den Mor—
monen Zion oder Neu-Jeruſalem genannt) liegt zwölf eng—
liſche Meilen weſtlich vom Wafatdh Gebirge und acht Meilen
ſüdöſtlich vom großen Salzſee, am rechten Ufer des Jordan—
127
fluſſes, welcher die Gewäſſer des Utah-See's, eines Süß—
waſſerſee's in den großen Salzſee ableitet. Im Sommer
verſchwindet der Schnee, mit Ausnahme der höchſten
Gipfel, ganz von den Gebirgen; im Frühjahr dagegen
find die blinkenden Zinnen der Waſatch- und Oquirrh-Ge⸗
birge, welche die Stadt jenſeits einer grünen Ebene um—
gürten, von herrlicher Schönheit. Das Aeußere der Stadt
bleibt ſich in allen Theilen derſelben ziemlich gleich. Die
Straßen ſind durchgängig breit, mit fließenden Waſſern
neben den durch Reihen grüner Bäume beſchatteten Geh—
wegen und die meiſten Wohnungen ſind von Obſtgärten
umgeben. Die Einwohnerzahl von Salt Lake City wurde
zur Zeit meines Beſuchs auf 15000 Seelen geſchätzt.“
Die Zahl der in ihr lebenden Gentiles betrug, außer zwei
oder drei Compagnien Ver. St.-Militär, das in dem vier eng—
liſche Meilen öſtlich von der Stadt liegenden Camp Douglas
garniſonirte, höchſtens vierhundert Köpfe. Mormonen und
Gentiles lebten dazumal auf ſehr geſpanntem Fuße mit ein—
ander. Brigham hatte den Gläubigen „im Namen des
Herrn“ verboten, ferner etwas von den „verd. Gentiles“
zu kaufen, und da dieſe meiſtens dem Handel oblagen, ſo
kam ein ſolches Verbot faſt einer Ausweiſung gleich. In
Folge deſſen lagen Handel und Wandel in der Stadt der
„Heiligen“ ſehr danieder, und Gold, Silber und Papier—
geld waren ſehr knapp geworden. Unter der arbeitenden
Claſſe in Salt Lake City herrſchte viel Armuth, wovon ein
Durchreiſender kaum eine Ahnung haben konnte. Man er—
* Im Jahre 1870 betrug die Einwohnerzahl von Salt Lake
City nach dem Cenſus der Vereinigten Staaten 18,337 — die des
Territoriums Utah 86,786 Seelen, welche Bevölkerungszahl jedoch
in letzter Zeit bedeutend geſtiegen iſt. Die Bevölkerung des Terri—
toriums Utah beträgt gegenwärtig (1874) gewiß über 100,000
Köpfe. —
128
zählte mir, daß bei vielen Familien wochenlang kein Fleiſch
auf den Tiſch käme.“ 5
Salt Lake City iſt nicht nur das Handelsemporium
von Utah, deſſen beſiedelter Theil ſich, bei einer ungefähren
Breite von fünfzig engliſchen Meilen von Oſt nach Weſt,
* Die Pacific-Eiſenbahn ſowie die Utah Centralbahn, an deren
Bau ſich Brigham Poung als Contractor ſtark betheiligte, und na—
mentlich die Entdeckung und Ausbeute zahlreicher ergiebiger Silber—
minen haben in den letzten Jahren eine radicale Umwälzung aller
Eigenthumsverhältniſſe hervorgerufen. Viele ſonſt arme Tagelöhner
haben ſich beim Bau der Eiſenbahn ein kleines Vermögen erworben,
und die Entdeckung der Silberminen veranlaßte eine Menge „Gen—
tiles“ einzuwandern, durch welche das Mormonenthum in ſeinen
Grundfeſten erſchüttert worden iſt. Aber durch die ungewiſſen Ver—
hältniſſe iſt ein Rückſchlag zum Schlechten in dem raſch empor—
blühenden Territorium nicht ausgeblieben. Die von Brigham Noung
im Mai 1867 (kurz nach meinem Beſuche in Utah) in Salt Lake
City gegründete „mormoniſche Handelsgenoſſenſchaft“ (Zion's Co—
operative mercantile institution), mit Zweiggeſchäften (Co-opera-
tive stores) in allen Ortſchaften des Territoriums, wo alle Mor—
monen ihre Einkäufe machen mußten, und die direct gegen die
Gentiles gerichtet waren, haben bereits eine ſehr precäre Exiſtenz.
Das Centralgeſchäft in Salt Lake City war im Frühjahr 1874 ge—
zwungen, auf eine Verlängerung der Zahlungsfriſt ſeiner Wechſel
anzutragen, in Folge deſſen die Genoſſenſchaft völlig demoraliſirt
worden iſt. Um das Maß des Unglücks voll zu machen, find eng—
liſche Capitaliſten, welche durch Minenſchwindel in Utah große Sum—
men eingebüßt haben, nicht mehr dazu zu bewegen, in den ſonſt
überaus reichen Utah-Silberminen zu inveſtiren, was der Entwicke—
lung des Landes großen Abbruch thut, und die Zeiten ſind wieder
einmal ſpottſchlecht in Zion. Aber die Hülfsquellen Utah's haben
ſich, namentlich durch den Bergbau, in letzter Zeit ſo vortheilhaft
entwickelt, daß ein Umſchlag zum Beſſern nur eine Frage der Zeit
iſt. Wäre die „Mormonenfrage“ heute zufriedenſtellend gelöſt, ſo
müßte Utah, welches als Agricultur- und als Minenland dem Ein—
wanderer große Vortheile bietet, unbedingt ſchnell eins der blühend—
ſten Länder in der Union werden. D. V.
129
in einer Länge von ſiebenhundert engliſchen Meilen von
Idaho bis nach Arizona erſtreckt, ſondern auch von den
angrenzenden Diſtricten der Minenländer Idaho, Montana,
Wyoming, Arizona und Nevada. Durch die von Brigham
Young auf großartige Weiſe eingerichtete künſtliche Be—
wäſſerung iſt der von den Mormonen bewohnte Landſtrich,
obgleich urſprünglich nur eine traurige Salbeiwüſte, die
Kornkammer aller jener Gegenden geworden. Trügt nicht
alle Berechnung, ſo wird Salt Lake City mit der Zeit die
bedeutendſte Inlandſtadt zwiſchen dem Miſſouri und der
Sierra Nevada. Als Culturland iſt das Beſitzthum der
Mormonen eine herrliche Oaſe inmitten jener großen nord—
amerikaniſchen Salbeiwildniß. Die vielen Gebirgszüge, von
denen der Schnee nur langſam fortſchmilzt, haben den fleißigen
Mormonen treffliche Gelegenheit zum Irrigiren gegeben,
denn an fließenden Waſſern fehlt es hier im ganzen Jahre
nicht. Ohne eine umfaſſende Bewäſſerung würde das Land
aber ganz werthlos ſein. Wo dieſe nicht ſtattfindet, ſaugen
die trockenen Winde während der Sommermonate, in denen
faſt nie ein Tropfen Regen fällt, alle Feuchtigkeit aus dem
lehmartigen Boden und zerſtören den Pflanzenwuchs. Um
die Bergſtröme zum Irrigiren nutzbar zu machen, pflegt
man dieſelben in ihrem oberen Laufe ſo zu ſagen anzu—
zapfen und ihr Waſſer in zahlreichen Kanälen durch die
Felder zu leiten. Da ſolche Unternehmungen jedoch für
den Einzelnen zu koſtſpielig ſind, ſo werden ſie in der Regel
von Compagnien oder von ſtädtiſchen Corporationen aus—
geführt, und das Waſſer wird gleichmäßig vertheilt. Salt Lake
City iſt auf dieſe Weiſe mit Waſſer verſorgt worden, und
jeder Hausbeſitzer kann ſeinen Garten nach Bedarf bewäſſern.
In der Regel genügt es, den Boden einmal in der Woche
gründlich zu befeuchten. Indem der Betreffende ſein Areal
in ſieben Theile eintheilt und täglich ein Stück davon be—
9
130
wäſſert, kann er ſich die Mühe des Irrigirens bedeutend
erleichtern. — Deutſche giebt es verhältnißmäßig nur we-
nige in Zion, und eine deutſche Zeitung kam mir dort nicht
zu Geſicht. Ein Buchhändler, den ich wegen dieſer in
Amerika bei einer ſo großen Stadt wie Salt Lake City
beiſpielloſen Erſcheinung befragte, bemerkte, daß die hier
anſäſſigen Deutſchen fromme Leute ſeien, die ſich wenig mit
Zeitungsleſen befaßten.
Um den erſten Tag meines Aufenthaltes im neuen
Jeruſalem zu einem würdigen Abſchluß zu bringen, beſchloß
ich, am Abend in's Theater zu gehen, wo das Senſations—
drama „Die Braut von Lammermoor“, mit Ballet und
Geſang, und ein Luſtſpiel zum Schluſſe der Vorſtellung ge—
geben werden ſollte. Schon oft hatte ich von dem Mor—
monentheater Wunderbares reden hören, mit dem das neue
Berliner Opernhaus durchaus keinen Vergleich aushalten
könnte. Meine Erwartung ſtellte ſich, wie der Amerikaner
poetiſch ſagen würde, „auf die Fußſpitzen“, als ich mich
in der Vorhalle des Theaters zwiſchen den Schaaren von
breitſchultrigen Mormonenlords und ihren zahlreichen Ge—
mahlinnen nach der Kaſſe hindurch ellenbogete. Mir war
wiederholt geſagt worden, daß die Mormonen das Privile—
gium hätten, vom „Propheten“, dem alleinigen Eigenthümer
des Muſentempels, für Mehl, Runkelrüben und gelbe
Wurzeln als Zahlung Billette löſen zu dürfen, wohingegen
die Gentiles mit „Greenbacks“ (Papiergeld) herausrücken
müßten. An der Kaſſe werden keine gelbe Wurzeln ange—
nommen, wie ich aus Erfahrung poſitiv ſagen kann, da ich
beſonders darauf Acht gab.
Ich hatte mir für anderthalb Greenbackdollars ein
Billet erworben und verfügte mich auf den erſten Rang.
Obgleich das Theater keinen Vergleich mit dem Berliner
Opernhauſe aushielt, ſo war es doch, ein bischen Schmutz
151
abgerechnet, ein ganz reſpectabler Muſentempel. Zur Be⸗
leuchtung diente ſtatt des Kronleuchters eine Reihe von Lam—
pen, die an den Baluſtraden ringsherum angebracht waren.
Die Ausſtattung des Zuſchauerraumes mit den ungepolſterten
Bänken war ſehr einfach, als ob der Prophet dem repu—
blikaniſchen Geſchmack ſeiner Nachfolger auch in Thalia's
Tempel hätte Rechnung tragen wollen. Das Haus war
von Beſuchern angefüllt, deren geſittetes Betragen manchem
Theater-Publikum in den großen Städten des Oſtens zum
Muſter hätte dienen können. Das Parquet war für die
Mormonenzuſchauer reſervirt und die Gentiles fanden nur
auf den Rängen Zutritt. Die Privatlogen neben der Bühne
gehörten den angeſehenſten Mormonenprieſtern und dem
Präſidenten, nebſt ihren zahlreichen Familien. In einer
Loge gewahrte ich mehrere von Brigham's Frauen, deren
Geſichtszüge und Geſtalt jedoch keineswegs bezaubernd waren
und mich davon überzeugten, daß der Prophet, wie ich öf—
ters gehört hatte, bei der Auswahl von Gemahlinnen für
ſeinen Harem wenig Geſchmack gezeigt hat. Seine Neigung
ſchien mir mehr auf handfeſte Körperformen als auf Geiſt
und Anmuth gerichtet zu ſein. Uebrigens hatten alle Frauen,
die ich im Theater ſah, ſtupide und ordinäre Geſichter; eine
nur halbwegs hübſche vermochte ich nicht unter ihnen zu ent—
decken. Eine von den Logen ſtand leer, da Brigham Poung,
wie bereits erwähnt wurde, abweſend und verreiſt war.
Drei Bänke waren im Parquet für die kleinen Voungs
reſervirt. Daneben ſaß im Mittelgang Mama Poung
Numero Eins, die erſte Frau des Präſidenten, in einem
Schaukelſtuhl: eine ſtattliche Matrone, mit gutmüthigem
Geſicht. Männer und Frauen hatten im Parquet geſellig
neben einander Platz genommen; jedoch waren die Frauen
und Kinder, wie nicht anders zu erwarten ſtand, weit in
der Mehrzahl. Die Schauſpieler, der Mehrzahl nach Mor—
9 *
132
monen, machten der mimiſchen Kunſt Ehre, und einige der—
ſelben entwickelten mehr als gewöhnliches Darſtellungstalent
auf den Brettern. Mein Nachbar erzählte mir, daß die
erſte Liebhaberin zur „Familie des Präſidenten“ gehöre.
Die Bühnendecorationen, welche von norwegiſchen und
ſchwediſchen Künſtlern gemalt werden, waren vorzüglich,
und die Koſtüme ließen nichts zu wünſchen übrig. Auf—
fallend war mir, daß ein Theil der Muſici im Orcheſter
beim Spielen den Hut aufbehielt, eine demokratiſche Sitte,
die ich nicht billigen konnte. Sonſt gehörte nicht viel Phan—
taſie dazu, ſich von der großen Salzſeeſtadt in ein Theater
an der Bowery in New-York oder in das alte Metropolitan—
theater in San Francisco verſetzt zu wähnen. Ich ver—
brachte einen recht angenehmen Abend, und die neue Um—
gebung unter der „Elite der Heiligen“ gab mir ergiebigen
Stoff zu intereſſanten Studien mit meinem Operngucker.
Den zweiten Tag meines Aufenthaltes im neuen Je—
ruſalem benutzte ich theils zu eifrigen Erkundigungen über
den Mormonismus und das Inſtitut der Polygamie, theils
machte ich Spaziergänge durch die Stadt und ihre idylliſchen
Umgebungen. Gegen Abend beſuchte ich die eine halbe
Stunde nördlich von der Stadt liegenden warmen Schwefel—
quellen, bei denen eine vortreffliche Badeanſtalt eingerichtet
iſt. Dieſe Mineralquellen haben eine Temperatur von 5102
Grad Fahrenheit. Das Waſſer wird, gehörig abgekühlt,
in ein überdachtes Schwimmbaſſin geleitet, um welches ein—
fache Badezimmer, mit Wannen darin, erbaut ſind; für
die Bewohner von Salt Lake City und die beſtaubten Ueber:
land⸗Reiſenden eine köſtliche Erquickung. Omnibuſſe fahren
den Tag über regelmäßig von der Stadt nach der Bade—
anſtalt.
Nachdem ich ein erfriſchendes Schwimmbad genommen,
machte ich mich daran, den Gipfel des in der Nähe liegen—
133
den, ſich 400 Fuß über der Stadt erhebenden „Fahnenpic's“
(ensign peak) noch vor Sonnenuntergang zu erſteigen,
um von dort die Ausſicht auf Stadt und Umgebung zu
genießen. Die Rundſchau von der Höhe dieſes Berges
war herrlich. Wenn die Mormonen, welche von hier zum
erſten Mal den großen Salzſee und ſein zu damaliger Zeit
wüſtes Ufergelände ſahen, den Blick ſo zu ſagen in die
Vergangenheit zurückwerfen und das Jetzt mit dem Damals
vergleichen, wird man es begreiflich finden, daß ſie ſich für
das auserwählte Volk Gottes halten. Hat ſich doch ihre
neue Heimath binnen weniger Jahre aus einer traurigen
Wüſte in einen blühenden Garten verwandelt!
Mir zu Füßen lag Salt Lake City ausgebreitet, um—
kränzt von grünen Wieſen und Feldern. Die im hellrothen
Blüthenſchmuck prangenden unzähligen Pfirſichbäume, zwiſchen
denen ſich die weißen Häuſer zu verſtecken ſchienen, gaben
das Bild eines blühenden Roſenhains, mit Luſthäuſern
darin, während die breiten Straßen, welche ſich zwiſchen
den Bäumen in langen Linien rechtwinklig durchkreuzten,
wie ſaubere Kieswege ausſahen. Wunderlich nahm ſich das
die Stadt überragende Dach des Tabernakels aus. Mit
dem Rücken einer urweltlichen Schildkröte, wie ſchon geſagt,
möchte ich daſſelbe vergleichen, oder mit dem unterſt zu
oberſt gekehrten Rumpfe eines Linienſchiffs, oder, paſſender
noch, mit einer ungeheuren umgeſtülpten Fleiſchermulde, wie
ſie vielleicht ein nordiſcher Schlachtergott gebraucht hat, um
darin ein Dutzend gebratene Auerochſen als Imbiß für
Thor und Freya nach Walhalla zu bringen. Rechts von
der Stadt ſchlängelte ſich der Jordanfluß, der ſeine Ufer
ſtellenweiſe weit überſchwemmt hatte, durch ſmaragdgrüne
Wieſen, im Nordweſten dehnte ſich die blitzende Fläche des
großen Salzſees bis zum Horizonte aus. In ſeiner Fluth
ſpiegelten ſich der 7200 Fuß hohe Pic auf der Antilopen-
134
infel und andere Schneeberge weit im Norden. Die Ge—
gend in Salt Lake City war eine weite Fläche. Grüne
Felder, die von einem Netzwerk ſchwimmender Kanäle durch—
ſchnitten waren, erſtreckten ſich links vom Gebirge bis an
den Jordan. Ein paar Meilen entfernt lagen dort die
weißen Zelte von „Camp Douglas“ auf grünem Anger
und hielten Wacht über die heilige Stadt. Aber als das
Schönſte im Panorama prangten die um dieſe Jahreszeit alle
mit Schnee bedeckten Gebirge, welche die fruchtbare Ebene
in weitem Bogen umſpannten. Linker Hand waren es die
Waſatch⸗Berge, deren höchſte Gipfel, die „Zwillingspies“
(twin peaks), 11,660 Fuß über dem Meere auffteigen,
rechts die niedrigeren aber gleichfalls ſchneebedeckten Oquirrh—
Berge, deren nördliche Ausläufer ſich an den ſchwimmenden
Spiegel des großen Salzſees lehnten. Die Waſatch-Kette,
welche ſich 7000 bis 8000 Fuß über den Salzſee erhebt,
gab mit ihren gezackten Schneegipfeln, die ſich in ſchönen
Formen mächtig in den blauen Aether emporthürmten, ein
wahrhaft ſchweizeriſches Bild. Als der goldene Sonnenball
ſich in die wie freudig erglühenden Wogen des großen Salz—
ſees ſenkte und die Gebirge alle auf einmal wie lichterloh
brannten, däuchte es mir, die Natur wolle das Bild dieſer
herrlichen Oaſe in der Wüſte mir dem Fremdlinge, mit
brennenden Farben unauslöſchlich in die Seele malen.
2. Brigham Yonng und die Mormonen.
Der Mormonismus iſt einer von jenen Anachronismen
der Civiliſation der Neuzeit, welche eine auf offenbaren Be—
trug baſirte kirchliche Macht in die Mitte eines aufgeklärten
Volkes gepflanzt hat, dem die vollſte Glaubensfreiheit für
eins ſeiner heiligſten, unveräußerlichen Rechte gilt. Grund—
ſatzloſe, mit bedeutenden Talenten und großer Willensſtärke
ausgerüſtete Männer machten eine von ihnen ſchlau er—
dachte, in ihren erſten Principien verwerfliche Religion
zum Hebel einer geiſtlichen und weltlichen Macht über eine
fanatiſche Menge, kleideten ſich in das Gewand von Pro—
pheten und wunderthätigen Heiligen und gründeten einen
Staat im Staate, deſſen abnorme Inſtitutionen gegen Recht
und Sitte in einem chriſtlichen Lande verſtoßen, und über
deſſen ungehindertes Fortbeſtehen inmitten dieſer thatkräftigen,
freieſten Republik man erſtaunen muß.
Gegen das Ende der zweiten Decade dieſes Jahr—
hunderts trat in einem obſcuren Dorfe in Ohio der Lehrer
einer neuen Religionsſeete mit Namen Joſeph Smith
auf, gewöhnlich der Prophet Joſeph genannt. Nach—
dem derſelbe während mehrerer Jahre die biederen Hinter—
wäldler mit allerlei ſonderbaren Dogmen und Erzählungen
von Engeln, die ihm erſchienen ſeien, in Erſtaunen geſetzt
hatte, trat er im Jahre 1823 mit der abſurden Behauptung
hervor, daß er die auf Goldplatten eingeſchriebenen Schriften
der verloren gegangenen Stämme Ifraels, deren Nach—
136
kommen die nordamerikaniſchen Indianer ſeien, gefunden
habe. Der Engel Gabriel hätte ihm die Stelle gezeigt,
wo die Tafeln in einer ſteinernen uralten Kiſte vergraben
gelegen, und ihm gleichzeitig ein paar Rieſenbrillen zuge—
ſtellt, mit deren Hülfe er die Hieroglyphen darauf zu ent—
ziffern vermöchte. Von dieſen Platten überſetzte er das
„Book of Mormon“, die goldene Bibel der Mormonen,
welches zuerſt im Jahre 1830 im Druck erſchien und die
Geſchichte und Geſetze der verloren gegangenen Stämme
Iſraels in langweiliger, von orthographiſchen und gramma—
tikaliſchen Fehlern wimmelnder Sprache enthält, und deſſen
Kauderwälſch und fortwährende Widerſprüche die Behauptung
einer göttlichen Inſpiration geradezu lächerlich machen. Auf
dieſes Schriftſtück (von dem jetzt erwieſen iſt, daß ein alter
ungedruckter Roman, den Joſeph zufällig in die Hände be—
kam, den Hauptinhalt dazu geliefert hat) baſirte Joſeph Smith
die Lehre ſeines neuen Glaubens, oder vielmehr, wie er
ſagte, des alten urſprünglichen, der im Laufe der Zeit den
Menſchen verloren gegangen ſei. Specielle Offenbarungen
dienten ihm zur Vervollſtändigung der alten Ueberlieferungen,
und ſo entſtand nach und nach das Mormonendogma, wel—
ches an Sinnloſigkeit ſelbſt die Lehren eines Mahomet über—
trifft. Anfangs wurden die Religionsübungen der „Heiligen
vom jüngſten Tage (latter day saints)“, welchen Namen
ſich die Mormonen beigelegt hatten, wenig beachtet. Als
aber der Prophet Joſeph mit ſeinen zwölf Apoſteln immer
kühner wurde und allerlei fremde, dem orthodoxen Chriſten—
glauben ſchnurſtracks widerſprechende Lehren öffentlich pre—
digte, wurden dieſe, obgleich von Vielweiberei damals bei
den Mormonen noch nicht die Rede war, den Anſiedlern
im höchſten Grade anſtößig. In dem Städtchen Kirtland
in Ohio, wo das Hauptquartier der Mormonen war, rottete
ſich das erbitterte Volk zuſammen, theerte und federte die
137
„Heiligen“ und jagte ſie zum Lande hinaus. Dies war
im Jahre 1836.
Die ausgetriebenen Mormonen ſuchten in Jackſon
County, im Staate Miſſouri, wo ſie bereits früher eine
kleine Kolonie gegründet hatten, ein Aſyl, um dort, vor
Verfolgungen ſicher, ein neues Zion zu gründen. Der
Boden jenes County's war ein außerordentlich fruchtbarer,
eine unerſchöpfliche Waſſerkraft begünſtigte die Anlage von
Mühlen und Fabriken. Die Stadt Independence blühte
durch die ſich in Menge in ihr anſiedelnden Mormonen ſchnell
empor und die Wildniß verwandelte ſich in einen blühenden
Agriculturdiſtrict. Einige Jahre lebten die Mormonen dort
in Ruhe und ihr Wohlſtand vermehrte ſich raſch; aber der
ihren Führern innewohnende prahleriſche Geiſt ließ ſie mit
ihren Nachbarn wieder in Conflict gerathen, indem ſie be—
haupteten, daß das ganze Land von Jehovah für ſie be—
ſtimmt ſei und die Ungläubigen mit Feuer und Schwert
vertilgt werden müßten. Der fortwährenden Reibungen
wurden die Hinterwäldler überdrüſſig, und ſie ſuchten ſich
ihrer unliebſamen Nachbarn auf eine ſummariſche Weiſe zu
entledigen. Die Apoſtel wurden getheert und gefedert, die
Druckerei der Mormonen wurde niedergebrannt und gegen
dieſe ein Guerillakrieg eröffnet, der mit ihrer Niederlage
und Vertreibung endigte. Die Mormonen ſammelten ſich
wieder in den angrenzenden Counties, wo bald die alte
Wirthſchaft von neuem losging. Zuletzt rief der Gouver—
neur von Miſſouri die Miliz unter Waffen (November
1838), confiscirte alles Eigenthum der Mormonen und
befahl, ſie mit Gewalt aus dem Staate zu treiben, was
denn auch unter unerhörten Grauſamkeiten geſchah.
Die verjagten Mormonen fanden einen Zufluchtsort
in Illinois, wo fie am Miſſiſſippi die Stadt Nauvoo
(ſprich: Nowuh) gründeten. Der Platz vergrößerte ſich
138
ſchnell, die Prärie verwandelte ſich in blühende Aecker, und
Handel und Wandel gediehen auf das Wunderbarſte. Es
ſchien, als ob Gottes Segen die Mormonen in allen ihren
Unternehmungen begünſtigte. Hier trat Brigham Young,
der an Stelle eines abtrünnig gewordenen Apoſtels der
alten zwölf erwählt war, zuerſt vor die Oeffentlichkeit
und machte ſich bald durch ſeine eiſerne Willenskraft und
unermüdliche Thätigkeit bemerkbar. Er reiſ'te nach Eng⸗
land und predigte dort den Mormonenglauben. In Liver⸗
pool gründete er die noch heute beſtehende Zeitung „millen-
nial star“, welche die Grundſätze und Lehren des Mor⸗
monismus vertrat, und, in weiten Kreiſen bekannt werdend,
nicht wenig dazu beitrug, dem neuen Glauben eine Menge
von Proſelyten zu erwerben, die von Brigham als will⸗
kommene Verſtärkungsmannſchaft nach Nauvoo dirigirt wur⸗
den. Der Prophet Joſeph hatte mittlerweile in Nauvoo
den Bau eines Tempels begonnen, von deſſen werdender
Pracht die fabelhafteſten Beſchreibungen in Amerika in Um⸗
lauf waren. Die waffenfähige Mannſchaft der Mormonen
ward unter dem Namen „Nauvoo Legion“ militäriſch or⸗
ganiſirt, um auf einen vorausſichtlichen Conflict mit den
„Heiden“ vorbereitet zu ſein. Joſeph Smith, dem der
Kamm mit ſeinen Erfolgen gewaltig ſchwoll, hatte ſogar
die Frechheit, ſich im Jahre 1844 als Candidat für die
Präſidentenwürde in Waſhington anzubieten. In Nauvoo
führte er im Geheimen die Vielehe unter den Mormonen
ein, welche Neuerung jedoch den Gentiles nicht lange ver⸗
borgen blieb. Wie zu erwarten ſtand, blieben ernſtliche
Keibungen mit der andersgläubigen Landbevölkerung nicht
aus, der die Mormonen und ihre abſonderlichen Religions⸗
übungen und Lehren ſchon längſt ein Dorn im Auge waren.
Die Stadt Nauvoo wurde von Pöbelhaufen bedroht, denen
Smith ſeine 4000 Mann ſtarke „Legion“ entgegenſtellte.
NETTE EEE EEE
139
Da bot der Gouverneur des Staates Illinois die Miliz
auf, der Prophet Joſeph ergab ſich freiwillig und wurde
nach dem Städtchen Carthage gebracht und dort in's Ge⸗
fängniß geworfen. Eine Bande des über alle Maßen auf⸗
geregten Volkes nahm das Geſetz in die eigene Hand, er⸗
brach die Thüren des Kerkers und ermordete den Pro⸗
pheten (am 27. Juni 1844), der dadurch zum Märtyrer
ſeines Volkes wurde.
Die Mormonen trennten ſich jetzt in verſchiedene Fac⸗
tionen. Sidney Rigdon, der erſte Rathgeber des Propheten
Joſeph, nahm die Zügel der Regierung eigenmächtig in die
Hand und erließ neue Geſetze und Verordnungen, welche
den Zwieſpalt nur vermehrten. Da erſchien ganz uner⸗
wartet der Apoſtel Brigham Young, der eben von
England zurückgekehrt war, unter den ſich zankenden Mor⸗
monen, erklärte Rigdon für einen elenden Betrüger und
ſeine Geſetze für Einflüſterungen des Teufels, ſtieß ihn mit
allen ſeinen Anhängern aus der Kirche, verfluchte ihn und
übergab ihn den Händen Satans auf tauſend Jahre. Sich
ſelbſt ließ er von den Mormonen zum Präſidenten wählen.
Neuengland hat die Ehre, das Vaterland dieſes zweiten
Mahomet zu ſein, der von ſeinen Nachfolgern „der Löwe
des Herrn“ genannt wird. Am 1. Juni 1801 erblickte
Brigham Young das Licht dieſer Welt in der Stadt
Whitingham im Staate Vermont. In ſeiner Jugend war
er ein eifriger Anhänger der Methodiſtenkirche. Er ver⸗
ſuchte ſich als Farmer, Anſtreicher und Glaſer; aber ſein
Ehrgeiz ſtrebte nach einem höheren Wirkungskreiſe. Im
Jahre 1832 ſchloß ſich Brigham Young den Mormonen
an, und jetzt hatte er ein paſſendes Feld für ſeine Thätig⸗
keit gefunden. Raſch ſchwang er ſich in der neuen Secte
von Rangſtufe zu Rangſtufe empor, bis er bei dem allge⸗
meinen Wirrwarr nach des Propheten Joſeph Tode in
140
Nauvoo die Kirche der „Heiligen vom jüngſten Tage“ vor
gänzlicher Auflöſung rettete und ihr zweiter Gründer ward.
Während er ſeine eigene Macht befeſtigte und vergrößerte,
ſorgte er nach Kräften für ſeine ihm am nächſten ſtehenden
Blutsverwandten, die er um ſich verſammelte und denen
er die einträglichſten Ehrenpoſten gab. Seine Brüder waren
ihm am eifrigſten ergeben, ſein Vater wurde der „erſte
Patriarch der Kirche“.
Sobald Brigham Young die Zügel der Regierung in
Nauvoo ergriffen hatte, unterwarf er alle Widerſpenſtigen
ſeinem eiſernen Willen, ſchüchterte die Schwankenden ein, er—
muthigte die Zaghaften und verſprach ſeinen Getreuen das
Himmelreich. Mit der nichtmormoniſchen Bevölkerung ſuchte
er ſich auf möglichſt freundſchaftlichen Fuß zu ſtellen und
bot Alles auf, um derſelben keinen neuen Anlaß zu thätiger
Feindſeligkeit zu geben. Bald blühte die Colonie Nauvoo
auf's Neue empor. Aber der Führer der Mormonen ſah
ein, daß hier, berührt von dem vergiftenden Einfluſſe der
„Ungläubigen“ und inmitten der rieſigen Culturentwickelung
an einer großen Verkehrsader, wie der Miſſiſſippi, ein
Bleiben ſeiner Anhänger nicht möglich ſei. Schon im fol—
genden Jahre (1845) begannen die Verfolgungen gegen die
Mormonen auf's Neue. Brigham beſchloß nun, in einer
entlegenen Gegend einen Mormonenſtaat zu gründen, wo
ein ſolcher, ehe die Wogen der neueren Civiliſation ihn er—
reichten, ſich zu ſelbſtſtändiger Größe entfalten könnte. Sein
Blick fiel auf die Gegend jenſeits der Felſengebirge, welche
Fremont eben erforſcht und als einer hohen Cultur fähig
erkannt hatte, auf ein Land, das damals nominell zur Re—
publik Mexiko gehörte und, nur von Indianern bewohnt,
ſo zu ſagen ganz herrenlos war. Sobald dieſer Entſchluß
unter den Nichtmormonen bekannt geworden war, geſtatteten
dieſe, froh, ihre unliebſamen Nachbarn aus dem Lande los
141
zu werden, denſelben, alles Grundeigenthum in der Colonie
Nauvoo zu veräußern. Sofort machten ſich nun auf Brigham's
Anordnung ein paar tauſend Mormonen als Vorhut auf
den Weg, gingen (im Februar 1846) auf dem Eiſe über
den Miſſiſſippi und begaben ſich nach der Mündung des
Platte in den Miſſouri, in welcher Gegend ſie auf die
Hauptſchaar ihrer Brüder warten und Vorbereitungen zur
Weiterreiſe treffen ſollten. Die Illinoiſer trauten jedoch
der Aufrichtigkeit der Mormonen nicht und fürchteten die
Zurückkunft der Weggezogenen. Als im Mai deſſelben
Jahres der Tempel in Nauvoo unter großen Feierlichkeiten
eingeweiht wurde, entbrannte ein neuer Verfolgungskrieg
gegen die Mormonen, der mit ihrer gänzlichen Vertreibung
aus Nauvoo (17. September 1846) endigte. Der Tempel
in Nauvoo wurde im Jahre 1848 von Brandſtiftern in
Aſche gelegt.
Unter Brigham MPoung's perſönlicher Führung wan—
derten die Hauptſchaaren der Mormonen, gegen 20,000
Köpfe ſtark, zunächſt nach der Mündung des Platte, in die
Nähe von Council Bluffs, wo ſie von den ihnen voran—
gegangenen Glaubensgenoſſen erwartet wurden. Als die
lange Wagencaravane mit der heimathloſen Menge von
Männern, Frauen und Kindern vorüberzog, tröſtete Brigham
die Weinenden und entflammte durch farbenglühende Prophe—
zeihungen die Zaghaften zu neuer Hoffnung. Unter der
bei Council Bluffs bis zum Frühjahr verweilenden ver—
wahrloſ'ten Menſchenmenge waren die Leiden während des
langen ſtrengen Winters herzzerreißend, und Viele ereilte
dort ein frühzeitiger Tod.
Der Zug vom Miſſourifluſſe nach dem großen Salz—
ſee fand unter unſäglichen Strapazen und Entbehrungen
ſtatt. Hungertyphus, Cholera und tödtliche Fieber wütheten
entſetzlich unter der wandernden Menge. Aber Brigham
3 4
Moung trieb fein Volk mit unermüdlicher Energie durch die
pfadloſe Wildniß immer weiter nach Weſten. Er ſelbſt
eilte mit den beſten Pferden, Rindern und Fuhrwerken
und einem Gefolge von 142 Mann voraus, Rationen,
Saatkorn, Haus- und Ackerbaugeräth mit ſich nehmend.
Am 24. Juli 1847 erreichte er das Ufergelände am großen
Salzſee, wo er ſofort einige Aecker mit Korn beſtellte,
Blockhäuſer zum Schutze gegen feindliche Indianer erbaute
und Vorkehrungen zum Empfange der großen Mormonen—
karavane traf. Im Herbſte deſſelben Jahres langte etwa
die Hälfte der Zurückgebliebenen vom Miſſouri an, wodurch
die Zahl der Colonie auf etwa 4000 Köpfe anwuchs, denen
im nächſten Jahre der Reſt folgte. Alle Uebrigen waren
den Strapazen und Krankheiten auf dem Exodus von Nauvoo
bis zum großen Salzſee erlegen. Zuerſt waren die Neu—
ankömmlinge in Verzweiflung, als ſie, anſtatt ein Land zu
finden, wo Milch und Honig fleußt, eine troſtloſe Wüſtenei
erblickten. Aber Brigham Poung, auf deſſen Schultern
der Mantel des Propheten Joſeph gefallen war, benutzte
geſchickt ſeine neue Macht. Er verkündete den Mormonen,
ihm ſei ein Engel des Herrn erſchienen, der ihm befohlen
habe, hier, an der Stätte des zukünftigen Königreiches
Gottes auf Erden, die Zelte aufzuſchlagen. Trotzdem er
wegen Mangels an Lebensmitteln gezwungen war, die
Mormonen während drei Jahren, bis die Ernten zum
Unterhalte genügten, auf halbe Rationen zu ſetzen, fügte
ſich doch die Mehrzahl von Jenen willig ſeinen weiſen An—
ordnungen. Den Verzweifelnden flößte er neuen Muth ein,
drohte, ſtrafte, prophezeite, und ging, wenn ſonſt nichts
mehr helfen wollte, mit Rath und That voran, — und
Salt Lake City und die blühenden Niederlaſſungen der
Mormonen am großen Salzſee ſind das redende Zeugniß
der Erfolge von ſeiner raſtloſen Energie.
143
Während des Exodus der „Heiligen“ von Nauvoo
nach Utah brach der Krieg der Vereinigten Staaten gegen
Mexico aus und durchkreuzte die Pläne des ehrgeizigen
Mormonenpropheten. Aber Brigham Young verftand es,
die neuen politiſchen Conſtellationen zu ſeinem Nutzen aus—
zubeuten. Er rüſtete ein Mormonenbataillon gegen die
Mexicaner aus und erhielt dafür bedeutende Summen von
der Regierung in Waſhington, wodurch es ihm möglich
wurde, ſich Lebensmittel ꝛc. für den Bedarf ſeiner nach Utah
wandernden Schaaren zu verſchaffen. Ehe der Friede
zwiſchen Mexico und den Vereinigten Staaten abgeſchloſſen
ward, gründete Brigham Young den unabhängigen Staat
Deſerét, zu deſſen Gouverneur er ſich ſelbſt, und ſeinen
Freund Heber C. Kimball zum Vicegouverneur creirte.
Nachdem die Vereinigten Staaten die Oberhoheit über Utah
erlangt hatten, erwirkte ſich Brigham Young (im 1850 — 51)
in Waſhington City den Poſten eines Gouverneurs des
Territoriums Utah und den eines Superintendenten der Ju—
dianerangelegenheiten, führte dabei aber die Regierung von
Deſerét ungenirt ſo nebenbei fort. Um die von Waſhington
nach Utah geſandten Civilbeamten kümmerte ſich Brigham
blutwenig und ſetzte ihrer Amtsthätigkeit alle möglichen
Hinderniſſe entgegen. Offenbar hatte er ſich den Poſten
eines Gouverneurs der Vereinigten Staaten nur deswegen
verſchafft, um der Centralregierung in Waſhington die Mög—
lichkeit zu nehmen, ihre Macht dort zu entfalten, ehe er die
ſeinige nach beſten Kräften befeſtigen konnte.
Im Jahre 1853 wurden die Eigenmächtigkeiten des
Gouverneurs Brigham Young in Utah fo arg, daß der
Congreß ihn allen Ernſtes abzuſetzen vorhatte. Als Jenem
dieſes zu Ohren kam, erklärte er trotzig in einer Rede im
Tabernakel, daß er ſo lange Gouverneur von Utah bleiben
wollte, bis der liebe Gott ſage: „Brigham, Du brauchſt nicht
144
länger Gouverneur zu ſein!“ — Die Regierung in Waſhington
konnte Niemanden finden, der der ſchwierigen Stellung eines
Gouverneurs von Utah gewachſen war und dieſen Poſten
annehmen wollte. Ihr blieb nichts übrig, als Brigham
Moung auf's Neue zum Gouverneur von Utah zu ernennen,
welchen Poſten er bis zum Jahre 1857 unbehindert be—
kleidete. Da ermannte ſich zuletzt die Regierung in Waſhington,
welche mit den von ihr nach Utah geſandten Bundesbeamten
von Brigham immer verächtlicher behandelt wurde, ernannte
A. Cummings zum Gouverneur von Utah und ſandte eine
Armee von 3000 Mann unter dem Befehl des Oberſten
A. S. Johnſton“* dorthin, um den neuen Gouverneur,
nöthigenfalls mit Waffengewalt, einzuſetzen und ſeinen
Mandaten Achtung zu verſchaffen.
Jetzt kam die intereſſante Epiſode des Mormonen—
krieges. Pikante Actenſtücke wurden von beiden ſtreitenden
Parteien erlaſſen. Brigham proklamirte ſofort Kriegsgeſetz,
verſpottete die Armee der Vereinigten Staaten und forderte
ſie großprahleriſch zum Kampfe heraus. In einer von ſeinen
Proklamationen heißt es wörtlich: Unſere Feinde ſagen, ihre
Armee käme im Namen des Geſetzes. Ich, Brigham Young,
verkünde hiermit der Welt, daß ſolch eine Behauptung ſo falſch
iſt wie die Hölle, und daß die ganze Bande ſchlimmer ſei,
als ein verrotteter Kürbiß. Kommt heran, ihr Tauſende von
Räubern und Halsabſchneidern, ich verſpreche Euch im Namen
des Gottes Israel, daß Ihr wie Schnee in der Juliſonne vor
meinem Zorne verſchwinden ſollt. Die Präſidenten Polk und
Zacharias Taylor braten bereits in der Hölle, und dem jetzigen
Präſidenten der Vereinigten Staaten ſoll es nicht beſſer er⸗
gehen, jo wahr ich Brigham Young heiße! — Die Mormonen
* Derſelbe fiel als commandirender General der confederirten
Armee in der blutigen el bei Shiloh (Pittburg Landing)
am 6. April 1862.
145
befeftigten, wie bereits erwähnt wurde, Echo Canon und
ſtießen gewaltig in die Kriegstrompete, jedoch nur in der
Abſicht, um bei ihrer nicht zu vermeidenden Unterwerfung
möglichſt günſtige Bedingungen von den Vereinigten Staaten
zu erlangen. Die Heldenthaten der „Heiligen“ beſchränkten
ſich auf das Stehlen von Pferden und ein gelegentliches
Plündern von unbeſchützten Proviantzügen des feindlichen
Truppencommando's. Als Schluß der Kriegsfarce kam ein
Compromiß zu Stande, wonach die Militärmacht der Ver—
einigten Staaten nach Salt Lake City hinein und gleich
wieder heraus marſchiren, Cummings aber als Gouverneur
von Utah dableiben ſollte.
Die Truppen der Vereinigten Staaten bezogen ein
Lager in Camp Floyd, vierzig engliſche Meilen ſüdlich
von Salt Lake City. Als auf Anordnung des Kriegs—
departements Utah wieder geräumt ward, wurden die in
Camp Floyd angehäuften Vorräthe und Transportfuhren
aller Art öffentlich verſteigert und von den Mormonen zu
Spottpreiſen erworben. Hierdurch legten viele von dieſen
den Grund zu ihrem nachherigen Wohlſtande. Wagen von
der beſten Bauart, mit vollem Geſchirr und mit je ſechs
prächtigen Maulthieren beſpannt, erhandelte Brigham, der
ſelbſtverſtändlich der Hauptkäufer war, zu fünfzig Dollars
die Fuhr — complet. Speck und Schinken kaufte er zu
Tauſenden von Centnern für einen Cent das Pfund, alle
anderen Vorräthe ebenſo. Als die Bundesarmee von Utah
abzog, wurden ein paar Compagnien in dem ſchon genannten
Camp Douglas zurückgelaſſen, eine Corporalswache über
das neue Jeruſalem, welche Brigham gänzlich ignorirte.
Sobald ſich die Occupationsarmee wieder aus Utah ent-
fernt hatte, begannen Brigham's Uebergriffe von Neuem,
und der von den Vereinigten Staaten eingeſetzte Gouver—
neur war und blieb eine vollſtändige Null. Dieſen betitelte
10
146
Brigham Young als „Gouverneur von den Salbeibüſchen“
(governor of the sage brush), während er ſich ſelbſt
„Gouverneur von Utah“ nannte.
Wer den Mandaten des Propheten widerſprach, den
verfolgte dieſer mit unerbittlicher Strenge. Einzelne Indi—
viduen, die ſich ihm beſonders verhaßt gemacht hatten, ver—
ſchwanden auf ſeltſame Weiſe meiſtens während einer „Reiſe
auf's Land“, welche Unfälle Brigham allemal den In—
dianern zuſchob. Die Daniten oder Racheengel, welche
nach dem Volksglauben die Henkersrolle bei ſolchen „Un—
fällen“ ſpielten, ſollen auch bei dem Blutbade von
Mountain Meadow (10. September 1857) die Hand im
Spiele gehabt haben, wobei einhundertfünfzig Emi—
granten, unter denen ſich eine Anzahl von abtrünnigen
Mormonen befand, von verkleideten Indianern ermordet
wurden. In dieſe Zeit fällt auch der ſogenannte Morri—
ſitenkrieg. Ein neuer Prophet, mit Namen Joſeph
Morris, trat unter den Mormonen in Utah auf und hatte
bald gegen 500 Proſelyten gemacht. Brigham Young, dem
die neue Gemeinde beſonders verhaßt war, benutzte ihre
Weigerung, in der Miliz zu dienen, als Vorwand zur Ver—
folgung. Eine Anzahl Morriſiten, worunter ihr Führer,
wurde getödtet oder ins Gefängniß geworfen, der Reſt ver—
jagt. Ein ſchlimmerer Widerſacher erſtand Brigham in
Joſeph Smith, dem Sohne des ermordeten Propheten
Joſeph Smith, der in Nauvoo den urſprünglichen Glauben
wieder aufrichtete, Jenen für einen falſchen Propheten
erklärte und alle Neuerungen, worunter die Polygamie,
verwarf. Die Joſephiten ſind bereits ſehr zahlreich öſt—
lich vom Miſſiſſippi, und auch in Utah hat Joſeph der
jüngere, trotzdem Brigham Moung ihn für einen Schwind—
ler und ſeine Lehren für Einflüſterungen des Teufels er—
klärt, viele Anhänger gefunden.
147
Brigham Young benutzte feine Stellung als weltliches
und kirchliches Oberhaupt der Mormonen, um ſeinen Ein—
fluß auf dieſelben überall geltend zu machen. Als unum—
ſchränkter Führer einer Gemeinde von vielen Zehntauſenden
von arbeitſamen und genügſamen Menſchen, die ſeinen Man—
daten unbedingt gehorchten, hat er die Wildniß in Wahr—
heit in einen Garten umzuwandeln gewußt. Nur durch das
cooperative Syſtem und eine umfaſſende Irrigation des
ſonſt ganz unproductiven Landes iſt dieſes möglich geweſen.
Die bedeutenden Mittel, welche dazu erforderlich waren, ver—
ſchaffte ſich Brigham hauptſächlich durch den Zehnten (tithing),
die Haupteinnahme der Kirche. Jeder Mormone iſt da—
nach verpflichtet, den zehnten Theil ſeines Einkommens an
die Kirche abzuliefern, oder den entſprechenden Werth davon
durch gemeinnützige Arbeit abzuverdienen. Neuankömmlinge
müſſen außerdem ein Zehntel ihres Vermögens hergeben —
Vieh, Fuhrwerke, Ackergeräth, Möbeln, Betten, Kochgeſchirr,
Kleider ꝛc. Zugleich werden fie bei ihrem Seelenheil er—
mahnt, mit dem zehnten Theil ihres Baarvermögens her—
auszurücken. Wer den Zehnten nicht prompt bezahlt, der
wird aus der Kirche ausgeſtoßen und verliert den Segen
des Propheten. Zum größten Theil wird der Zehnte in
landwirthſchaftlichen Producten, in Mehl, Getreide, Obſt,
Butter, Käſe, Hornvieh, Pferden, Schafen, Hühnern, ꝛc.
entrichtet, und manche arme Mormonenfamilie knappt ſich
das tägliche Brod vom Munde ab, um nicht des himmliſchen
Segens verluſtig zu werden. Ganz mittelloſe Familien dage—
gen, welche nach Utah einwandern, brauchen im erſten Jahre
den Zehnten nicht zu entrichten. Im erſten Winter werden
ſie aus der Kirchencaſſe unterhalten, man iſt ihnen beim
Bau der Farmgebäude und beim Einrichten der Wirthſchaft
behülflich, ſie bekommen Lebensmittel, Pferde, Ochſen, Wagen,
Saatkorn ꝛc. umſonſt, und im Frühjahr bebauen ſie ihr
10 *
148
Land, und können, wenn ſie fleißig find, bald zu Wohlſtand
gelangen. Solche Familien ſind natürlich die getreueſten
Anhänger der Kirche der Heiligen vom jüngſten Tage.
Brigham Poung, der ein ausgezeichneter Financier iſt,
verſteht es, alle Lieferungen des Zehnten vortheilhaft zu ver—
wenden. Die zahlreichen Arbeiter, welche von ihm theils
für Privatzwecke, theils am Tempel, Tabernakel und anderen
öffentlichen Bauten angeſtellt ſind, erhalten ihren Lohn
meiſtens in Producten, und zwar zu hohen Preiſen, aus—
gezahlt. Die übrig bleibenden Vorräthe werden entweder
in Waarenlagern für Baar verkauft oder nach den an—
grenzenden Minenländern geſandt und dort an die Gold—
wäſcher für Goldſtaub verhandelt. Den Speck und die
Schinken, welche Brigham in Camp Floyd für einen Cent
das Pfund kaufte, berechnete er ſeinen Arbeitern zu einem
viertel Dollar das Pfund. Für den Bau des Salt Lake
City⸗Stadttheaters hat er auf dieſe Weiſe 200,000 Dollars
ausgegeben. Seine Reſidenz, ſein Harem und die Gebäude
im „Prophetenblock“ ſeine zahlreichen Farmen und Gebäulich—
keiten aller Art, Baumwollenfabriken, Säge- und Mehlmühlen,
ꝛc., die im Territorium zerſtreut liegen, koſten ihm einen wahren
Spottpreis. Von England aus bekam er 100,000 Dollars
in Gold zum Bau des Tempels zugeſchickt, welche Summe er
einfach behielt und dafür den Arbeitern Speck und Mehl
vergütete. Welche enormen Summen der ſpeculative Prophet
auf dieſe Weiſe bereits eingeſäckelt hat, davon kann man
ſich einen Begriff machen, wenn ich ſage, daß der Zehnte
von der europäiſchen Miſſion allein ihm mindeſtens eine
halbe Million Dollars eintrug. Da von jeher alle Con—
trolle über den Zehnten gefehlt hat, ſo konnte Brigham da—
mit ſchalten und thun, wie er Luſt hatte. Im Zehntamt
ſind eine Menge von „Clerks“ angeſtellt, die wenig oder
gar nichts zu thun haben, mit Jahresgehalten von tauſend
149
Dollars und mehr, und die fo zu ſagen des Präſidenten
Leibgarde bilden. Ihre Mußezeit widmen dieſe intereſſanten
Jünglinge dem Dienſt der Muſen, indem ſie im Salt Lake
City⸗Stadttheater ſpielen, was Brigham, der auf dieſe
Weiſe die meiſten Schauſpieler umſonſt hat, wieder manchen
„ehrlichen Pfennig“ einträgt.
Die Finanzſpeculationen des Propheten beſchränken ſich
jedoch keineswegs auf die Verwaltung des Zehnten. Mit
irdiſchen Gütern beſonders reich geſegnete Brüder ſchickt
derſelbe, oft auf mehrere Jahre, nach auswärtigen Miſſionen,
verwaltet in ihrer Abweſenheit deren Vermögen, oder kauft
ihnen ihr Hab und Gut zu niedrigem Preiſe ab. Wen der
Prophet zu einem ſolchen Ehrenpoſten auserwählt hat, der
muß ſich ſofort auf die Wanderung begeben, oder er wird
aus der Gemeinſchaft der „Heiligen“ ausgeſtoßen. Zu—
gleich giebt dies eine treffliche Gelegenheit, um ſolche Mit—
glieder der Gemeinde, welche einen beſonders raſtloſen Geiſt
zeigen, in die Fremde zu ſchicken, wo ſie für ihre Eitelkeit
und ihren Fanatismus ein weites Feld finden und dabei
Brigham daheim nicht unangenehm werden können.
Bei der Beſitzergreifung von Utah vertheilte Brigham
Young die einträglichſten Domänen, Waſſerprivilegien, Fähren,
Holzungen, Wieſengründe ꝛc. unter die Führer der „Heili—
gen“, er ſelbſt aber nahm den Löwenantheil. Außerdem
ließ er ſich von der Legislatur des „Staates Deſerét“ an—
ſehnliche Landſchenkungen machen, jo daß ſo ziemlich all
das beſte Land in Utah ihm und ſeiner Familie gehört.
Aus der Bundescaſſe in Waſhington City bezog er viel
Baargeld zur Errichtung von Staatsgebäuden, welche er
nach oben genanntem Plane für Productenlieferungen er-
bauen ließ. In Salt Lake City hat er ſich mit den größten
Handelsfirmen aſſociirt, er iſt Director einer Bank, hat das
Monopol einer Branntweinbrennerei und iſt Eigenthümer
150
des Stadttheaters. In den Landdiſtricten beſitzt er viele
Sägemühlen, Farmen, Meiereien ꝛc. Eine Telegraphen—
leitung, die alle bedeutenderen Niederlaſſungen in Utah ver—
bindet, gehört ihm allein, und neuerdings machte er einen
Contract mit der Unionpacific-Eiſenbahngeſellſchaft, wodurch
er ſich verpflichtet hat, 200 engliſche Meilen jener Bahn zu
bauen. Mit einem Wort, wo etwas zu verdienen iſt, da
iſt Brigham Poung dabei und ſpielt in jedem Falle die erſte
Rolle. Sein Vermögen, wovon er in Baar große Summen
in öſtlichen Banken und in der Bank von England angelegt
haben ſoll, ſchätzt man auf mindeſtens zehn Millionen
Dollars Gold.
Wundern muß man ſich, wie es möglich geweſen iſt,
daß Brigham Moung einen ſolchen Einfluß über die Mor—
monen erlangen konnte, daß ſie ſeinen Mandaten blind—
lings Folge leiſten. Aber er hat ſeine Heerde ausſchließlich
unter den niederſten Volksklaſſen in Europa ausgeſucht, mit
denen er, da die ganze Mormonenreligion auf Aberglauben
baſirt iſt, ſo ziemlich thun kann, was er will. Nur die
Führer der Mormonen, welche natürlich ganz im Intereſſe
des Propheten handeln, können einigermaßen auf Bildung
Anſpruch machen, und unter ihnen findet man in der That
geriebene Leute, meiſtens Yankees vom reinſten Waſſer,
die auch in den großen Städten des Oſtens nicht zu den
verlorenen Schafen zählen möchten. Man braucht nur die
Geſichter der Mormonen anzuſehen, denen man in den
Straßen von Salt Lake City begegnet, um ihre Herkunft
errathen zu können. Die Hälfte von ihnen ſtammen von
den britiſchen Inſeln, wo ſie augenſcheinlich auf der nie—
drigſten geſellſchaftlichen Stufe geſtanden haben, und Schwe—
den, Dänen und Norweger ſind beſonders ſtark unter ihnen
vertreten. Deutſche giebt es gottlob nur wenige unter den
„Heiligen“. Polen, Franzoſen, Finnen, Isländer, Polyneſier,
151
Oſtindier ꝛc. find jede Nation mit einigen Exemplaren ver-
treten. Auch die Juden haben einen Delegaten in der poly-
gamiſchen Geſellſchaft. Brigham behauptet, es gebe fünfzig
Nationalitäten unter den Mormonen in Utah.
Auf claſſiſche Bildung macht Brigham Young keinen
Anſpruch; aber ſeine Redeweiſe hat etwas Urkräftiges, das
Einen die grammatikaliſchen Ungeheuerlichkeiten, denen er
ſich öfters ſchuldig macht, vergeſſen läßt. Sein Auditorium
weiß er durch Ausfälle gegen die Gentiles und durch in—
tereſſante Anekdoten zu feſſeln. Die Wunder, welche Gott
an ihm offenbart, bezweifelt von den Gläubigen Niemand.
Im Tabernakel erzählte er einmal, daß er achthundert
Meilen weit mit nur dreizehn und einem halben Dollar
„Greenbacks“ im Koffer gereiſ't ſei. Aber das Geld hätte
für alle Ausgaben genügt, denn jeden Morgen hätte die—
ſelbe Summe (genau dreizehn und einen halben Dollar
„Greenbacks“) wieder im Koffer gelegen — „from the
Lord!“ — Daß der liebe Gott ſich neuerdings mit Papier-
ſcheinen ſtatt mit grob Courant befaßt, iſt jedenfalls in—
tereſſant! — Ein anderes Mal erzählte Brigham, er habe
einer armen Frau fünf Dollars aus ſeiner linken Weſten—
taſche als Almoſen gegeben. Am nächſten Tage hätten zehn
Dollars in derſelben linken Weſtentaſche geſteckt, ſo wahr
er Brigham heiße! gleichfalls — „from the Lord!“ —
Während der Predigt inſtruirt er nicht ſelten die Gemeinde
in der Landwirthſchaft — wie man pflügen und ſäen ſolle,
auf welche Weiſe der Boden am vortheilhafteſten bewäſſert
werde, wann Bäume umgepflanzt, gepfropft und beſchnitten
werden ſollten, wie man am beſtem Hämmel ſcheere, Käſe
und Butter mache, Fleiſch einſalze, Schinken und Würſte
räuchere, Kapaunen verſchneide, Schweine mäſte, die Racen
der Pferde und des Hornviehs veredele ꝛc. Politiſche Tages—
fragen werden breit erörtert. Soll eine öffentliche Wahl
152
ftattfinden, fo ſpricht Brigham, nachdem er zuerſt gefagt,
daß Jeder frei ſtimmen könne, wie er wolle, im Tabernakel
ſeine Meinung aus, für wen er ſtimmen werde, — welchen
„Wink mit der Scheunenthüre“ die gehorſame Gemeinde
natürlich verſteht und wie ein Mann gerade ſo ſtimmt,
wie der Präſident.
Gegen Fremde ift Brigham Young zuvorkommend und
gaſtfrei, wie es alle Mormonen ſind, und Jeder, der ihn
beſucht, wird von ihm eingenommen. Von den Mormonen
wird er förmlich vergöttert. Mit einem Wort, der Prophet
iſt zum Herrſcher wie geboren. Die geordneten Zuſtände in
Utah geben hierfür einen ſchlagenden Beweis. Es iſt eine
unbeſtreitbare Thatſache, daß die Mormonen arbeitſamer und
ordentlicher ſind und den Geſetzen (d. h. ihren eigenen) unbe—
dingter gehorchen, als irgend eine andere Claſſe von Einwoh—
nern auf dieſem Continente. Diebſtahl, Trunkenheit, unmorali—
ſcher Lebenswandel, Schlägereien und Straßenunfug gehören
in Salt Lake City und in den kleineren Ortſchaften zu den
großen Seltenheiten. Brigham Young beſtraft Ruheſtörer jed—
weder Art mit eiſerner Strenge. Als Landwirth ſucht er in
der Welt ſeines Gleichen, und ſeinen weiſen Anordnungen allein
verdankt Utah ſeinen gegenwärtigen Wohlſtand. Ganz Utah iſt
jo zu jagen eine große Plantage und Brigham Young iſt der
Pflanzer, dem Jedermann unbedingt Folge leiſtet. Ob das
Reich der Mormonen in Utah mit Brigham's Tode zer—
fallen und welchen Einfluß die Pacifiebahn auf den Be—
ſtand deſſelben haben wird, läßt ſich nicht vorherbeſtimmen.
Es hat den Anſchein, daß Brigham ſeine Schöpfung mit
ſtarker Hand, ſo lange er lebt, zuſammenhalten, aber nach
ihm die Mormonenkirche und ihre weltliche Macht in Utah
in den Wogen der Civiliſation, die über fie hereinbrechen
müſſen, Schiffbruch leiden wird. In der Culturgeſchichte
der Vereinigten Staaten von Nordamerika wird Brigham
153
Moung’s Name ehrenhaft fortleben; denn durch ſeine raft-
loſe Energie und die Pflanzung der Mormonen im großen
Salzſee-Becken wurden die Wildniſſe im Innern dieſes Con⸗
tinentes der Civiliſation erſchloſſen und damit der Grund
zu künftigen blühenden Staaten gelegt. Ein Mann wie
Brigham Young, der, ganz auf feine eigene Kraft ange—
wieſen, inmitten einer ungeheuren Wüſtenei ein blühendes
Gemeindeweſen ſchaffen konnte, gehört gewiß zu den be—
deutendſten Erſcheinungen dieſes Jahrhunderts! —
Noch einige Bemerkungen über die complicirte Re—
ligion der Mormonen und ihre beſondere Inſtitution in
Utah, die Polygamie.
Nach dem Mormonenglauben exiſtiren viele Götter von
verſchiedener Vervollkommnung, und zwar beiderlei Geſchlechts,
die auf den zahlloſen Sternen im Weltall zerſtreut wohnen.
Für uns Menſchen hat aber nur ein Gott Bedeutung,
Gott der Vater, welcher die Menſchen und die Erde ge—
ſchaffen hat. Von ihm werden unſere Seelen im Himmel
gezeugt und dann in menſchliche Körper auf die Erde ver—
pflanzt. Gott der Vater hat die Geſtalt eines Mannes,
mit menſchlichen Leidenſchaften, und iſt aus geiſtiger Materie
gebildet, die ſich von der körperlichen nur durch ihre Fein—
heit unterſcheidet. Gott iſt allmächtig, aber nicht perſönlich
allgegenwärtig, in welcher letzten Eigenſchaft er vom heili—
gen Geiſte erſetzt wird. Jeſus Chriſtus war der natürliche
Sohn von Gott dem Vater und beſaß den Geiſt Gottes
in einem menſchlichen Körper. Von Gott dem Vater unter—
ſcheidet er ſich nur dadurch, daß er der jüngere von beiden
iſt. Gott der Vater führt als der ältere das Präſidium
im Weltall. Der Heilige Geiſt iſt ein das ganze Weltall
durchdringendes electriſches Fluidum, durch ihn finden alle
Wunder und Offenbarungen ſtatt. Durch Händeauflegen eines
dazu autoriſirten Prieſters kann der Heilige Geiſt jedem
154
Menſchen mitgetheilt werden, der alsdann Wunder zu thun
vermag, z. B. prophezeihen, in fremden Sprachen reden,
Kranke heilen c. Der Urgott, der Stammvater aller an—
deren Götter, reſidirt auf dem Sterne Kolob, im Centrum
des Weltalls. Dieſer Stern dreht ſich in tauſend Erd—
jahren ein Mal um ſeine Achſe, und eine Umdrehung des
Kolob iſt ſo viel wie ein Tag für den Allmächtigen.
Es giebt drei Himmel, einen teleſtiſchen Himmel, einen
irdiſchen Himmel und einen himmliſchen Himmel. Die zwei
letztgenannten werden von den Seelen der Abgeſchiedenen
nach Rangclaſſen bewohnt, während der teleſtiſche Himmel
den Göttern, Engeln ꝛc. zugewieſen iſt. Der teleftifche
Himmel wird durch die Sterne dargeſtellt, der irdiſche
Himmel durch den Mond, der himmliſche Himmel durch die
Sonne. Der himmliſche Himmel iſt gegenwärtig für die
verſtorbenen Mormonen reſervirt, wird aber nach der Wie—
derkunft Chriſti auf die durch ihn verfeinerte und verklärte
Erde verlegt werden. Chriſtus wird Jeruſalem wieder auf—
richten, und Zion wird in Jackſon County in Miſſouri ge—
baut werden. Die Hölle iſt nur für ſolche beſtimmt, welche
gegen den Heiligen Geiſt geſündigt haben, d. h. die von
der wahren Kirche, der ſie beigetreten waren, wieder abge—
fallen ſind, ſowie für einige Erzſünder, worunter ſich mehrere
Präſidenten der Vereinigten Staaten, welche die Mormonen
verfolgt haben, befinden. Gott der Vater hat den alten
wahren Glauben, der verloren gegangen war, dem Pro—
pheten Joſeph Smith wieder offenbart. Alle, die Joſeph
als Propheten anerkennen und von Jemanden getauft wor—
den ſind, den er oder ſeine Nachfolger dazu autoriſirt haben,
ſind die Heiligen vom jüngſten Tage und werden mit Chriſtus
tauſend Jahre lang auf Erden regieren.
Die inneren Angelegenheiten der Kirche werden durch
den Präſidenten, dem zwei Rathgeber zur Seite ſtehen,
155
durch die Collegien der zwölf Apoſtel, der Siebziger, der
Hohenprieſter, der Patriarchen und der Aelteſten, einen
Hohen Rath und die Aaroniſche Prieſterſchaft verwaltet *
Der Gottesdienſt der Mormonen beſteht aus Gebet, worin
ſich Bitte um Segen für ihren Präſidenten und Ver—
wünſchungen gegen ihre Feinde vereinigen, aus dem Singen
von weinerlichen Hymnen, die ein Abklatſch aus methodiſti—
ſchen Geſangbüchern ſind, ſowie aus Vorträgen über po—
litiſche und nationalöconomiſche Fragen.
Mit der Lehre von der Polygamie, welche der Pro—
phet Joſeph bereits in Nauvoo insgeheim einführte, trat
Brigham Young am 29. Auguſt 1852 in Salt Lake City
zum erſten Male öffentlich hervor. Niemand, der bereits
im Beſitz einer Frau iſt, darf nach jener Lehre eine zweite
nehmen, ohne erſt den Präſidenten der Kirche deshalb um
Erlaubniß gefragt zu haben, der ſeinerſeits mit Gott dem
Vater über das Annehmbare des Vorſchlags Rückſprache
halten wird. Auch muß der Applicant die Zuſtimmung der
Eltern ſeiner Braut, der ſeiner erſten Frau und der Aus—
erwählten ſelbſt haben. Verweigert die erſte Frau ihre Zu—
ſtimmung, ſo kann der polygamiſche Candidat an den Prä—
ſidenten appelliren, und iſt jene nicht im Stande, triftige
Gründe anzugeben, weshalb ihrem Gemahl der Troſt einer
* Wer ſich für das Mormonenthum und die Geſchichte der
Heiligen vom jüngſten Tage beſonders intereſſirt, dem kann ich
Robert von Schlagintweit's neueſtes Buch (Die Mormonen
oder die Heiligen vom jüngſten Tage, von ihrer Entſtehung bis auf
die Gegenwart. Cöln und Leipzig, 1874, bei Eduard Heinrich
Mayer) beſonders empfehlen. Der gelehrte Verfaſſer hat in jenem
Werke eine ausführliche Schilderung der Mormonen, ihrer Geſchichte
ihres Glaubens ꝛc., nach den neueſten Quellen gegeben, eine Arbeit,
die ſich durch populäre Schreibart und objective Darſtellung gleich—
mäßig auszeichnet. . Th. Kf.
156
zweiten Frau verſagt werden folle, jo wird ihm dennoch
geſtattet, dieſe heimzuführen. Frauen werden entweder für
das Zeitliche oder für die Ewigkeit oder für beide Fälle,
oft verſchiedenen Männern zugleich „angeſiegelt“. Bei einer
ſolchen Ehe gehört die Frau dem einen Gemahl für dieſe
Zeit, während ſie nebſt ihren Kindern einem Anderen für
die Ewigkeit anheimfällt. Brigham hat vier ſolcher Frauen,
welche nach ihrem Tode mit der Nachkommenſchaft dem
Propheten Smith überliefert werden ſollen, während Jener
ſich mit zeitlicher Eheſtandsfreude begnügt. Ob Smith im
Himmel ſeine Zuſtimmung zu dem Frauen- und Kinder—
handel geben wird, möchte wohl zweifelhaft ſein! — Brigham
ſind eine Menge Frauen, die aber nicht im Harem aufge—
nommen ſind, für die Ewigkeit angeſiegelt, — meiſtens alte
Jungfern, die ſich im Himmel für die gezwungene Ent—
ſagung auf Erden zu entſchädigen gedenken.
Unter den Mormonen iſt ſogar das Heirathen von
Halbgeſchwiſtern erlaubt, und ein beſonders Frommer darf
Mutter und Tochter zugleich an den Altar führen. Mancher
Heiliger heirathet für Zeit und Ewigkeit gleich „die ganze
Familie“, damit Mutter und Töchter bis an's Ende der
Tage zuſammen leben können. Die verſchiedenen Verwandt—
ſchaftsgrade, welche durch ſolche Ehen entſtehen, ſind oft recht
originell. Ein Mormone kann z. B. leicht ſein eigener
Großvater oder ſein eigner Sohn werden, und die ange—
nommenen Bezeichnungen von Mutter, Schweſter und Tochter
ſind unter den Mormonenfrauen durchaus nicht ſtichhaltend.
Es iſt oft ſchwerer, bei den Heiligen einen Verwandtſchafts—
grad zu beſtimmen, als einen verwickelten Rebus zu löſen.
Brigham hat durch ſeine vielen Frauen und Stellvertretungs—
frauen und ſeine mit Frauen geſegneten Brüder und Vettern
ſo viele Familienbande in Salt Lake City geknüpft, daß er
mit der halben Stadt verwandt iſt. Uebrigens haben keines—
157
wegs alle Mormonen in Utah mehrere Frauen; nicht ein-
mal der vierte Theil von ihnen treibt, namentlich wegen
des Koſtenpunktes, practiſch Polygamie, und zwar ſind es
nur die Führer der Kirche, welche einen förmlichen Harem
beſitzen. In wohlgeordneten Mormonenfamilien, wo mehrere
Frauen einem Manne angeſiegelt ſind, führt allemal die
erſte Frau das Präſidium im Hauſe, d. h. wenn die ganze
Familie beiſammen wohnt. Aber dies iſt durchaus nicht
immer der Fall. Ein Mormone heirathet z. B. vier
Frauen. Mit einer lebt er zu Hauſe; die anderen drei
führen eine Haushaltung für ſich in einer beſonderen Woh—
nung in der Stadt oder auf dem Lande, verdienen Geld
mit Waſchen, Nähen, Handarbeit u. d. m. Gelegentlich be—
ſucht der polygamiſche Gemahl ſeine weiblichen Koloniſten,
caſſirt die Erſparniſſe derſelben ein und läßt ſich von ihnen
bewirthen; ein Schlaraffenleben, welches den Neid manches
unbeweibten Gentiles erregt!
Brigham vertheidigt die Polygamie von verſchiedenen
Standpuncten — bibliſchen, ſtaatlichen und geſellſchaftlichen.
Ueber die gleichmäßige Vertheilung der Geſchlechter, als ei—
nen Hauptgrund gegen die Vielehe, kommt er leicht hinweg.
Tauſende von Männern leben, wie er ſagt, freiwillig im
Cölibat, während es unter einer Million Frauen kaum
eine einzige giebt, die nicht gern einen Mann nehmen würde,
könnte ſie nur einen bekommen.
Seit im Congreß der Vereinigten Staaten viele Stim—
men gegen die Vielweiberei laut geworden ſind und bereits
mehrere Male Geſetzvorſchläge gemacht wurden, dieſelbe mit
Gewalt in Utah zu unterdrücken, ſind die Mormonen ſehr
ſchweigſam über ihre „ſpecielle Inſtitution“ geworden. Zu
wünſchen wäre, daß Brigham in nicht allzuferner Zukunft
als Prophet den Heiligen vom jüngſten Tage verkündete:
der liebe Gott habe ſich die Polygamie überlegt und als
158
nicht zeitgemäß wieder abgeſchafft! — Daß dies gegen alle
Begriffe von Sittlichkeit und Heiligkeit der Ehe in einem
chriſtlichen Lande verſtoßende Inſtitut auf die Dauer, wenn
Utah durch die Pacificbahn in enge Berührung mit den
übrigen Landestheilen der Union gekommen iſt, nicht fort—
beſtehen kann, muß auch ihm klar ſein. Wollen ſich die
Mormonen im Glauben von ihren Führern noch ferner
humbuggen laſſen, ſo geht das im Grunde genommen Nie—
manden etwas an; aber mit den Civilgeſetzen der Vereinigten
Staaten dürfen ſie nicht in Conflict gerathen, und es darf
nicht dieſelbe Handlung in einem Theile der Union
erlaubt ſein, die in allen anderen Theilen der—
ſelben für ein Verbrechen gilt.“
* Mit der Vielweiberei in Utah ſteht es gegenwärtig (1874)
in Utah nicht beſſer als im Jahre 1867 und die Heiligen ſind ſo
obſtinat gegen die Regierung der Vereinigten Staaten wie je. Ob—
gleich Brigham Poung bereits im April 1873 fein Amt als Ver—
walter der Kirche niedergelegt und ſich auch von der co-operativen
Handelsgenoſſenſchaft und von anderen Aemtern zurückgezogen hat,
iſt ſein Einfluß auf die innere Leitung aller das Mormonenthum
betreffenden Angelegenheiten doch derſelbe geblieben. Dadurch, daß
den Frauen (ſeit dem 12. Februar 1870) Stimmrecht in Utah er—
theilt wurde, haben ſich die Mormonen ihre Majorität den Gentiles
gegenüber zu erhalten gewußt. Allerdings fehlt es nicht an Zwiſtig—
keiten unter den Heiligen, aber die Kirchenpartei hat die Liberalen in den
letzten Wahlen dennoch zu ſchlagen gewußt. Der gegenwärtige Gou—
verneur von Utah G. L. Woods (ein alter Bekannter von mir
aus Oregon) hat ſeine liebe Noth mit den Heiligen, die ihm „die
Hölle heiß machen.“ Mit dem in Camp Douglas garniſonirenden
Militärcommando der Vereinigten Staaten ſind Reibereien an der
Tagesordnung, die Polizei in der großen Salzſeeſtadt arretirt die
dorthin kommenden Soldaten unter den nichtigſten Vorwänden. Der
in Camp Douglas commandirende Officier hat ſich bereits an den
Präſidenten Graut um Hülfe gewendet, da er, nach ſeinen eigenen
D.
Von der Mormonenſtadt am Salzſee nach
dem Goldlande Idaho.
1. Nordwärts zum Schlangenfluß.
Der 10. Mai 1867 fand mich auf's Neue auf der
Reiſe, diesmal direct nach Norden, dem Goldlande Idaho
zukutſchirend, dem Ziele meiner 1500 Meilen langen Stage—
Worten, „machtlos ſei, die Geſetze zur Geltung zu bringen“. Der
in Utah tagende Gerichtshof der Vereinigten Staaten iſt in eben ſo
ſchlimmer Lage wie die Militärmacht, und der Richter, welcher es
unmöglich fand, einen gegen Brigham gefällten Urtheilsſpruch aus—
zuführen, ſagte (im Februar 1874): „ich muß das demüthigende
Geſtändniß machen, daß ich hier vollſtändig machtlos bin. Jeder—
mann in Utah weiß, daß Brigham Young über dem Geſetze
ſteht ꝛe.“ — Daß ſolche Zuſtände in Utah auf die Dauer unmöglich
ſind, muß jedem Unbefangenen einleuchten. Wie ſich das Mormo—
nen⸗Problem löſen wird, ob durch Waffengewalt von Außen, ob
durch inneren Zerſetzungsproceß in der Kirche der Heiligen, läßt
ſich allerdings ſchwer vorausſagen. Lange wird Brigham Young,
der bereits 73 Jahre zählt, wohl nicht mehr leben, und es ſcheint
faſt, daß ſich die Regierung der Vereinigten Staaten ſcheut, bei ſeinen
Lebzeiten die Initiative zu ergreifen. Daß aber nach des Propheten
Tode Utah ſchlimme Tage bevorſtehen, dieſes vorauszuſagen, dazu
bedarf es wahrlich keines Propheten! Der Verfaſſer.
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fahrt. Noch 500 engliſche Meilen und ich follte mein „El—
dorado“ erreichen. Da ich bereits jo an 600 Stunden zu-
rückgelegt, ſeit ich die Stadt Solomon in Kanſas verlaſſen,
ſo kam mir dieſes letzte Hauptdrittheil meiner Ueberland—
reiſe übrigens gar nicht mehr ſo lang vor. Die Stage—
kutſche ſchien mir nur ein Palankin auf Rädern zu ſein,
allerdings mitunter etwas unbequem, namentlich wenn ſie,
wie zwiſchen Denver und Salt Lake City, bald ein Schmutz
wagen, bald ein Käfig oder ein Rumpelwagen mit Poſtſack—
kiſſen war, und die Paſſagiere meilenweit durch tiefen Schmutz
und halbgeſchmolzenen Schnee nebenher ſpazieren mußten.
Aber daran gewöhnt man ſich bald und ich kann nicht läugnen,
daß ich das vielſeitige Fuhrwerk, Stage genannt, wirklich
lieb gewonnen. Das Wetter am heutigen Morgen war
wunderſchön; eine luſtige Geſellſchaft von Goldgräbern aus
Montana hatte ich zu Reiſegefährten, und als ich bei dem
Kutſcher auf dem hohen Bock einer eleganten Concord-Stage
Platz nahm und unſer muthiges Sechsgeſpann von herr—
lichen Braunen, blank geſtriegelt als ob ſie ſoeben aus einem
königlichen Marſtall kämen, durch die idylliſchen Straßen
von Salt Lake City ſprengte, da ward mir wieder einmal
ſo recht kannibaliſch reiſewohl.
Die breite Oſt⸗Tempelſtraße ging es raſſelnd entlang,
die um die achte Morgenſtunde bereits von Fußgängern
und Fuhrwerken lebendig war; linker Hand blickte das rieſige
Schildkrötendach des Tabernakels zum letzten Male auf mich
herab und rechts hinüber warf ich einen Scheidegruß nach
Brigham's idylliſchem Harem. Die blühenden Pfirſichbäume
nickten im hellrothen Frühlingsſchmuck über die hohen Stein—
wälle vom Prophenblock, und die Waſſer ſprudelten neckiſch
und klar unter dem Schatten grüner Acacien und canadiſcher
Pappeln an den breiten Gehwegen dahin, der Himmel
ſchaute jo blau, die Gebirge leuchteten fo ſilbern und die
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Menſchen grüßten fo freundlich, als ob Alles, Natur und
Menſchen, ihr Sonntagskleid angezogen, um mir ein fröh-
liches „Good bye!“ von der Stadt der Heiligen nach—
zurufen.
Bald hatten wir die „warmen Bäder“ erreicht; am
Fuße des Fahnenpics rollten wir hin, von deſſen Gipfel
ich am letzten Abend eine ſo herrliche Rundſchau genoſſen,
und nicht lange währte es, ſo lag die heilige Stadt in dem
ſchimmernden Blüthengarten weit hinter uns. Drei und
eine halbe engliſche Meilen von Salt Lake City paſſirten
wir eine zweite heiße Schwefelquelle, in der man Eier in
fünf Minuten hart kochen kann. Die Quelle ſprudelte aus
einem Felſen hervor und bildete ein kleines Baſſin, in dem
das kryſtallhelle Waſſer auf ſmaragdgrünem Moosgrunde
ſich ſeltſam ausnahm. Wir kamen jetzt durch anſehnliche
Mormonenniederlaſſungen. Rechts hoben ſich die Berge
nahe am Wege empor, links lagen grüne Felder und Wieſen,
von Hunderten von Bewäſſerungsgräben durchſchnitten, und
erſtreckten ſich bis zum ſchimmernden Spiegel des großen
Salzſees. Schmucke Wohnungen und Farmgebäude lagen
in Parks von Obſtbäumen verſteckt, die alle in voller Blüthe
ſtanden. Auf den fernen Inſeln im Salzſee ragten ſteile
Bergkuppen empor, hier und da noch mit Schnee bedeckt.
Der Kutſcher, mit dem ich bald intim wurde, war
ein Texaner, ein wettergebräunter, verwogen ausſehender
Geſell, der aus demſelben Orte herkam, wo ich mehrere
Jahre lang vor dem amerikaniſchen Bürgerkriege gewohnt.
Ich hatte die Ehre, daß er ſich meiner Wenigkeit wohl—
wollend erinnerte. Er behauptete ſogar, einmal in meinem
Store ein Paar Stiefeln gekauft zu haben, die aber ſpott⸗
ſchlecht und ſehr theuer geweſen ſeien, was ich jedoch ent—
ſchieden in Abrede ſtellte, da mein Schuhzeug in Texas
ſtets großes Renommee gehabt. Während des Krieges hatte
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er in den conföderirten Heerſchaaren unter General Price
in Miſſouri und Arkanſas gedient. Seinen Reden nach
hielt ich ihn ſtark in Verdacht, daß er ſich dort als „Jay⸗
hawker“ (Buſchklepper) unter dem berüchtigten Guerilla
Quantrell für die „verlorene Sache“ nützlich gemacht. Nach
dem Zuſammenbruche der „Confederacy“ war er nach Utah
ausgewandert. Er vertraute mir an, daß er ſich in eine
von des „Präſidenten“ Frauen mit Namen Mary ſterblich
verliebt hätte und nächſtens eine Offenbarung vom lieben
Gott erwarte, die ihm geſtatten werde, Mary gewaltſam
zu entführen und mit ſich nach Texas zu nehmen. Freund
Brigham ſollte den unmoraliſchen Geſellen aufs Korn neh—
men, der ihm den Hausfrieden ſtören wollte, und ſeine re—
volutionären Ideen vom rebelliſchen Süden ſogar bis nach
den friedlichen Pfirſichhainen von Deſerét zu tragen ſich
erkühnte.
Wir fuhren am großen Salzſee hin und kamen durch
anſehnliche Städtchen, Centreville, Farmington und andere,
in denen die Mormonen uns freundlich grüßten. Wo man
hinſah, zeigten ſich die Früchte ihres Fleißes — freundliche
Wohnungen, anſehnliche Farmgebäude und Stallungen,
mächtige Heu- und Kornſchober, ſchmuckes Vieh, herrliche
Obſtgärten und wohlbebaute Felder, die von zahlreichen
Irrigationscanälen durchſchnitten waren. Je mehr ich von
der Induſtrie der Mormonen ſah, um ſo mehr mußte ich
erſtaunen über die Macht und den Willen eines Mannes,
dem ein ganzes Volk freiwillig unbedingt gehorchte und,
ſeinen weiſen Anordnungen folgend, eine Salbeiwildniß in
wenigen Jahren in ſolch ein Paradies verwandelt hatte.
Die Landſchaft behielt ihr maleriſches Gewand. Der bläu—
lich⸗grüne Salzſee mit den blendend weißen Ufern, woran
ſich hellgrüne Wieſen lehnten, in der Ferne hohe Gebirgs—
züge, welche ſich durch Hintereinanderſchieben der Winkel
u ee
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allmählich veränderten, hier in grünen gewölbten Kuppen
hoch aufſteigend, dort, die Gipfel oft ſchneebedeckt, jäh ab⸗
fallend, gaben herrliche Bilder. Die im bunten Frühlings-
ſchmucke prangenden Obſtgärten, die freundlichen Einzel—
wohnungen und Dörfer und ein ſüdlicher Duft, der über
der Landſchaft lag, entzückten das Auge. Unangenehm
waren nur die vielen rieſigen ſogenannten „Bergmuskitos“
und die Millionen von Gnats leine Art kleiner biſſiger
Mücken), welche unſere Pferde ſchrecklich plagten. Die
Bergmusquitos ſchienen mir Vettern der Musquitos im
Miſſiſſippidelta zu ſein, welche bekanntlich durch einen fran—
zöſiſchen Patentlederſtiefel mit Leichtigkeit hindurchbeißen,
und die Gnats ließen es ſich angelegen ſein, Recognoscirun—
gen in meine Naſenlöcher zu machen.
Mit den Bewohnern der Stationen und der auf un—
ſerer Route liegenden Dörfer knüpften wir bei jeder paſſen—
den oder unpaſſenden Gelegenheit intereſſante Geſpräche über
den Mormonenglauben an, und meine luſtigen Reiſegefährten
ließen es an pikanten Fragen und Bemerkungen nicht fehlen,
welche jedoch von den Landleuten meiſtens gutmüthig be—
lächelt wurden. Grüße an die verſchiedenen Mormonen—
frauen, an Madame Nummer 5 oder an Madame Nummer
17 wurden den ſtattlichſten Mormonen angelegentlichſt auf—
getragen. Nur ſelten ſah uns ein Mormone bei unſeren
inquiſitoriſchen Fragen finſter an, und jedem ſolchen wurde
beim Weiterfahren der bei uns ſtereotyp gewordene Gruß
zugerufen: „Du da, mein Freund, ſollte ich Dich nicht
wiederſehen, wie geht es Dir denn, alter Junge?“ — Den
Buben ſchenkten wir Pfeffernüſſe, wovon wir einen uner—
ſchöpflichen Vorrath in Salt Lake City eingelegt und oft
hatten wir einen zahlreichen Trupp von der lieben Jugend
halbſtundenlang hinter der Kutſche dreinlaufen, die wir mit
Pfefferkuchen fütterten.
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Neben der Landſtraße liefen zwei Telegraphendräthe
an Pfoſten hin, der eine davon nach der Stadt Helena
in Montana, der andere der Utah-Telegraph, das Privat-
eigenthum von Brigham Young. An einer Stelle lief
Brigham's Drath quer über die Landſtraße und ſo niedrig,
daß er das Kutſchendach faſt berührte. Rechtzeitig rief
mir der Fuhrmann zu: „Bück' Dich! — ſchnell!“ — und
riß mich vom Sitz herunter. Aber der Drath, den ich
bei der ſchnellen Fahrt nicht geſehen, hatte mir doch den
Hut mit fortgenommen. Hätte mein Texaner Freund mich
nicht ſo ſummariſch beim Kragen gepackt, ſo wäre mir das
Weiterreiſen durch Brigham's Drath wahrſcheinlicher Weiſe
erſpart worden.
Etwas nach Mittag kamen wir, 40 engliſche Meilen
von Salt Lake City, an den reißenden und geſchwollenen
Weber, einen alten Bekannten von mir von Echo Canon
her, den wir auf einer langen Holzbrücke überſchritten. Jen⸗
ſeits deſſelben, in einer reichen Umgegend lag am Fuße der
Waſatch⸗Gebirge die gegen 3000 Einwohner zählende ſchmucke
Stadt Ogden, wo wir eine halbe Stunde Mittagsraſt
hielten. Die Mahlzeiten, ſowohl hier wie überall in Utah,
waren ausgezeichnet. Daß wir verwahrloſten Ueberland—
reiſenden, die wir an ſolchen luculliſchen Aufwand wenig
gewöhnt waren, beim Anblick der ſauber gedeckten Tafel,
mit den köſtlichen Gerichten beladen, faſt vor Begeiſterung
außer uns geriethen, war erklärlich.
Bald waren wir mit neuem Vorſpann wieder auf der
Reiſe. Ueber den reißenden Ogdenfluß ging es und öſters
paſſirten wir muntere Bergſtröme, die von den Waſatch—
Gebirgen dem großen Salzſee zueilten, deren klare Fluth
überall von den fleißigen Mormonen zur Irrigation benutzt
wurde. Am Rande einer heißen Quelle, an der wir nahe
vorbeikamen, hatte ſich eine blendend weiße Salzkruſte ge—
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lagert. Dann fuhren wir zwiſchen grünem Weidelande Hin,
wo zahlreiche ſchmucke Rinderheerden graſ'ten. Die Landſtraße
war und blieb vortrefflich. Nur die brückenloſen Irrigations—
canäle, welche dieſelbe kreuzte, waren beim ſchnellen Hin—
durchfahren unangenehm, und mitunter machte die Stage—
kutſche an ſolchen Stellen einen Satz, der mich veranlaßte,
mich energiſch am Bock feſtzuklammern. In der Kutſche
amüſirten ſich die Montana⸗Goldgräber mit Kartenſpiel, und
ein luſtiger Rundgeſang erſchallte ab und zu. Der Kutſcher
behauptete, wir ſeien die fidelſte Reiſegeſellſchaft, welche er
je die Ehre gehabt von der Stadt der Heiligen nach den
Goldminen zu befördern.
Der Abend war herrlich. Rechts thürmten ſich die
Gebirge wieder näher und näher empor, und der Salzſee,
von dem wir uns eine Zeitlang entfernt hatten, lag jetzt nahe
uns zur Linken. Saubere Steinwälle, mit denen die Felder
eingehegt waren, grüne Wieſen, hellrothe Pfirſichhaine und
freundliche Wohnungen und Dörfer, der blaue Salzſee mit
den weißen Ufern und den violetten hier und da mit Schnee
gekrönten Bergkuppen auf ſeinen Inſeln gaben reizende Land—
ſchaftsbilder. Als die Nacht hereinbrach, paſſirten wir das
Städtchen Brigham City, nach dem County, worin es
liegt, gewöhnlich „Box Elder“ genannt, einen blühenden
Platz von etwa 2000 Einwohnern. Die Luft ward jetzt
plötzlich unangenehm kalt und ein fröſtelnder Nachtwind ver—
leidete mir den Sitz auf dem Kutſcherbock. Selbſt Freundin
Luna, die das Gebirge mit ihrem ſchönſten Silberſchleier
bedeckte und mit wallenden Nebelgeſtalten am Salzſee ſpielte,
konnte mir nichts mehr recht machen und ich war froh,
als wir eine Stunde vor Mitternacht die Station „Bear
River“, 85 engliſche Meilen von Salt Lake City, er—
reichten, wo wir bis zum Morgen in einem guten Quartier
verweilten.
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In der Station Bear River, welche ihren Namen
nach dem in der Nähe vorbeiſtrömenden Bärenfluſſe er-
halten, herrſchte ein arges Speculationsfieber, in Folge eines
Gerüchtes, daß von hier aus eine Eiſenbahn nach der Stadt
Helena in Montana und eine andere nach dem Columbia
nächſtens gebaut würde, obgleich genannte Eiſenbahncom—
pagnien noch nicht einmal auf dem Papier exiſtirten. Die
Bewohner dünkten ſich alle angehende Millionäre in der zu—
künftigen „Bärenſtadt“ und hofften bevor lange, fabelhafte
Summen für Grundſtücke beim bevorſtehenden Bau ihrer
Weltſtadt in spe einzufaffiren.* Die zukünftige Bärenſtadt
iſt der natürlichſte Ausweg des reichen Cache-Thales, das
in nordöſtlicher Richtung von dieſem Punkte liegt. Logan,
die Hauptſtadt des genannten Thales, zählt 7000 Einwohner,
und ein Dutzend mehr Städte von je 1000 bis 2000 Ein-
wohnern befinden ſich in dem an 40 engliſche Meilen langen
Thale, worin überall Mormonen ſich angeſiedelt haben. Logan
liegt nur 25 englifhe Meilen von der Bärenflußſtation.
Das Cache-Thal erhielt feinen Namen von dem Umſtande,
daß Fremont bei feiner erſten Expedition über den Con-
tinent hier einen Vorrath von Lebensmitteln vergrub. Bei
der Bärenflußſtation ſagte ich am nächſten Morgen den Mor-
monen und ihren ſchmucken Niederlaſſungen Lebewohl. Eine
Salbei⸗Wildniß von über 300 engliſchen Meilen Breite lag
vor mir, die ſich nach Norden vom großen Salzſee bis zum
Boiſefluſſe erſtreckt. Auch von meinen luſtigen Reiſegefährten,
den Montana⸗Goldgräbern, mußte ich hier Abſchied nehmen.
Dieſe kutſchirten in nordnordöſtlicher Richtung weiter nach
den an 500 engliſche Meilen entfernten Goldminen im
* Zwei Meilen weſtlich von der alten Stageſtation „Bear River“
liegt an der Eentralpacific-Eifenbahn die Stadt Corinna. welche
jetzt als zukünftiger Ausgangspunet einer nach der Stadt Portland
am Columbiafluſſe zu erbauenden Eiſenbahn gilt.
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Territorium Montana, während ich in einem andern Wagen
in nordnordweſtlicher Richtung dem Goldlande Idaho ent»
gegeneilte. Der Telegraph, welcher mich von Denver bis
hierher treu begleitet, verließ mich gleichfalls und gab dem
Goldlande Montana und den bedeutenden Minenſtädten
Helena und Virginia den Vorzug vor Idaho, welches
„Eldorado“ er bis jetzt noch unverantwortlicher Weiſe ver—
nachläſſigt hatte. Ich befand mich als alleiniger Paſſagier
auf der Idaho-Stage und hatte außer dem Kutſcher nur
einen Zahlmeiſter von Wells, Fargo und Comp., einen
umgänglichen und gebildeten Mann, und deſſen Sohn zu
Reiſegefährten. Alle vier — der Kutſcher mitgerechnet —
waren wir wohlbewaffnet, da ſich die Indianer in Idaho
neuerdings wieder recht angelegentlich damit beſchäftigt,
Reiſende zu ſcalpiren. |
Sobald wir den Bärenfluß hinter uns hatten, ſteuerten
wir hinaus in eine ungaſtliche nur mit Sage-Geſtrüpp und
hier und da mit verkrüppelten Bergeedern (hier Juniper ge—
nannt) bewachſene kahle und einförmige Berglandſchaft. Ab
und zu gewahrte ich noch die hohen Schneekuppen auf den
Inſeln im großen Salzſee, aber bald waren um und um
nur öde Berge zu ſehen. Im Sommer ſollen die Mus—
quitos hier ſo zahlreich ſein, daß die Schimmel der Stage—
Geſpanne oft buchſtäblich ſchwarz von ihnen ſind. Das
Trinkwaſſer in den Stage-Stationen hatte einen ſeltſam
pikanten Beigeſchmack; mitunter führten wir kleine Waſſer—
fäſſer in der Kutſche mit uns, um die Stationen, wo das
Trinkwaſſer abſolut ungenießbar war — brak, bitter und
lauwarm —, mit dem unentbehrlichen Elemente aus reinen
Ouellen zu verſorgen. |
Außer den Stationsgebäuden ſah ich den ganzen Tag
über gar keine Wohnungen. Ab und zu begegneten uns In—
dianer, die in Gala waren, mit roth bemalten Geſichtern,
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Hahnenfedern im Haar in zerlumpten Kleidern. Unfere
Nähe ſchien den Herren der Wildniß nichts weniger als an—
genehm zu ſein. Sie vermieden uns abſichtlich und ritten,
ſobald ſie die Stage-Kutſche gewahr wurden, auf ihren Po—
nies jedesmal in einem großen Bogen um uns herum. Ein—
zelne Sage- und Präriehühner, die ſchüchtern durch das Salbei—
Geſtrüpp raſchelten, und gelegentlich eine Möve vom Salzſee,
die weit von ihrem gewohnten Cours abgekommen ſein mußte,
waren von lebenden Thieren Alles, was ich zu Geſicht be—
kam. Nachmittags kamen wir an einer Station vorbei, die
Tags zuvor nebſt den darin geweſenen Pferden durch die
Unvorſichtigkeit eines der Stationswächter in Feuer aufge—
gangen war. Die halbverbrannten Gerippe von vier Pfer—
den und die ſchwarz verkohlten, theilweiſe noch rauchenden
Balken machten in der öden, menſchenleeren Gegend einen
traurigen Eindruck. Von einer Höhe in der Nähe dieſer
Station hatte ich den letzten Rückblick auf den blanken Spie-
gel des großen Salzſees. Gegen Abend überſchritten wir,
50 engliſche Meilen vom Bärenfluſſe, die Grenze des Terri—
toriums Idaho. Rechter Hand ſchimmerten am Horizonte die
Schneeberge jenſeits des Schlangenfluſſes und auf entfernten
Höhenzügen gewahrte ich hier und da dunkelgrüne Wal—
dungen, welche der Landſchaft das Monotone der Bergwüſte
nahmen, das ſie den ganzen Tag über gezeigt.
Ohne Aufenthalt fuhren wir die Nacht über weiter, die
bitter kalt war. Mit nur drei Mann vermochten wir trotz
unſerer Wollendecken uns in der Kutſche nicht warm zu hal—
ten. Um drei Uhr in der Nacht erreichten wir die Station
„City of rocks“ (die Felſenſtadt), wo wir bis nach dem
Frühſtück verweilen ſollten. Dieſe Station zeigte ſich, ihrem
Namen wenig entſprechend, als die erbärmlichſte Hütte, welche
mir je zum Nachtquartier gedient hat. Der Wind pfiff durch
die vielen fingerbreiten Spalten zwiſchen den Baumſtämmen
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hindurch, welche, loſe aufeinander gelegt, die Wände des
Hotels bildeten, daß es Einem beim bloßen Zuhören ſchon
fror; ein paar Dutzend Backſteine in einer Ecke der Gaſt⸗
ſtube, mit einem Bretterverſchlag davor genagelt, um das
Zuſammenſtürzen der Mauerſteine zu verhindern, und ein Loch
durch das Schindeldach als Ausgang für den Rauch bildeten
den Kamin, in dem ein Feuer aus trockenem Sage-Geſtrüpp
hoch emporloderte. Die Bretter am Kamin waren ſchwarz
angebrannt und theilweiſe verkohlt und der Kamin hatte das
Anſehen, als ob er das „Hotel zur Felſenſtadt“ jeden Augen-
blick in Brand ſetzen könnte. Trotz der wilden Umgebung,
zu der in der Hütte das Möblement trefflich paßte, machte
ich es möglich, in meine Wolldecke gehüllt, anderthalb Stun-
den Schlaf auf dem nackten Lehmſtrich zu erhaſchen. Meh—
rere Male, wenn ich erwachte, und die Flammen, höher im
Kamin auflodernd, phantaſtiſche Figuren geſpenſterartig an
die halbdunklen Wände der Hütte malten, mußte ich mich
beſinnen, wo ich eigentlich war, und es gehörte nicht viel
Phantaſie dazu, ſich in die Höhle eines Banditen verſetzt
zu wähnen, namentlich wenn das Auge zufällig auf die
Büchſen, Piſtolen und Kugeltaſchen fiel, welche am Thür—
pfoſten hingen. Das Frühſtrück paßte ſich dem Ganzen
in der Station „von der Stadt der Felſen“ trefflich an
und war, um ſich auf gut Deutſch auszudrücken, „unter
aller Kanone.“ Die Bewohner dieſer Stageſtation rechneten
beſtimmt darauf, daß von hier aus eine Eiſenbahn als
Anſchluß an die Central-Pacifiebahn gebaut werden würde,
die eine Länge von 700 engliſchen Meilen und ihren
Ausgangspunkt in der Stadt Portland in Oregon haben
ſollte. Die Felſenſtadt war alſo ein Rivale von der
Bärenſtadt; letztere, welche bereits vier Häuſer zählte,
hat aber vor der Felſenſtadt, in der erſt ein vu. exiſtirte,
entſchieden den Vorſprung.
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Ehe wir weiter fuhren, nahm ich die nicht weit von der
Station liegende Felſenſtadt in Augenſchein, nach welcher
jene ihren Namen erhalten. Ein Chaos von rieſigen
Felſentrümmern in Geſtalt von allerdings ſehr verfallenen
Schlöſſern, Thürmen und ſchiefen Pyramiden lag dort in
wilder Urgeſtalt — nackt, ſchroff und vielgipflig — durch—
und übereinander. Ich möchte dieſe in der That feltſamen
Felsgebilde jedoch eher mit urweltlichen, theilweiſe abgebroche—
nen rieſigen Walroßzähnen und Walfiſchkinnbacken als mit
den Ruinen einer untergegangenen Stadt vergleichen. Jene
Felſen waren Zeuge manches ſchrecklichen Blutbades, das die
Indianer dort an wehrloſen Emigranten ausübten. Die alte
Emigrantenſtraße, vom Miſſouri über Fort Hall nach Ore—
gon, zieht ſich durch die „Stadt der Felſen“ hin, und die
Wilden pflegten ſich dort in Hinterhalt zu legen und bei
paſſender Gelegenheit über vorbeiziehende Emigrantenkara—
wanen herzufallen. Einmal maſſacrirten die Indianer hier
einen ganzen Emigrantenzug von 400 Männern, Frauen
und Kindern, und die Felſenſtadt hallte wieder von dem Angſt⸗
geſchrei der verrathenen Emigranten und dem wilden Ge—
jauchze ihrer teufliſchen Feinde. Der bloße Gedanke an den
Jammer, deſſen dieſe Felſen Zeuge geweſen, macht Einen
ſchon ſchaudern.
Die Landſtraße wurde, nachdem wir die Felſenſtadt
verlaſſen hatten, ſehr ſchlecht. Tiefe Sumpflöcher und
große Steine mitten im Wege machten die Lokomotion der
Stage⸗Kutſche ſchrecklich unangenehm. Es war die Kette
der „Gansbach-Berge“ (goose ereek mountains) ehedem
das nördliche Ufer des großen Salzſees, welche wir hier
überſchritten. Während der Nacht hatte ſich eine dünne
Eisdecke auf ſtillſtehende Gewäſſer gelagert, weißer Reif
lag auf dem Sage-Geſtrüpp und die Gegend ſah recht
winterlich aus.
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Intereſſant war es, wie der Zahlmeifter von Wells,
Fargo und Comp., der, wie früher erwähnt, mit uns reiſte,
den Stationswächtern und Fuhrleuten, die im Dienſte der
Compagnie ſtanden, ihren Lohn auszahlte. In dieſer Be—
ziehung konnte ich nicht umhin zu wünſchen, daß das Eß—
departement der Mammuth-Expreß- und Stage⸗Compagnie
ſich das Finanzdepartement derſelben zum Muſter nehmen
möchte. Der Zahlmeiſter hatte recht anſehnliche Packete
von „Greenbacks“ und alle Abrechnungsbücher der Com—
pagnie bei ſich, die ſo ſauber geführt wurden, als ob ſie
das Comptoir eines Bankgeſchäfts nie verlaſſen hätten. Der
Lohn wurde an allen Stationen prompt ausbezahlt. Mit:
unter begegneten wir Angeſtellten der Compagnie auf der
Landſtraße, und ſowohl mit dieſen als mit den Kutſchern
der uns begegnenden Stages und anderer Fuhrwerke der
Compagnie ward unter Gottes freiem Himmel liquidirt. Die
meiſten Kutſcher bedienten ſich zur Unterſchrift der Empfangs—
ſcheine des bereits bei unſeren Urgroßvätern üblichen Kreuzes.
Das Schulwbeſen ſcheint in dieſen Gegenden jedenfalls nicht
nach preußiſchem Muſter geführt zu werden.
Jenſeits der Gansbach-Berge kamen wir wieder auf
eine öde Salbei-Ebene, die ſich ringsum bis zum Horizonte
ausdehnte. Nur im fernen Norden war das Monotone der
Gegend durch die jenſeits des Schlangenfluſſes (snake river)
liegenden Gebirgszüge unterbrochen. Poröſe Trachytmaſſen
und gebranntes Geſtein lagen häufig zwiſchen dem Sage—
Geſtrüpp und gaben den deutlichen Beweis, daß in der Urzeit
vulcaniſche Kräfte in dieſer Gegend thätig geweſen. Ein
paar Meilen nördlich von der Landſtraße, die hier faſt direct
nach Weſten lief, ſtrömte der Schlangenfluß, 90 deutſche
Meilen lang, ein Nebenfluß des Columbia, nach ſeinem
Entdecker auch „der Lewis-Arm des Columbia“ (Lewis'
fork of the Columbia) genannt, in tiefen Felsklüften durch
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dieſe unermeßlichen Einöden und zeigte feinen Lauf durch
eine niedrige Reihe ſchwarzer Felſen an. Dort, wenige
Meilen rechts von uns, lagen an ihm die weltberühmten
Shoſhone-Fälle, (ſprich: Scho-ſchohne) eins der impo-
ſanteſten Natur-Wunder des weſtlichen nordamerikaniſchen
Continents, die Rivalen des Niagara.
Wir kamen an den „Felſenbach“ (rock ereek), der ſich
in den Schlangenfluß ergießt, deſſen zerriſſene Ufer nichts
als gebranntes Geſtein zeigten. Er war hoch geſchwollen
und hatte die primitiv gebaute Brücke, welche ihn überſpannte,
halb zerſtört. Hier mußten wir auf die von Norden kom—
mende Poſtkutſche warten, da die Brücke für Fuhrwerk nicht
zu paſſiren war. Sobald die Boiſe-City-Stage am jenfet-
tigen Ufer angelangt war, wechſelten wir Sitze mit den in
ihr gekommenen Paſſagieren, und weiter ging es durch die
Sage-Wildniß. Sechs engliſche Meilen von der Brücke
erreichten wir die Station Deſert (die Wüſte) — ein ſehr
paſſender Name, — wo ich übernachten wollte, um am
folgenden Tage von hier aus die Shoſhonefälle zu beſuchen.
Nach der löblichen Regel der Stage-Compagnie verlor ich
hierdurch nicht das Recht auf einen Sitz in der nächſten
vorbeipaſſirenden Poſtkutſche, vorausgeſetzt, daß ein ſolcher
leer war. Waren alle Plätze beſetzt, ſo mußte ich ein paar
Tage länger, als ich gerechnet, in der „Wüſte“ wohnen.
Hans, ein Deutſcher und der alleinige Stationswächter in
der „Wüſte“, den ich um Quartier bat, war hoch erfreut,
einen Landsmann als Gaſt unter ſein beſcheidenes Dach
aufzunehmen. Bald rollte die Stage-Kutſche weiter, aus
welcher der Zahlmeiſter mir noch zurief, mich vor den In—
dianern an den großen Fällen in Acht zu nehmen, und
ich war allein in der „Wüſte“ mit Hans, ſeiner Dogge und
ſeinen ſechs Mauleſeln.
2. Ein Beſuch am Shoſhone.
Meine erſte Frage an Hans, nachdem ich mir's in
der Wüſte bequem gemacht, war nach den weitberühmten
Shoſhonefällen, — „wie man am beſten dorthin gelange,
und wie ſie ihm gefallen hätten?“ — Hans war dort nicht
geweſen, obgleich er bereits über ein Jahr in der „Wüſte“
wohnte, kaum 5 engliſche Meilen von den Fällen, von
denen er die Waſſerdampfwolken jeden Morgen hoch auf—
ſteigen ſah. Weder der Zahlmeiſter noch irgend einer der
Agenten der Stage-Compagnie, weder Stationswächter noch
Kutſcher an der Route, bei denen ich mich wiederholt nach
den „großen Fällen“ erkundigte, hatten dieſelben beſucht.
Es ſcheint dem Shoſhone ähnlich wie vielen Naturwundern
und großartigen Bauwerken in der alten Welt zu gehen.
Leute leben in einem Orte, wohin irgend eine Merkwürdig—
keit jährlich Tauſende von Fremden zieht, und werden alt
und grau und ſterben, ohne das Wunderwerk, das ihnen ſo
zu ſagen vor der Thüre ſteht, je näher in Augenſchein ge—
nommen zu haben.
Seit zehn Monaten, erzählte mir Hans, der mich be—
reits dutzte, hätte ſeines Wiſſens nach nur ein Fremder
die Fälle beſucht. Die Indianer wären ſehr „eklig“
und fein Scalp ſei ihm mehr werth, als der große Wafler-
fall. Vor nicht langer Zeit hätten ſieben Indianer eine
Partie Pferde von der nächſten Station geſtohlen, wären aber
von der Wachtmannſchaft verfolgt und ſämmtlich niederge—
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ſchoſſen worden, und ihre Brüder hätten geſchworen, an
den erſten Weißen, die ihnen bequem in die Quere kämen,
blutige Rache zu nehmen.“ Ich kann nicht ſagen, daß mir dieſe
Neuigkeiten beſonders behagten; doch ermuthigte mich Hans
mit der Verſicherung, daß die Indianer in dieſer Gegend
eine elende und feige Race wären. Nicht einmal Ponies
hätten fie und gingen ſtets zu Fuß, was bei allen India—
nern für eine große Schande gelte. Auch ſchöſſen ſie ſehr
ſchlecht und wären ſtatt mit Feuerwaffen meiſtens nur mit
Pfeil und Bogen bewaffnet. Doch möchte er mir nicht
wünſchen, einer Bande von ihnen im Sage-Geſtrüpp oder
bei den Fällen allein zu begegnen.
Von wilden Thieren ſei in dieſer Gegend nichts zu
befürchten. Klapperſchlangen ſollte es allerdings an den
Fällen bei Tauſenden geben, aber ſie warnten Einen ſtets
durch Klappern mit den Schwanzſchuppen, ehe ſie zubiſſen,
und die Wölfe und Coyotes thäten Niemandem etwas zu
Leid. Einmal hätte er ſich im Sage-Geſtrüpp verirrt und
die Nacht im Freien ſchlafen müſſen. Plötzlich habe ihn
ein ſeltſames Geräuſch aufgeweckt. Es ſeien fünf der
Beeſter geweſen, welche ihn beſchnuppert, die aber ſämmt⸗
lich Reißaus genommen, als er aufgeſprungen ſei. Direct
nach den „Fällen“, die nicht viel über vier engliſche Meilen
von der Station entfernt wären, könnte ich nicht gehen, da
der Rock Creek, welcher dicht hinter der Station in tiefem
und felſigem Bette hinbrauſte, wegen hohen Waſſers nicht
zu paſſiren ſei. Ich müßte ſechs Meilen bis nach der
Brücke über den Rock Creek zurückmarſchiren, von wo aus
ich leicht durch das Sage-Geſtrüpp die etwa ſechs engliſche
Meilen von dort entfernten Fälle erreichen könnte.
* Am Weihnachtsabend 1867 wurde die Deſertſtation von
den Indianern überfallen und zerſtört, die Mauleſel geraubt und
ein Stage⸗Kutſcher dabei verwundet.
175
Unter dergleichen interefjanten und belehrenden Ge-
ſprächen verging der Tag ſchnell. Hans kochte im Kamin
den Kaffee zum Abendbrot, an einem lodernden Feuer von
trockenem Salbei-Geſtrüpp und holte Brot, Erbſen und
Speck aus ſeiner Vorrathskammer, einer alten Käſeſchachtel,
hervor, und ich ſtellte ein Stück Schinken, eine Flaſche mit
eingemachten Gurken und eine Portion Pfeffernüſſe — den
Reſt meines von Salt Lake City mitgenommenen Proviants
— auf den Tiſch. Ein brennendes Talglicht wurde in den
Hals einer leeren Flaſche geſteckt, als Kaffeetaſſen dienten
ein Paar Blechſchalen und unſere Taſchenmeſſer entſprachen
dem doppelten Zwecke als Gabeln und Meſſer, — und
Hans und meine Wenigkeit genoſſen unſer Souper in
der „Wüſte“, während die Dogge draußen Wacht hielt,
um uns nöthigenfalls vor heranſchleichenden Indianern zu
warnen.
Da ich vorausſichtlich am folgenden Tage eine lange
und ermüdende Tour vor mir hatte, ſo begab ich mich bald
zur Ruhe. Mit einigen Arm voll Heu, das ich vom Stall
in die Wohnſtube trug, bereitete ich mir ein köſtliches Lager.
Die Stiefeln dienten als Kopfkiſſen. In meine Wolldecke
gehüllt und den geladenen Revolver zur Seite entſchlief ich
bald in ſo ſüßen Schlummer, als ob ich wieder einmal
unter dem Schutze der hochlöblichen Polizei in einem deut—
ſchen Federbette läge, anſtatt in den weiten Einöden am
Schlangenfluſſe, mit Hans allein in einſamer Hütte.
Bereits um vier Uhr Morgens weckte mich Hans. Bald
war der Kaffee gekocht und unſer frugales Frühſtück verzehrt.
Hans verfügte ſich in den Stall, um die Mauleſel zu füt⸗
tern, und ich machte mich marſchfertig. Eine mit Proviant
wohl gefüllte Reiſetaſche über der Schulter und den gela-
denen Revolver im Gürtel, meinen Gemſenſtock in der
Rechten und blaue Wolken aus meinem Meerſchaum empor⸗
176
wirbelnd, befand ich mich bald auf der Landſtraße und
wanderte rüſtig der Brücke über den Rock Creek zu.
Der Morgen war wunderſchön. Ueber den niedrigen,
ſchwarzen Felſen links am Schlangenfluſſe hing eine breite
und hohe weiße Wolke, die aufſteigenden Waſſerdämpfe von
den großen Shoſhonefällen. Genau merkte ich mir die Um—
riſſe eines dahinter liegenden Bergzuges, welcher mir in der
einförmigen und pfadloſen Salbei-Wildniß als Wegweiſer
dienen ſollte, wenn die Waſſerdämpfe vom Shoſhone, wie
Hans mir erzählt, verſchwinden würden, ſobald die Sonne
höher ſtiege. In anderthalb Stunden hatte ich die Brücke
über den Rock Creek erreicht und marſchirte von dort quer
durch das Salbei-Geſtrüpp dem Shoſhone entgegen. Ein
Glück war es, daß ich den Bergrücken als Wegweiſer mir
gemerkt, denn die Dampfwolken vom Fall waren bereits
verſchwunden, und ich hätte in der pfadloſen Salbei-Wüſte
eben ſo gut eine Meile oberhalb oder unterhalb des Sho—
ſhone als am Fall ſelbſt den Schlangenfluß erreichen können.
Der Weg durch das mir oft bis an die Bruſt reichende
dürre Salbei⸗Geſtrüpp und über den heißen gebackenen Lehm—
boden, wo ich nicht ſelten unverſehens in Fuchslöcher trat,
war außerordentlich ermüdend, und die Füße ſchmerzten
mich ſehr, ehe ich noch die erſten eine halbe Stunde vom
Schlangenfluſſe entfernt liegenden Felſen erreichte. Ueber
poröſes gebranntes Geſtein kletternd, das wie Schlacken aus—
ſah und in chaotiſcher Verwirrung dalag, dann wieder müh—
ſam durch dichtes Geſtrüpp ſchreitend, gelangte ich endlich
an die von fern niedrig ausſehende meilenlange Linie von
ſchwarzen Felſen, welche den Lauf des Schlangenfluſſes be—
zeichnete. Vom Shoſhone hörte und ſah ich noch immer
nichts, obſchon ich das Ohr oft auf den Boden legte, um
das Rauſchen des Waſſerfalls zu vernehmen und mich danach
zu orientiren. Plötzlich als ich die ſchwarzen Felſen faſt
177
erklettert, vernahm ich das dumpfe Rollen der ſtürzenden
Waſſermaſſen, wie wenn ein Sturmwind in der Ferne durch
einen Wald brauſt.
Bald hatte ich die Uferhöhe erreicht, wo mich ein herr—
liches Schauſpiel überraſchte. Tief, tief unter mir ſtrömte
der Schlangenfluß, zu beiden Seiten von himmelanſtrebenden
ſchwarzen und nackten Felswänden eingeſchloſſen, — und
dort, eine halbe Stunde ſtromaufwärts, lag der dampfende
Waſſerberg des Shoſhone, von kleineren Fällen wie eine
ſilberne Kuppel von Säulenblumen überragt, während ein
farbenbunter Bogen auf dem ſchneeweißen Grunde zitterte.
Dumpf hallte das wilde Felſenthal wieder von dem Getöſe
des gewaltigen Katarakts. Wie feſtgebannt ſtand ich da und
genoß eine Zeitlang das großartige Schauſpiel. Aber ein
brennender Durſt, der mich quälte, veranlaßte mich bald,
den nächſten Weg nach dem Fluſſe zu ſuchen. Mehrere
Verſuche machte ich, an den Fuß des Waſſerfalls zu ge—
langen, aber die Felswände waren entweder ſo zerriſſen
oder fielen Hunderte von Fuß dermaßen ſteil ab, daß ich
meine Bemühungen bald einſtellte und einſah, ich müßte
mir Zeit laſſen, wollte ich den am wenigſten halsbrechenden
Pfad an den unteren Fluß finden. Einmal rutſchte ich eine
trichterförmige nach unten ſich verengende Oeffnung in dem
vulcaniſchen Geſtein an hundert Fuß hinab, wo die Fels—
wand plötzlich in ſchwindelnder Tiefe jäh abfiel. Die
größte Mühe hatte ich, die obere Oeffnung des fatalen
Trichters wieder zu erreichen, durch den ich bald ſchneller,
als ich gerechnet, an den Fuß des Shoſhone gelangt wäre.
Bei dieſen intereſſanten Turnübungen genoß ich an vor—
ſpringenden Winkeln oft die wundervollſten Blicke auf den
ſilbernen Waſſerberg des Shoſhone, wie er, mit herrlichen
Regenbogenfarben geſchmückt, brüllend in den Abgrund
wogte.
12
178
Oberhalb des großen Falls ſchien mir der Strom
leichter zugänglich als der untere Fluß. Dieſen Punkt er-
reichte ich auch ohne ſonderliche Mühe, indem ich an den
Felſen herumkletterte, mich durch ein Gebüſch von canadi—
ſchen Pappeln und Weiden zwängte und über mehrere mäch—
tige Baumſtämme voltigirte, die am Ufer entwurzelt dalagen.
Hier hielt ich eine Weile Sieſta, trank Waſſer in vollen
Zügen in Ermangelung eines beſſeren Trinkgefäßes aus meinem
Hut, und kühlte mir die brennenden Füße in den hellen ſchnell
vorbeieilenden Fluthen, während der Shoſhone fünfzig Schritt
unterhalb donnernd über die Felswand rollte.
Nachdem ich noch ein gutes „Lunch“ aus meiner Reiſe—
taſche auf einem umgeſtürzten Baumſtamme aufgetiſcht und
mich mit Speiſe und Trank wohl geſtärkt, machte ich mich
mit neuer Kraft wieder auf den Weg, um den Waſſerfall
von dem ſchönſten Punkte mit Muße zu betrachten. Dieſen
entdeckte ich bald in einer hart an ſeinem linken Ufer lie—
genden Bergkuppe, welche mit grünen Cedern gekrönt war.
Nach erneueten Turnübungen erreichte ich endlich den er—
ſehnten Punkt, wo ich mich vorläufig häuslich niederließ.
Auf einer Baumwurzel hart am Rande eines Felſens, der
den Waſſerfall überragte, nahm ich Platz und genoß das
wundervolle Schauſpiel auf einen der größten Katarakte
des Erdballs. Einen köſtlichern Punkt für einen Luſt—
pavillon oder eine Schweizervilla könnte ſich kein König
wünſchen!
Der Schlangenſtrom erweitert ſich dicht oberhalb der
Fälle zu einem Becken. Aus dieſem fallen erſt fünf kleinere
von ſchwarzen Felſeninſeln getrennte etwa 30 Fuß hohe
Cascaden; 50 Schritt weiter nimmt der Fluß ſo zu ſagen
einen neuen Zulauf in drei gleichfalls von ſchwarzen Felſen
getrennten an 60 Fuß hohen Fällen, und dann vereinigt
ſich die ganze Waſſermaſſe, drängt ſich in einer Breite von
179
400 Fuß zuſammen und ſtürzt ſich mit einem gewaltigen
Sprunge von über 200 Fuß in den Abgrund. Die oberen,
treppenartig über einander liegenden kleineren Fälle ſind
gleichſam eine Verzierung vom großen Katarakte. Der
Hauptfall hat die Geſtalt eines mit den Hörnern etwas
nach vorn gebogenen Halbmonds. Auf dem Waſſerſtaub,
der zwiſchen den vorſpringenden Hörnern des großen Falls
wogte, lag ein cirkelrunder Regenbogen, eine ſeltene Natur—
erſcheinung, faſt unter mir. Ringsum ragten pechſchwarze
nackte Lavawände empor, die ſich an 1000 Fuß hoch über
das Niveau des untern Fluſſes jäh emporſtreckten, und die,
bald wie Vorgebirge in den Strom hinaustretend, bald
terraſſenartig über einander gethürmt, den Fluß, den ich
weit hinabſehen konnte, mit einer rieſigen Doppelmauer
einſchloſſen. Ich möchte das urwilde Felſenthal mit des
Teufels Garküche vergleichen und das Baſſin oberhalb
des Shoſhone mit einem rieſigen eiſernen Suppentopf,
deſſen Ränder theilweiſe ausgebrochen und der dampfend
und brodelnd überquillt.
Der Hauptfall des Shoſhone erreicht ſeine höchſte Höhe
im Junimond, bei beſonders hohem Waſſerſtand bis zu 210
engliche Fuß, 46 Fuß höher als der Niagara; feine nie—
drigſte iſt 198 Fuß. In Amerika wird dieſelbe nur von
den Waſſerfällen im Yoſemite-Thale in Californien über—
troffen, die aber mehr dem Staubbach und dem Gießbach
in der Schweiz als einem Niagara ähnlich ſehen. Von
compacten Waſſerfällen ſind, ſo weit mir bekannt, nur der
Niagara und die Victoria-Fälle in Central-Africa mit dem
Shoſhone zu vergleichen, die er jedoch wahrſcheinlich beide
an Waſſermenge übertrifft. Aber jene zwei geben mehr ein
landſchaftlich heiteres Bild. Auch iſt das Verhältniß der
Breite zur Höhe des Falls beim Shoſhone in größerer
Harmonie, während jene die 30- und 20fache Breite ihrer
12
180
Höhe haben. Der Shojhone mit feinen finfteren, grandios
furchtbaren Umgebungen ift der König auf dieſem Erdball.“
Unvergleichlich ſchön find feine donnernden ſchneeweißen
Sturmwogen mit den zitternden Regenbogenfarben darauf
inmitten dieſer todten unermeßlichen Einöde, verſteckt im
tiefen Felſenthal und umgeben von ungeheuren ſchwarzen
Lavaabhängen, als ob der ewige Baumeiſter den Erdball
hier aus einander geſpalten, um das Schönſte mit dem
Schrecklichſten zu vereinen.
Ein paar Raben ausgenommen, welche über dem
Waſſerfall ſchwebten, ſah ich kein lebendes Weſen in der
ſchauerlichen Felſenwildniß. Ein Ablerhorſt auf einer der
Felsinſeln inmitten des Katarakts ſchien mir unbewohnt zu
ſein, da mir keiner von den majeſtätiſchen Seglern der Lüfte,
deren Abſteigequartier dort ſein mußte, zu Geſicht kam.
Mehrere Male ſchoß ich mit meinem gezogenen Marine—
revolver nach einer jenſeits des großen Falls mir gerade ge—
genüber liegenden Felswand, konnte aber keine Kugel einſchla—
gen ſehen. Da eine ſolche Waffe eine Kugel wenigſtens 150
Schritt weit trägt, ſo konnte ich danach das Minimum der
Breite des Waſſerfalls ermeſſen. Der praſſelnde Wieder—
hall der Schüſſe an den näheren und ferneren Felswänden
war furchtbar ſchön. Meine Schießübungen ſtellte ich aber
4* Sollte es ſich beſtätigen, was neuerdings einige Reiſende von
dem großen Waſſerfall am oberen Pellowſtone in Montana berich—
ten, ſo müßten ſowohl der Shoſhone als ſeine beiden Rivalen in
Canada und Central-Afrika künftig alle drei als Waſſerfälle zweiter
Größe betrachtet werden. Der Nellowftone ſoll daſelbſt 1600
Fuß, Andere behaupten ſogar mehrere tauſend Fuß in der halben
Breite des Miſſouri bei Omaha über ein Felſenriff ſtürzen. Man
behauptet, ein Stein, den man von einem überhangenden Felſen in
gleicher Höhe mit dem Katarakte fallen ließ, habe 11% Secunden
nach der Uhr gebraucht, um den untern Fluß zu erreichen, was
dieſem Rieſenkatarakte alſo eine Höhe von 1887 Fuß geben würde.
181
bald wieder ein, um mir nicht Indianer, welche mitunter
an den Fällen fiſchen ſollen, auf den Hals zu locken. Von
den Tauſenden von Klapperſchlangen, welche, wie Hans mir
erzählt, zwiſchen den Felſen am Shoſhone wohnen ſollen,
ſah ich nichts; doch zeigen ſich dieſe gefährlichen Reptilien
ſelten vor Ende Mai.
| Die Sonne ſtand jetzt bereits hoch im Zenith und ich
| machte mich nochmals auf den Weg, womöglich den Fuß des
Shoſhone zu erreichen. Vom jenſeitigen Ufer aus ſoll dieſes
nicht möglich ſein. Aber ich hatte gehört, daß bereits vor
mir Leute an dieſer Seite hinabgeklettert ſein und wollte
mich nicht auslachen laſſen, daß ich als alter Touriſt und
Bergſteiger dieſes nicht ſo gut als Andere hätte bewerk—
ſtelligen können. Rock und Weſte abwerfend und nur
meinen Revolver und Gemſenſtock mit mir nehmend, er—
forſchte ich wohl eine Stunde lang auf gefährlichen Pfaden
die mehrere Hundert Fuß ſteil oder in unbekletterbaren
Winkeln abfallenden Felswände, bis ich zuletzt eine minder
abſchüſſige Stelle fand, die mit ungeheuren Lavaplatten und
rieſigen Felsblöcken belegt war, zwiſchen denen ich auf ähn—
liche nur auf ungleich gefährlichere Weiſe, wie ich es einft .
an der Grimſel gethan, hinunterrutſchte und zuletzt glücklich
an den Fluß gelangte. Das Gefährlichſte bei dem Unter—
nehmen war, daß ich mich mutterſeelenallein in der Wild—
niß befand, wo mir, im Falle, daß ich mir nur den Fuß
verrenkte, kein Menſch hätte helfen können. Daß Hans mich
aufgeſucht haben würde, war wohl nur ein frommer Wunſch;
ſeine Mauleſel hätte er meinethalben ſchwerlich verlaſſen.
Ohne beſondere Mühe gelangte ich jetzt bis dicht an den
Fall; bis unter denſelben, wie ich vielleicht hätte thun kön—
nen, dehnte ich meine intereſſante Excurſion jedoch nicht aus,
um mich, allein wie ich war, nicht unnöthigen Gefahren
auszuſetzen. Der ungeheure Waſſerberg des Shoſhone
8 182
machte, von hier aus betrachtet, einen überwältigenden Ein-
druck. Der Rheinfall von Schaffhauſen, vom Fuße des
Schloſſes Laufen aus geſehen, iſt dagegen wahres Puppen—
ſpiel. Die ſtürzenden Waſſer verurſachen hier einen heftigen
Wirbelwind, der mit einer ſolchen Wuth um die Fels—
mauern pfiff und dabei den Waſſerſtaub dermaßen umher
ſchleuderte, daß mir faſt der Athem davon ausging. Drei
engliſche Meilen unterhalb des Shoſhone ſoll man ohne
ſonderliche Mühe das Ufer des Schlangenfluſſes erreichen
und von dort aus nach dem Waſſerfall gehen können.
War das Hinunterklettern ſchon mühſam und gefährlich
geweſen, ſo verwünſchte ich meinen Fürwitz, den Fuß des
Shoſhone beſucht zu haben, tauſend Mal, ehe ich die Höhe
wieder erreichte. Ich glaubte eine beſſere Stelle zum Berg—
anſteigen gefunden zu haben und war mehrere Male nahe
daran, den Hals zu brechen. Auf Händen und Knien klet—
terte ich die Felſen hinan, an Abgründen hin, die nichts
weniger als gemüthlich ausſahen und wo die Lavaplatten
von dem umherfliegenden Waſſerſtaub ſo glatt waren, daß
ich mehrere Male faſt verzweifelte, weiter zu kommen. End—
lich war ich über die halsbrechendſten Stellen hinweg und
ſtieg einen theilweiſe mit Gras bewachſenen Abhang ſchnell
hinan. Hier bemerkte ich deutlich die Spuren von Moccaſins
und lange Rutſche am Berge hinauf, als ob die Indianer
hier vor Kurzem Fiſche oder ſchwere Gegenſtände hinauf—
gezogen hätten. Daß mir dieſe Entdeckungen nicht beſon—
ders behagten, kann man ſich vorſtellen. Ich beeilte mich,
nachdem ich meine zurückgelaſſenen Kleider geholt, aus dem
Felsgewimmel herauszukommen und den oberen Thalabhang
wieder zu gewinnen, wo ich wenigſtens eine freie Umſchau
und zwiſchen dem Sage-Geſtrüpp auf der Hochebene auch
Platz zum Davonlaufen hatte. Unter einem überhangenden
Felsſtück oben auf der Höhe ruhte ich noch ein Stündchen
185
ee
aus, ehe ich den Rückmarſch nach der „Wüſte“ antrat,
rauchte meinen Meerſchaum und genoß die herrliche Aus—
ſicht auf das wilde Felſenthal und den Shoſhonefall. Das
Getöſe von letzterm war hier entferntem ununterbrochenen
Donnerrollen ähnlich.
Das tiefe zerklüftete Thal des Schlangenfluſſes iſt ganz
von vulcaniſchen Felsmaſſen eingeſchloſſen. Ungeheure Lava—
blöcke, pechſchwarze Felsabhänge und auf jedem Schritt und
Tritt poröſes Trachytgeſtein ſind die Spuren der vulcani—
ſchen Erhebung, welche dieſes Land vielleicht vor Jahr—
tauſenden zerriß und dem Schlangenſtrome ſein Bett gab.
Das Getöſe des Waſſerfalls wird von den hoch ihn auf
beiden Seiten überragenden Felswänden aufgefangen, ſo daß
er ſelbſt in kurzer Entfernung gar nicht hörbar iſt. Nur
die Waſſerdampfwolken am frühen Morgen konnten den
erſten Wanderern in dieſer Wildniß eine Ahnung von ſei—
nem Daſein geben. Aber Manche mochten die Wolken als
von indianiſchen Lagerfeuern herrührend anſehen und die
Gefahr drohende Stelle nur um ſo mehr meiden. Dieſes
iſt auch der Grund, weshalb dieſer herrliche Waſſerfall erſt
in ſo ſpäten Jahren bekannt wurde. Ganz zufällig wurde
er von umherſtreifenden Abenteurern entdeckt. Zwölf eng—
liſche Meilen weiter oberhalb des Shoſhone und dreißig eng—
liſche Meilen unterhalb deſſelben und an noch mehr Stellen
im Schlangenfluſſe befinden ſich Waſſerfälle von 20 bis zu
50 Fuß Höhe, die nicht ſelten mit dem Shoſhone verwech—
ſelt werden. Die Fälle weiter unterhalb, in denen die In—
dianer in früheren Jahren Lachſe zu fangen pflegten, heißen
richtig „die großen Fiſchereifälle“ (great fishing falls). Die
Shoſhone-Fälle, welche ihren Namen nach dem Stamme
der Shoſhone-Indianer führen, die jedoch nicht mehr in
dieſer Gegend wohnen, ſondern nach Utah und dem Hum—
boldtfluſſe ausgewandert ſind, werden auch mitunter „die
184
großen amerikaniſchen Fälle“ (the great american falls)
genannt. In früheren Jahren verfammelten ſich die In—
dianer ſchaarenweiſe im Sommer an allen genannten Fällen,
um Fiſche zu fangen; jetzt begegnet man ihnen dort nur
ſelten.
Mein Rückmarſch von der Höhe am Schlangenfluſſe
nach der Rock-Creek-Brücke war äußerſt beſchwerlich. Ich
verirrte mich in dem hohen Salbei-Geſtrüpp vollſtändig und
gelangte erſt gegen Abend an den Rock Creek, aber wenig—
ſtens drei engliſche Meilen unterhalb der Brücke, wo die
ſogenannte alte „Emigrantenſtraße“ (old emigrant road)
an ſeinem Ufer hinlief. Mehrere vergebliche Verſuche machte
ich, über den mit Binſen und Schilf dicht überwachſenen
und im tiefen Felſenbette hinbrauſenden Rock Creek zu ge—
langen, um einen nähern Weg nach der „Wüſte“ zu finden,
bei welchen Verſuchen ich nicht einmal das Waſſer erreichte,
um mich durch einen Trunk zu erlaben. Zuletzt folgte ich
der Emigrantenſtraße, welche mich unangenehm an die in dieſer
Gegend in früheren Jahren oft von den Indianern verübten
Metzeleien erinnerte. Stets ein waches Auge auf etwa
umherſchleichende Rothhäute, wanderte ich ſo ſchnell als
möglich auf der jetzt nur noch ſelten benutzten alten Straße
hin und war froh, bei Sonnenuntergang die Brücke über
den Rock Creek zu erreichen. Jetzt konnte ich wenigſtens
den Weg nach der „Wüſte“ nicht mehr verfehlen. Meinen
Hut ſetzte ich hier als Waſſerbecher wieder in Contribution,
und beſſer hat mir noch ein Trunk Waſſer nie gemundet.
Seit ich vor mehr als ſechs Stunden den Schlangenfluß
verlaſſen, hatte ich auf der ausgedörrten Salbei-Ebene keinen
Tropfen Waſſers zu mir nehmen können, und der Rock
Creek in ſeinem unzugänglichen Felſenbette hatte mir wahre
Tantalusqualen bereitet. Nachdem ich an der Brücke eine
halbe Stunde Raſt gehalten, den Reſt meiner Pfeffernüſſe
185
verzehrt und noch ein gemüthliches Pfeifchen geraucht,
wanderte ich bei eintretender Finſterniß langſam nach der
Station zurück.
Der Mond war aufgegangen und beleuchtete die end—
loſe Salbei-Wildniß mit ungewiſſem Licht, und der Weg
nach der Stage-Station ſchien gar kein Ende nehmen zu
wollen. Einem Coyote, der keine zwanzig Schritt vor mir
quer über den Weg lief und mich unverſchämt über die
Schulter anſah, brannte ich, ehe er ſichs verſah, Eins auf
den Pelz. Das ſchändliche Geheul, welches der Burſche
anſtimmte und das ſeine Brüder rechts und links im Ge—
ſtrüpp unisono beantworteten, trug auch eben nicht zur
Gemüthlichkeit der Situation bei. -
Um halb zehn Uhr in der Nacht ſah ich endlich das
niedrige Dach der Station vor mir. Die Dogge lief mir
wild bellend entgegen, erkannte mich aber bald, und Hans
weckte ich mit einem Piſtolenſchuß, begleitet von meinem
beſten indianiſchen Kriegsgeſchrei. Mit einer alten Flinte
in der Hand öffnete Hans vorſichtig die Thür und war
froh, ſtatt eine Geſellſchaft von Rothhäuten zu ſehen, mei—
ner beſcheidenen Perſon anſichtig zu werden. Er hatte mich
nach Sonnenuntergang nicht mehr erwartet und dachte, ich
hätte am Shoſhone oder irgendwo im Salbei ein Bivouac
bezogen. Daß ich nach einem Marſche von über dreißig
engliſchen Meilen, zum größten Theil durch eine pfadloſe
Salbeiwildniß, und nach den Kletterübungen zwiſchen den
Felſen am Schlangenfluſſe auf meinem Heulager in der
Wüſte göttlich ſchlief, brauche ich wohl kaum zu erwähnen.
3. Nach den Goldminen.
Als ich am Morgen des 14. Mai in der Wüſte er—
wachte, war ich mutterſeelenallein. Vor mir auf der Wollen—
decke lag ein Zettel, worauf Hans in claſſiſchem Deutſch—
Amerikaniſch mit Bleifeder geſchrieben: „daß er mit de
Muhls und Bull nach der Bruck geſtartet ſei, um
de Bruck zu fixen“ (daß er mit den Mauleſeln und Bull
— der Hund — nach der Brücke gegangen ſei, um die
Brücke zu repariren). Da die Sonne bereits hoch am
Himmel ſtand, ehe ich mich aus dem Heu erhob, ſo beſchloß
ich, Frühſtück und Mittagsmahl in einer Mahlzeit zu ver—
einen und Hans bei ſeiner Heimkehr mit einem pompöſen
Diner zu überraſchen.
Geſagt, gethan! — Zuvörderſt ging ich in das Salbei—
Geſtrüpp, an dem in der Nähe der „Wüſte“ eben kein
Mangel war, um mir einen guten Vorrath von Feuerungs—
material zu verſchaffen. Mit meinem Dolchmeſſer hieb ich
in die Salbei-Büſche ein, daß die Fetzen nur ſo davon
flogen, und ſchleppte einen ganzen Chimboraſſo von dürrem
Salbei⸗Holz nach der „Wüſte“. Als Koch habe ich mich
nie ausgezeichnet; doch legte ich diesmal dem miſerablen
Feuerungsmaterial all mein Mißgeſchick zur Laſt. Das dürre
Salbei⸗Geſtrüpp verbrannte ſo ſchnell und mit ſolch einer
intenſiven Hitze — bald ſchlug die Flamme lichterloh im
Kamin empor, bald hatte ich nur ein Häuflein Aſche auf
187
dem Heerd —, daß ein beſſerer Koch als ich auch keine Paſteten
dabei hätte backen können. Das Brot ſah gottsjämmerlich
aus, halb ſchwarz verkohlt und dabei doch nur halb aus—
gebacken; die Erbſen wollten gar nicht weich werden; der
Speck fing ein paar Mal in der Pfanne an zu brennen
und die Suppe, aus Reis, Speck, Pfeffer, Salz, Brot—
kruſten, Mehlbrei und Waſſer künſtlich componirt, hätte ein
franzöſiſcher Koch ſchwerlich als muſtergültig angeſehen.
Punkt zwölf Uhr Mittags langte Hans mit den Muhls
und Bull von der Bruck wieder an, die er gefixt hatte,
und war höchlich erſtaunt, als er mich mit roſafarbenen
Wangen vor einem lichterloh aufpraſſelnden Salbei-Feuer,
mit meinem Dolchmeſſer im Suppentopf herumrührend, am
Heerde daſtehend fand, wo ich eben damit beſchäftigt war,
der Suppe durch neue Zuthaten von Pfeffer und Salz die
letzte Weihe zu geben. Zu meinem Aerger erklärte Hans
meine ſämmtlichen Gerichte, auch die Suppe, auf deren Vor—
trefflichkeit ich mir etwas einbildete, für „no account““
(nichts nutz). Sogar Bull wandte ſich verächtlich davon
ab. Ich überließ Hans wohlweislich das Departement der
Küche und übernahm es, die Muhls zu füttern und in
dem dicht hinter der Station ſtrömenden Rock Creek zu
tränken, welches Amt ich zur vollſten Zufriedenheit meines
Wirthes verwaltete. Mittlerweile hatte Hans ein ſuperbes
Diner aufgetiſcht, dem wir alle drei — Hans, Bull und
meine Wenigkeit — volle Ehre anthaten. Nach Tiſch plau—
derte ich mit Hans über den Shoſhone, die „Bruck“ und
die „Muhls“, über Bull und die „Injuns“, wie er die
Indianer nannte. Ich rauchte meinen Meerſchaum und
machte mir's bequem auf meinem Heulager, bis die Stage—
Kutſche anlangen würde, auf der ich ohne fernern Aufent—
halt nach den Goldminen von Idaho City weiter zu reifen
gedachte.
188
Ich kann nicht ſagen, daß ich Hans um feinen Wüſten—
palaſt ſehr beneidete. Seine nächſten Nachbarn wohnten
zehn und fünfzehn engliſche Meilen von ihm entfernt. Je—
den Tag paſſirte nur eine Stage-Kutſche vorbei, die etwa
zehn Minuten lang an der Station anhielt, um Pferde oder
Mauleſel zu wechſeln. Hierauf beſchränkte ſich Hanſen's
Verkehr mit der Außenwelt. Nachts ſtörte ihn, wie er
mir klagte, oft das Geheul von Wölfen und Coyotes, auf
die er eine beſondere Malice zu haben ſchien, und denen er
bei paſſender Gelegenheit eins auf den Pelz brannte. Die
in letzter Zeit in dieſer Gegend umherſtreifenden Indianer
trugen auch eben nicht zur Gemüthlichkeit ſeines Stilllebens
bei. Doch hatte er ſeine aus Felsblöcken erbaute Wohnung
mit Schießſcharten wohl verſehen und konnte zum Nothfall
in der Wüſte eine längere Belagerung von den Rothhäuten
aushalten. |
Hans vertraute mir an, daß er bevor lang nach den
„Staaten“ zurückwollte und zwar allein auf einem Muhl
über die von feindlichen Indianern umſchwärmten Steppen.
Auf ſeine Bitten überließ ich ihm meinen Marinerevolver,
den ich von jetzt an nicht mehr nöthig hätte, da die In—
dianer noch nie eine Poſtkutſche auf der Landſtraße von
hier nach Boiſe City beläſtigt. Mit einem guten Revolver
bewaffnet wie der meinige, den er beſonders lieb gewonnen,
fürchte er ſich nicht vor allen Sioux, Aräpahoes, Cheyennes
und wie die lumpigen „Injuns“ alle heißen möchten.“
Um halb ſechs Uhr Abends langte die erſehnte Stage—
Kutſche, welche den Namen „oro coriete““ (kleiner Gold—
* Hans iſt ſeinem Entſchluſſe treu geblieben; er trat im Som—
mer feinen Don⸗Quixote-Ritt nach den „Staaten“ richtig an, wie
mir der Zahlmeiſter von Wells, Fargo und Comp. im Herbſte 1867
in Boiſe City erzählte.
A,
wagen) auf dem Kutſchenſchlag führte, bei der „Wüſte“ an,
ich ſagte Hans „good- bye“ und bald darauf rollte ich
weiter dem Goldlande entgegen. Wieder war ich der einzige
Reiſende in der Stage. Paſſagiere giebt es in den Stages
vom Bärenfluſſe nach Boiſe City nur wenige. Die meiſten
Reiſenden von Idaho nach San Francisco oder nach den
„Staaten“ ziehen den Weg über die Blauen Berge und
den Columbia hinunter oder den über die Humboldt-Route
nach Californien, der bei Salt Lake City vor.* Die Ein-
nahmen auf dieſer Stage-Linie beſchränkten ſich zum größten
Theil auf die von den Vereinigten Staaten an Wells, Fargo
und Comp. gezahlten Subſidien für den Transport der
Poſtſäcke, welche Summen allerdings enorm waren.
Zehn engliſche Meilen von der Deſert-Station kamen
wir an den Schlangenfluß. Auf abſchüſſigem Wege rollten
wir ſchnell hinunter in das felſenumgürtete tiefe Thal, das
hier dieſelben vulcaniſchen Formationen zeigte, welche mich
am Shoſhone jo in Erſtaunen geſetzt — himmelanſtrebende
ſchwarze Felswände und poröſes gebranntes Geſtein wohin
das Auge ſah. Das wilde Felſenthal hallte wieder von
einem einförmigen Getön, welches von einem an der nörd—
lichen Felswand aus bedeutender Höhe herabfallenden nicht
unanſehnlichen Waſſerfall herrührte. Als wir die Thalſohle
erreicht hatten, bemerkte ich mit Erſtaunen, daß genannter
Waſſerfall nicht vom Rande der Felswand oder aus einer
in dieſelbe mündenden Schlucht herabſtürzte, ſondern in der
Mitte der Wand aus halber Felshöhe als ein mächtiger
Strom hervorbrach, denn eine Quelle konnte man den Waſſer—
fall nicht wohl nennen. Es war dieſes der ſogenannte
* Seit Eröffnung der Centralpacific-Eiſenbahn fahren Stage—
Kutſchen von Boiſe City im Territorium Idaho nach der Eiſenbahn—
ſtation Winnemucca im Staate Nevada.
190
„Unbekannte Fluß“ (unknown river), wahrſcheinlich
die Mündung eines unterirdiſchen Stromes, vielleicht einer
jener vielen Flüſſe, die in dem großen Lavafelde, 35 engliſche
Meilen nordnordöſtlich von dieſem Punkte gelegen, plötzlich
verſchwinden, und der hier wieder zu Tage tritt. Genanntes
Lavafeld iſt etwa 100 engliſche Meilen lang bei 90 Meilen
Breite, mit einer Menge von ausgebrannten Kratern darin.
Die vielleicht vor Jahrtauſenden dort aus der Erde her—
vorgebrochene Lava muß ſich wie ein flammender wogender
See nach allen Richtungen hin über die flache Gegend aus—
gebreitet haben, bis ſie allmählich erkaltete und ſich in feſtes
Geſtein verwandelte. Die finſtere Einöde ſoll ein Bild
troſtloſer Starrheit geben, welche den Wanderer, der daran
vorübereilt, um die „Eldorados“ von Montana und des
nördlichen Idaho zu erreichen, mit Schrecken erfüllt. Alle
Flüſſe, die ſo zu ſagen in das ungeheure Lavafeld münden,
verſchwinden darin, z. B. der „Holzfluß“ (wood river),
der „verloren gegangene Fluß“ (lost river), der „Birken—
bach“ (birch breek) und viele andere.
Bei Sonnenuntergang überſchritten wir den hier an
200 Ellen breiten Schlangenfluß auf einer Fähre. Als wir
in der Mitte des Stromes waren, brauſte plötzlich ein
Sturmwind das Felſenthal herauf und erfüllte daſſelbe mit
donnerähnlichem Getöſe. Mit genauer Noth erreichten wir
das jenſeitige Ufer, wo ein Stoßwind das breite Fährboot
an der Seite faßte und am Ufer hintrieb. Die Bootsleute
ſprangen mit Tauen durch das Waſſer ans Land und waren
ſo glücklich, dieſelben um ein feſtes Felsſtück zu ſchlingen
und ſo die Fähre feſtzulegen, während ich dem Kutſcher nach
Kräften half, die wildgewordenen Pferde zu beruhigen. Froh
war ich, als die Stage glücklich vom Fährboot herunter
und am Ufer war. Dieſe Stoßwinde ſind hier nicht ſelten
und machen die Ueberfahrt über den Schlangenfluß, der zum
191
Ueberfluß auch noch mit gefährlichen Waſſerwirbeln geſegnet
iſt, mitunter ſehr ſchwierig und an beſonders windigen Ta—
gen geradezu unmöglich. Als die Nacht hereinbrach, fuhren
wir von der jenſeits des Schlangenfluſſes liegenden Stage—
Station mit friſchem Vorſpann auf ſteilem aus den Felſen
gehauenem Wege am nördlichen Abhange hinauf. Schroff
ragten die ſchwarzen Felswände rechts am ſchmalen Wege
empor, während linker Hand der Berg unter uns nicht min—
der ſteil mehrere hundert Fuß bis an den Fluß abfiel. Ich
ging neben der Kutſche her und griff kräftig in die Speichen
wenn die Pferde den Wagen nicht weiter fortſchleppen konn—
ten, während einer der Stationswächter, der uns bis zur
Höhe begleitete, auf den gegebenen Zuruf des Kutſchers
jedesmal große Steine hinter die Räder legte, um das
Zurückrollen des Wagens zu hindern. Da außerdem ein
Rad durch den Hemmſchuh feſtgehalten wurde, ſo kann
man ſich denken, daß der Berg ziemlich ſteil war.
Glücklich hatten wir die Höhe erreicht, wo ſich eine
öde Hochebene vor uns ausbreitete. Da wir nach der Aus—
ſage des Kutſchers während der nächſten neun Meilen einen
tiefen und ſandigen Weg hatten, ſo benutzte ich die Ge—
legenheit zu einem ſanften Schläfchen in der Kutſche. Um
drei Uhr in der Nacht weckte mich ein wildes Gebrauſe.
Als ich aus dem Kutſchenfenſter ſchaute, paſſirten wir ſoeben
einen mit erſtaunlicher Schnelligkeit in felſigem Bette dahin—
ſchießenden Fluß. Der Mond ſchien hell und beleuchtete
eine wilde Landſchaft. Es war der Maladefluß, den wir
ſoeben paſſirt. Sein Bett iſt in kleinerm Maßſtabe wie
das des Schlangenfluſſes eine zerriſſene Lavaſpalte. Weiter
unterhalb ſtehen hohe Trachytſäulen inmitten ſeiner reißenden
Fluth und ausgedehnte Lavahöhlen liegen an ſeinen Ufern,
durch welche die wilden Gewäſſer donnernd hinbrauſen.
Seiner faſt beiſpiellos wilden Fluth, welche mich an die
192
Reuß erinnerte, und die in früheren Jahren, als der Strom
noch nicht überbrückt war, die Paſſage ſehr gefährlich machte,
ſowie ſeinen düſteren Umgebungen hat der Malade ſeinen
Namen zu verdanken.
In der Malade-Station, wo wir bis nach dem Früh—
ſtück verweilten, wurde ich ſofort von Wirthsleuten nach
den großen Shoſhonefällen befragt. Der Zahlmeiſter von
Wells, Fargo und Comp. oder die Kutſcher der letzten Stages
mußten von meiner Excurſion nach den Fällen erzählt haben,
denn bis nach Boiſe City war mir das Gerücht davon vor—
angegangen, und auf jeder Station muſterte man mich mit
neugierigen Blicken. Die Frage: „Sind Sie der Mann,
der zu Fuß ganz allein nach dem Shoſhone gegangen?“
— wurde mir zu meiner nicht geringen Befriedigung öfters
geſtellt. Es that mir gut, von dieſen verwegenen Pionieren
der Civiliſation in den Wildniſſen des fernen Weſtens mit
Reſpect betrachtet zu werden.
Der 15. Mai, der ſechste Tag meiner Reiſe, ſeit ich
das neue Jeruſalem verlaſſen und der mich nach Boiſe City,
der Hauptſtadt des Territoriums Idaho, bringen ſollte, bot
wieder manches Neue und Intereſſante. Die mit grünlichem
Salbei bedeckten Hügel nahmen ſich von fern oft recht ma—
leriſch aus, und die vielen vulcaniſchen Formationen, welche
ich an dieſer Strecke ſah, intereſſirten mich ſehr. Ein ſilber—
grauer Wolf, ein prächtiges Thier, der uns keine hundert
Schritte weit vom Wege in ſitzender Stellung ungeſtört
angaffte, ließ mich meinen Handel mit Hans wegen der
Piſtole faſt gereuen. Gar zu gern hätte ich dem naſeweiſen
Burſchen ein paar Kugeln als paſſenden Morgengruß zuge—
ſchickt. Siebzehn engliſche Meilen vom Malade, bei den
ſogenannten „Kleequellen“ (clover springs), lief ein Bach
rauſchend unter mehreren natürlichen Felsbrücken hin, über
welche die Kutſche ſicher hinüberfuhr. Alle dieſe Brücken
103
waren aus zuſammengeſchobenem Geſtein gebildet. Jenſeits
der „Kleequellen“ kamen wir durch eine breite Niederung.
Die verſchiedenen Brückenübergänge auf den ſumpfigſten
Stellen waren einfach aus loſe hingeworfenen Feldſteinen
gemacht, in Vergleich mit denen der ärgſte Knüppeldamm in
Miſſiſſippi oder Arkanſas mir eine treffliche Chauſſee ſchien.
Wir begegneten jetzt öfters Goldgräbern, einzeln und
in kleinen Geſellſchaften, zu Fuß und zu Roß, mit Flinte,
Wollendecke und Lebensmitteln beladen, und langen mit
Werkzeugen zum Bergbau und mit Waaren aller Art be—
packten Maulthier- und Ponykaravanen (pack trains), die
von Oregon und dem Boiſe-Baſſin in Idaho kamen und
über die Malade-Brücke nach den neuentdeckten Goldminen
von Lemhi (Lemhei) zogen, am obern Salmon-Fluſſe, 300
engliſche Meilen nordöſtlich von hier an der Grenze der
Territorien Idaho und Montana gelegen. Meine alten
Bekannten von Oregon, die Kaiuhß-Ponies, erkannte ich
ſogleich wieder. Immer noch waren ſie die ſtörriſchen und
biſſigen Creaturen, wie ich ſie in „The Dalles“ in früheren
Jahren ſo oft bewundert. Eine beſondere Malice hatten ſie
auf die ſchweren Packe, die ſie herzlich gern vom Rücken
herabgeworfen hätten. Mancher der giftigen Ponies rollte
ſich im Uebermaße der Bosheit im Salbei-Geſtrüpp mit
Kiſten und Ballen auf dem Rücken, bis ein ergrimmter
Mexikaner — zu welcher Nation hier die meiſten Laſtthier—
treiber gehören —, den klingenden Radſporn am Stiefel und
mit der bunten mit Ledertroddeln behängten Schabracke unter
dem hochgehörnten prächtigen Sattel, unter einer Fluth von
„earajos‘“ und „‚carambas““ herangeſprengt kam und die
ſchlechtgelaunten Pferdchen mit der gewichtigen Lederpeitſche
Mores lehrte.
Einmal begegnete uns eine Karavane von mehr als
hundert Packthieren, Ponies und Mauleſel, die ſämmtlich
13
194
wild geworden und auf einer regelrechten „Stampede“ be—
griffen waren. Unſer Viergeſpann von muthigen Braunen
ſchloß ſich der wilden Jagd ſofort an und querfeldein ging's
durch das Salbei-Geſtrüpp in ſauſendem Galopp, mit den
Mexikanern hinter uns drein, unter Halloh, Peitſchenknall
und grimmigen Flüchen, und die Stage ſchaukelte und machte
Sätze, daß es alle meine Geſchicklichkeit in Anſpruch nahm,
nicht von dem hohen Bock hinunter zu fallen. Blücher,
unſer muthigſter Brauner, zeigte ſich bei dieſer Hetzjagd
ganz beſonders eifrig und wollte von unſerm ihn mit
Peitſchenhieben erbarmungslos bearbeitenden Kutſcher gar
keine Raiſon annehmen. Endlich athmete ich wieder auf;
die Kaiuhß-Ponies und die Mauleſel waren der Stampede
müde, Blücher machte ſeine letzten Kraftſprünge und wir
erreichten glücklich wieder die Landſtraße, nachdem unſer
Kutſcher die „verdammten Greaſer“ (Grieſer — Schmutz
pelze —, der bei den Amerikanern übliche Spottname für
Mexikaner) noch mit einer Fluth der ausgewählteſten Schimpf—
wörter geſegnet.
Wir kamen jetzt auf eine weite Hochebene. Linker
Hand gewahrte ich noch einmal den Schlangenfluß, der in
tiefen Caſions ſtrömte, und vor uns erhob ſich die lange,
weißliche Facade des „Königsbergs“ (King's mountain)
hier und da von dunkleren, zerriſſenen Felſen gekrönt.
Das ganze Plateau war buchſtäblich lebendig von hundert—
tauſend Billionen von Crickets (eine Heuſchreckenart
ohne Flügel), welche ſich in abgeſonderten Heerſchaaren
von etwa je 50,000 wie Cavalleriebrigaden mit höchſt
eleganten Seitenſprüngen alle nach einer Richtung hin
bewegten. Erbarmungslos fuhren wir durch ihre dichten
Schwadronen, welche die Landſtraße kreuzten, und zer—
quetſchten Tauſende davon mit unſeren Rädern. Die
Crickets ſind eine große Landplage für die Gegenden im
3
195
fernen Weſten von Nordamerika. Im Salbei» Geftrüpk
allerdings können ſie keinen Schaden anrichten; über—
fallen ſie aber, wie nicht ſelten geſchieht, eins der ange—
bauten Thäler, ſo zerſtören ſie die Ernten in kurzer Zeit
mit Stumpf und Stil. Mitunter ſchützen die Farmer ihre
Felder durch einen Fuß hohe Bretterwände mit wagerecht
nach außen daran genagelten drei Zoll breiten Streifen aus
Blech, (ericket fences), über welche die Crickets nicht hin—
über voltigiren können. Ueber ein Haus klettern ſie mit
Leichtigkeit hinweg. Durch nichts ſind ſie von ihrer einmal
angenommenen Marſchroute abzubringen. Millionenweiſe
ſtürzen ſie ſich in die Bäche und laſſen ſich von der Fluth
forttreiben, und diejenigen von ihnen, welche ans andere
Ufer geſchwemmt werden, ſetzen dort ihre Reiſe fort. Alles
freſſen ſie auf, Leder, alte Kleider, Wollendecken; Pferde—
dünger iſt für ſie eine beſondere Delicateſſe und ſogar
die Leichname ihrer Brüder verzehren ſie. Sind die ſprin—
genden Vielfreſſer einmal in den Feldern, ſo nützt weiter
nichts als etwa die Hülfe vom lieben Gott, wie derſelbe
ſie auf Brigham's Wunſch durch die Möven des Salzſees,
welche die Crickets auffreſſen, einſt den Mormonen zu
Theil werden ließ, falls ſie ſich nicht durch Lärminſtru—
mente, wie z. B. Gongs, Trommeln, kupferne Keſſel, alte
Blechgefäße ꝛc. aus den Feldern vertreiben laſſen. Letzt—
genanntes Mittel hat ſich ſchon oft als probat erwieſen,
da die Crickets ein beſonders fein ausgebildetes muſicali—
ſches Ohr haben und einen derartigen Höllenlärm gründlich
haſſen. Es wird behauptet, daß die Civiliſation, theilweiſe
durch Zerſtörung der Eier durch Pflügen und namentlich
durch die Schweine, welche die Crickets mit Wolluſt freſſen,
der Vermehrung derſelben Einhalt thut und ſie nach und
nach ausrottet. Wer aber wie ich ihre Armeen hier und
auf dem Königsberge geſehen hat, dem muß ihr baldiges
13 *
196
Ausſterben ſehr problematisch ſcheinen. Für die Indianer
ſind die luſtigen Springinsfelde ein „gefundenes Freſſen“;
ſie greifen die Crickets mit der Hand und verzehren die—
ſelben lebendig mit Haut und Haaren und erklären ſie für
den beiten muk-a-muk (Biſſen) unter der Sonne.
Langſam fuhren wir den Königsberg hinan, der weiter
nichts als ein terraſſenartiger Abfall eines höhern Plateaus
iſt. Er war mit unzähligen goldgelben Sternblumen, die
ihm das Anſehen einer Frühlingswieſe gaben, wie beſäet.
Das ganze Plateau war von zerbröckeltem gebrannten Ge—
ſtein bedeckt und hatte augenſcheinlich einer vulcaniſchen He—
bung ſeine Entſtehung zu verdanken. Vor uns am Hori—
zonte zeigten ſich ſchneegekrönte Bergzüge und der Rückblick.
auf das ſoeben von uns verlaſſene niedrigere Plateau war
recht maleriſch. Neuen Abtheilungen von Goldjägern und
langen Zügen von ſchwerbeladenen Packthieren begegneten
wir faſt jede halbe Stunde — alle nach dem neuen „El—
dorado“ Lemhi unterwegs —, und die zahlloſen Cricket—
Heerſchaaren ſchienen, nach ihren ſiegesmuthigen Sprüngen
zu urtheilen, den Königsberg ſoeben mit Sturm eingenom—
men zu haben.
Die Fahrt über den Königsberg war ſonſt keineswegs
eine angenehme. Unſer Viergeſpann, welches im ſchlanken
Trab dahineilte, ließ die Stage-Kutſche über das eiſenharte
Geſtein tanzen, daß ich à la Greeley jeden Augenblick von
einer Wagenecke in die andere flog. Um die Situation zu
vergeſſen, verſuchte ich, ein Buch über den Mormonenkrieg
zu leſen, das ich mir in Salt Lake City gekauft. Ich brachte
es kaum fertig, ein paar Sätze zu entziffern, als der Mor—
monenkrieg bereits unter einen der Sitze flog. Meine hoch—
verrätheriſchen Gedanken über den Königsberg mit Bemer—
kungen über die Könige im Allgemeinen wollte ich, ergrimmt
über die ſchlechte Behandlung, welche mir auf dieſem „Ter—
197
rain von Gottes Gnaden“ zu Theil ward, in mein Tage:
buch notiren. Die Figuren, welche ich mit der Bleifeder
ſchrieb, ſahen eher ägyptiſchen Hieroglyphen als deutſchen
Buchſtaben ähnlich, und ich war ſelber nicht im Stande, das
Geſchreibſel zu leſen. Eben ſo gut hätte ich „Agnes, ich
liebe Dich!“ an die blaue Himmelsdecke, als einen leſerlichen
Satz in mein Tagebuch ſchreiben können. Daß ich Alles
haßte — Himmel, Sonne, die ganze Welt, das elende Sal—
bei, das Wetter, die Stage, die Pferde, den Kutſcher, die
Könige aller Groß- und Kleinſtaaten und insbeſondere den
Königsberg —, war unter den Umſtänden wohl zu ent—
ſchuldigen. Zuletzt flüchtete ich mich auf den Bock, wo es
mir noch ſchlimmer erging. Bei den entſetzlichen Sprüngen,
welche die Stage faſt fortwährend machte, konnte ich nur
mit genauer Noth das Herabfallen von dem hohen Sitze ver—
hindern. Der Kutſcher warf mir malitiöſe Seitenblicke zu,
als ich mich, die Zähne feſt zuſammengeſetzt, mit aller Macht
am Bock feſtklammerte, und hieb nur um ſo grimmiger auf
die Pferde ein. Er machte mich auf einen nahen Gebirgs—
zug aufmerkſam, der voll von merkwürdigen heißen Quellen
ſei. Ich wünſchte (ganz im Stillen) ihn, den Kutſcher, und
Pluto mit ſeinem gebrannten Felsgeröll, ſeinen merkwürdigen
heißen Quellen und dem elenden Königsberge bis weit
hinter den Planeten Kolob, in den ſiebenten Abgrund von
Brigham's unterſter Hölle. So arg ward ich bei dieſer
Fahrt über den Königsberg zuſammengerüttelt, daß ich da—
bei heftig aus der Naſe zu bluten anfing.
Der Weg wurde jetzt etwas weniger holperig, und
ich nahm mir Muße, die Gegend genauer zu betrachten.
Linker Hand vor uns tauchten die ſchneegekrönten Gebirge
von Owyhee (Oweihi) auf. In ihnen liegen reiche
Silbergänge, darunter die „Poor-Man-Mine“, welche
in der großen Pariſer Expoſition vom Jahre 1867 die
198
erfte Goldmedaille für das reichſte Silbererz in der Welt
davon trug. Wir fuhren an dem Berge hin, der nach
Ausſage des Kutſchers voll von heißen Quellen war. Bei
einer derſelben kamen wir nahe vorbei, welche ſo heiß
ſein ſoll, daß man den Finger beim Hineinſtecken ver—
brennt. Goldgelbe Sternblumen und hellgrüne Gräſer
wuchſen hart am Rande des dampfenden Baſſins, das die
Quelle ſich gebildet.
Bei der Station „Rattelſnake“ mußten wir anderthalb
Stunden auf die Boife-Stage warten. Neue Heerſchaaren
von Millionen von Crickets und mehrere Lemhi-Touriſten
zogen hier an uns vorbei. Endlich langte die Boiſe-Stage
an. Wir ſpannten vier elegante Mauleſel ein, die ſich aber
entſchieden weigerten, anzuziehen. Nachdem der Kutſcher
eine halbe Stunde mit Peitſchenhieben und Schimpfreden
auf die ſtörriſchen Mauleſel vergeudet, ſteckten er und meine
Wenigkeit uns alle Taſchen voll mit ſpitzigen Steinen und
fingen an, die Eſel vom Bock damit zu bombardiren, bis
dieſe ſich eines Beſſern beſannen und ſich plötzlich erſt in
muntern Trab und dann in Galopp ſetzten. Als die Eſel
ſich einmal zur Weiterreiſe entſchloſſen hatten, thaten ſie
ohne Frage ihr Beſtes. Schneller als unſere vier Maul—
eſel die nächſten fünf Meilen liefen, ſind vier Mauleſel
ſchwerlich jemals vor einer Stage-Kutſche gelaufen. Aber wir
hatten kein Erbarmen mit den Eſeln und hörten nicht eher
auf ſie mit Steinen zu bombardiren, bis unſere Munition
erſchöpft war. Der Wagen tanzte dabei auf den eiſenharten
Steinen, mit denen der Weg wie gepflaſtert war, als ob
Alles daran kurz und klein brechen müßte. Gegen Abend
kamen wir nach der „Caſion-Station“. Die Hochebene war
hier gleichſam auseinandergeſpalten. Die ſchmucken Stations—
gebäude in dem hellgrünen Thalgrunde, durch den ein ſilber—
klarer an köſtlichen Forellen reicher Bach ſprudelte, mit
198
Weidenbüſchen und ſmaragdenen Wieſengründen an feinen
Uſern, gaben ein anmuthiges Bild.
Weiter fuhren wir die Nacht durch bis nach Boiſe
City. Ein neuer Kutſcher, der den Bock beſtiegen hatte,
ein ſchweigſamer, finſterer Geſell, war nicht dazu zu be—
wegen, mit mir ein Geſpräch anzuknüpfen. Da die Gegend,
eine öde Salbei-Ebene, durchaus nichts Anziehendes bot, ſo
überließ ich den unfreundlichen Kutſcher ſich ſelbſt und quar—
tierte mich im Coupé der Stage ein, wo ich bald in Schlum—
mer ſank. Als ich bei Tagesanbruch erwachte, kreuzten wir
eben einen nicht unanſehnlichen Strom mit flachen Ufern,
den Boiſefluß, auf einer Fähre. Ein ſchönes Thal, mit
grünen Bäumen und Feldern geſchmückt, lag vor uns, die
erſte einem civiliſirten Lande ähnliche Gegend, welche ich ſah,
ſeit ich die Mormonenniederlaſſungen verlaſſen. Bald hatten
wir das andere Ufer erreicht und fuhren der nahen Stadt
Boiſe City zu, wo wir, 473 engliſche Meilen von Salt
Lake City, um vier Uhr Morgens vor dem „Overland Hotel“
zu Halt kamen.
Boiſe (Boiße) City iſt die Hauptſtadt des 96,000 eng—
liſche Ouadratmeilen großen Territoriums Idaho (Eidaho).
Die Einwohnerzahl von Idaho beträgt etwa 30,000 und
die von Boiſe City 2000. Die Stadt hat ein ſchmuckes
Aeußeres und iſt der bedeutendſte Handelsplatz zwiſchen den
Städten Portland in Oregon und Helena in Montana.
Während der Wintermonate halten ſich hier viele Miner
auf, Abenteurer, Spieler und ähnliche Subjecte, meiſtens
aus den reichen Bergbaudiſtricten von Idaho, welche dieſen
Platz ſeines milden Klimas halber den rauheren Minen—
ſtädten zum Ueberwintern vorziehen und ihr während der
Sommermonate in den Goldminen erworbenes Kleingeld
hier anſtändig unter die Leute bringen. In Boiſe City
fällt das Thermometer im Winter ſelten unter 18 Grad
200
Réaumur Kälte, was den Goldgräbern in den Minen, wo
26 bis 30 Grad Neaumur Kälte keine Seltenheit iſt, ge—
müthlich warm dünkt. Die in jeder Minenſtadt an dieſer
Küſte üblichen Vergnügungslocale, wie Hurdy-Gurdy-Tanz—
häuſer, öffentliche Spielhöllen, Arenas für Hahnen- und
Hundekämpfe ꝛc., ſind ſelbſtverſtändlich auch in Boiſe City
zahlreich vertreten, und Trinkſalons giebt es dort wie Sand
am Meere.
Das fruchtbare Boiſe-Thal iſt 50 bis 60 engliſche
Meilen lang und liegt auf beiden Ufern des Boiſe—
Fluſſes. Der angebaute Theil deſſelben iſt jedoch nur 2
bis 3 engliſche Meilen breit mit einer öden und ſandigen
Salbei⸗Ebene zu beiden Seiten bis nach den nächſten Hügel—
reihen. Gerſte und Weizen gedeihen hier vorzüglich. Erſtere
giebt, wenn die Crickets und Heuſchrecken die Ernten nicht
zerſtören, was nicht ſelten der Fall, einen Durchſchnitts—
ertrag von 45 Scheffel pro Acker, letzterer einen von
35 Scheffel. Die Heuernte iſt bedeutend und kann zu 15
bis 25 Dollars die Tonne (20 Centner) leicht verwerthet
werden. Gartenfrüchte aller Art, Butter, Hühner, Eier
und dergleichen mehr finden in den umliegenden Minen—
diſtricten ſtets einen profitablen Abſatz. Minen giebt es
und um Boiſe City keine. Sechs engliſche Meilen unter—
halb der Stadt liegen einige Goldwäſchereien im Boiſe—
Fluß, die aber nicht von Belang ſind. Die reichſten Gold—
minen von Bedeutung find die im Boiſe-Baſſin, 30 bis 40
engliſche Meilen von hier. Täglich rollen vier bis fünf
Stage-Kutſchen in die Stadt — von Umatilla am Colum—
bia, von Californien über die Humboldt-Route, von Salt
Lake City und von den Minen von Idaho City und
Süd⸗Boiſe — und der Fremdenverkehr iſt beträchtlich. Ein
anſehnlicher Vereinigte-Staaten-Militärpoſten in der Nähe
der Stadt (Fort Boiſe) ſowie die vielen Territorialbeamten,
201
welche in Boiſe City mit ihren Familien wohnen, tragen
nicht wenig dazu bei, Handel und Wandel hier lebhaft
zu machen.“ a
Außer den reichen Golddiſtricten des Boiſe-Baſſin find
die Silber- und Goldminen von Owyhee (Oweihi) und die
von Süd-Boife für Boiſe-City die wichtigſten. Die Oweihi—
Gebirge, welche bis in den Sommer hinein ſchneebedeckt
find, ſieht man deutlich von Boiſe-City aus. Der höchſte
Berg in jener Kette iſt der „Kriegsadlerberg“ (war eagle
mountain), nach barometriſcher Meſſung von Karl v.
Liebenau ** 9260 Fuß über dem Meere. Die Haupt—
minenſtadt in Owyhee iſt Silver City, 8301 Fuß über
dem Meere. Owyhee führt ſeinen Namen nach einigen in
früheren Jahren im alten Fort Boiſe wohnenden Sandwich—
inſulanern. Weihi heißt in der Kanaka-Sprache Mann
und o iſt Interjection.
Die Minen von Owyhee liegen 60 engliſche Meilen
in ſüdweſtlicher Richtung von Boiſe City. Die Goldpro—
duction (meiſtens im Silber enthalten) der dortigen Gruben
iſt ihrer Silberproduction an Werth beinahe gleich. Da
aber durchaus kein fremdes Capital dorthin eingeführt wird,
ſo iſt der Ertrag dieſer Minen ſehr ſchwankend und der
Bergbau beſchränkt ſich auf die geringen Mittel der daſelbſt
Anſäſſigen, die jedoch zuweilen ſehr reichlich für ihre Mühe
* Boiſe City hat ſich ſo ziemlich auf der geſchilderten commer—
ciellen Rangſtufe erhalten; nur findet der Hauptverkehr mit der
civiliſirten Außenwelt jetzt vermittelſt Poſtkutſchen direct nach der
Centralpacific-Eiſenbahn ſtatt.
a Karl v. Liebenau, Berg- und Hütten-Ingenieur der Frei—
berger Bergſchule, dem ich die meiſten der in dieſen Skizzen an—
geführten bergmänniſchen Notizen zu verdanken habe. Derſelbe
wohnte in den ſechziger Jahren in Idaho und lebt gegenwärtig (1874)
in Braſilien.
200
belohnt werden, und ſchon Hunderttauſende von Dollars
dem Nationalvermögen zugeführt haben. Die edlen Me—
talle von Owyhee werden über die Humboldt-Route direct
nach San Francisco „sverſchifft“, Boiſe City zieht außer
durch den Productenhandel nur wenig Nutzen aus jenen
Minen. |
Die erzführende Gangzone im Silber-City-Minendiſtrict
(Owyhee) iſt zwei engliſche Meilen lang und eine Meile
breit. Die darin auftretenden Gänge ſind in ihrer Zu—
ſammenſetzung einander ſehr ähnlich. Alle führen in Quarz
und lettigen Saalbändern Gold, Hornſilber, Glaserz und
Rothgültigerz; oft ſind die Stufen durch einen geringen
Kupfergehalt grün und blau gefärbt. In der Mächtigkeit
ſind die Gänge ſehr verſchieden; von wenigen Zollen weiten
ſie bis zu vier Fuß aus. Während in der „Oro-Fino—
Mine“ ſtets geſchoſſen werden muß, wird in der „Poor—
Man-Mine“ nur die Picke gebraucht. Beide genannten
Hauptminen dieſes Bergbaudiſtricts liegen am Kriegsadler—
berge. Die in Owyhee gewonnenen Erze werden in zehn
Stampfmühlen, welche theils am Sinkerbach, theils am
Jordanbach liegen und 128 Stempel führen, verarbeitet
und das freie Gold und Silber wird in eiſernen Pfannen
mittelſt Amalgamation gewonnen. |
Der Sid-Boife-Minendiftriet, der feinen natürlichen
Handelsweg nach Boiſe City nimmt, liegt 120 englische
Meilen in ſüdöſtlicher Richtung von dieſer Stadt und
zeichnet ſich vor den Owyhee-Minen durch Mächtigkeit der
Gänge aus, die hier von 10 bis über 30 Fuß breit ſind.
Das Silber und Gold kommen ſtärker vererzt vor und
widerſtreben dem Amalgamationsproceß im rohen Zuſtande.
Das Gold iſt hier hauptſächlich in Schwefel- und Arſenkies
vorhanden und das Silber als Rothgültig und Polybafit.
Ebenſo wie in Owyhee iſt das Nebengeſtein der Gänge
203
Granit. Eine Mühle mit 10 Stempeln ift unfähig mehr
als 10 bis 15 Procent des Gehalts an edlen Metallen
den Erzen zu entziehen und will man deshalb einige Oefen
bauen. Ein halbes Dutzend Stampfmühlen, welche von
Newyorker Compagnien unter der Leitung von geriebenen
Jungen als Superintendenten nach Süd-Boiſe geſchickt
wurden, liegen im Gebirge zerſtreut und warten auf die
Entdeckung eines neuen Goldgewinnungsproceſſes, der ihnen
Thätigkeit verſchaffen ſoll. Rocky Bar, der Hauptort
dieſes Minendiſtricts giebt mit feinen zerfallenen Häuſern zc.
ein treffendes Bild einer heruntergekommenen Minenſtadt.
Doch iſt der Reichthum von Süd-Boiſe an edlen Metallen
kaum angetaſtet und die Zeit wird kommen und iſt vielleicht
nicht fern, wo ſeine Felſenthäler von dem Lärm thätiger
Pochwerke wiederhallen werden. Die Hauptmine in Süd—
Boiſe find die „Atlanta- Mine“ und die „Red-Warrior—
Mine“. In beiden findet ſich reines Gold- und reines
Silbererz neben einander in denſelben Gängen und jede
Erzſorte wird für ſich verarbeitet.
Mein Aufenthalt in Boiſe City beſchränkte ſich auf
ein paar Stunden. Wenig dachte ich damals, daß dieſer
Ort mir als Heimath für die kommenden Herbſt- und
Wintermonate dienen ſollte, und noch weniger ahnte ich,
daß ich in ſeinen Mauern dieſe Skizzen ſchreiben würde.
Freunde habe ich dort gefunden, die mir lieb und theuer
geworden, und von denen ich doch ſo bald wieder ſcheiden
ſollte. Aber ſo iſt das Leben eines queckſilberigen Kosmo—
politen, und hat Apoll ihn noch obendrein mit ſeinem Zau—
berſtabe, wenn auch nur flüchtig, berührt, ſo iſt er doppelt
zu beklagen. Wer hieß mich auch wie ein fahrender Ritter mit
Gänſekiel und Kaufmannselle über den halben Erdball wan—
dern! Mercurius hat den Gott mit der goldenen Leier von
jeher gehaßt, und daß es auch in meinem Geiſte zwiſchen
204
den zwei antagoniſtiſchen Göttern, die ich beide auf einmal
zu Beſuch geladen, recht oft zu Raufereien en mußte,
hätte ich voraus wiſſen ſollen.
Freundlich ſchien die Morgenſonne des 16. Mai, als
ich Boiſe City Lebewohl ſagte und, am letzten Tage meiner
Stage-Fahrt über den Continent, der Minenſtadt Idaho
City entgegeneilte. Vorbei ging es an den ſchmucken Gar—
niſonsgebäuden von Fort Boiſe und bald lag das grüne
Boiſe-Thal hinter uns und wir fuhren hinaus in die Berge
auf ſandiger Landſtraße. Mit Ausnahme einiger felſigen
Päſſe bot die Gegend wenig Intereſſantes. Die Berge
waren meiſtens kahl oder nur mit Salbei bewachſen, und
nur ſelten zeigte ſich ſpärlicher Fichtenwuchs auf den Höhen.
Eine Schande war es, wie rückſichtslos die Bewohner die—
ſer Gegend mit den Bäumen umgingen und alle vereinzelt
daſtehende Fichten umhieben. Die jetzige Generation in
dieſen Ländern nimmt offenbar nur auf ihren eigenen Vor—
theil Bedacht, ihre Nachkommen mögen ſelber zuſehen, wo
ſie Holz herbekommen. Es iſt der Fluch aller Minenländer
in Amerika, daß Niemand, der dorthin wandert, dieſelben
als ſeine zweite Heimath betrachtet. Jeder will in ſo
kurzer Zeit als möglich ein ſeinen Begriffen von Reich—
thum entſprechendes Capital zuſammenſcharren, um mit dem
Erworbenen nach den öſtlichen Unionsſtaaten oder nach Eu—
ropa zurückzukehren. Ich glaube nicht, daß unter hundert
Einwohnern Einer iſt, der länger als fünf, in der Regel
nur zwei oder drei Jahre in dieſen Ländern zu wohnen be—
abſichtigt. Bleibt er länger hier, ſo iſt es ihm ſicherlich
in Geldangelegenheiten nicht nach Wunſch gegangen. Sollte
das Glück ihm nur halbwegs hold ſein, ſo wird er ſein
„Eldorado“ ſchon weit früher verlaſſen. Wer nur nach
drei Jahren an einen früheren Wohnort in den Minen—
ländern zurückkehrt, der wird ſehr wenige alte Freunde dort
205
antreffen. So iſt es an faſt allen Plätzen an dieſer Küfte,
mit alleiniger Ausnahme von San Francisco und Portland
und einigen größeren Inlandſtädten.
Die erſten 15 engliſchen Meilen unſerer Stage-Fahrt
behielt das Land ſeinen einförmigen und öden Character.
Dann hatte das Tauſendmeilenreich des Salbei-Geſtrüpps
gottlob ein Ende. Schneegekrönte Berggipfel, rauſchende
Fichtenwälder, murmelnde Bäche und grüne Seitenthäler
begrüßten uns, und die Fernſichten auf eine wilde Gebirgs—
landſchaft waren mitunter herrlich. Wir fuhren am „Moore's
Bach“ (Moore’s creek) hin, der allen Minenwaſſern des
ausgedehnten und glorreichen „Boiſe-Baſſin“ (Boiſe-Thal—
keſſel) zum Abfluß dient. Rauſchend brauſte er links am
Wege zwiſchen zerriſſenen Felsabhängen hin. Die Land—
ſtraße wurde jetzt außerordentlich felſig und rauh und war
dabei ſo enge, daß die zahlreichen uns begegnenden mit acht
und zehn Joch Stieren beſpannten Frachtwagen uns oft
halbſtundenlang aufhielten. Einmal mußten wir Paſſagiere
die Stage-Kutſche mit Stangen und Hebeln an einem Ab—
hange ſtützen, um eine mit zehn Maulthieren beſpannte
Fuhre vorbeizulaſſen. Zuguterletzt begegneten wir an der
engſten und gefährlichſten Stelle an der Landſtraße der
Idaho⸗City-Stage und zehn rieſigen Frachtwagen auf ein—
mal. Eine Stunde lang ſetzte ich mich auf einen Felsblock
am Rande des mit gelblichen Wogen wild hinbrauſenden
Moore's Baches und betrachtete in aller Gemüthsruhe das
nicht unintereſſante Schauſpiel. Düſtere Fichtenwaldungen
hoben ſich auf den felſigen Bergabhängen nahe am Fahr—
wege hoch empor und blickten ernſt herab auf das wirre
Getümmel von Menſchen, Pferden, Maulthieren, Stieren
und Wagen, die ſich in ſcheinbar unauflöslichem Knäuel auf
dem engen Bergpfade zuſammenpreßten. Flüche, Halloh
und Peitſchengeknall machten die Thalſchlucht laut wieder—
206
hallen, und nicht viel fehlte daran, fo wäre es zwiſchen
den erboſten Fuhrleuten, von denen Keiner dem Andern
weichen wollte, zum Handgemenge gekommen. Eine Geſell—
ſchaft von Lemhi-Minern, die von Idaho kamen und Ruhe
ſtiften wollten, vermehrten nur den allgemeinen Aufruhr.
Endlich hatte ſich unſere Stage aus dem Wirrwar her—
ausgearbeitet, ich nahm meinen Sitz beim Kutſcher auf dem
Bocke wieder ein und fort ging's im geſtreckten Galopp, um
die verlorene Zeit wieder einzuholen. Mitunter kamen wir
an Ranches (Farmen und Viehhürden) vorbei, wo die
Bewohner die Waldungen etwas gelichtet und Gärten und
Kartoffelfelder angelegt hatten. Bergauf ging es und bergab;
bald waren die grasreichen Abhänge mit Millionen von
Sternblumen geſchmückt, bald mit herrlichen Fichtenwaldungen,
dann wieder traten nackte Felſen auf ihnen zu Tage. Hier
las ich an einer Wegſtation den poetiſchen Namen Minne—
haha (lachendes Waſſer), deren Inhaber das ſchöne Gedicht
„Hiawatha“ von dem amerikaniſchen Dichter Longfellow ge—
leſen haben mußte und ſeiner Wohnung den Namen der
Schönſten der indianiſchen Schönen gegeben hatte. Mit
Benennung der Berge waren die Bewohner dieſer Gegend
wenig glücklich geweſen. Die höchſte Bergkuppe an der
Landſtraße z. B. führte den intereſſanten Namen „Schweins—
rücken“ (hog's back).
Weiter fuhren wir an Seitenthälern vorbei, aus denen
rauſchende Gebirgsbäche hervorſtürzten, alle reich an Gold.
Endlich öffneten ſich die Berge und ein weiter von bewal—
deten Höhenzügen eingeſchloſſener Thalkeſſel lag vor uns,
ein Theil des berühmten Boiſe-Baſſin, aus deſſen Schluch—
ten, Thälern und Bächen bereits viele Millionen von blan—
kem Mammon gewonnnen wurden und deſſen jährliches Gold—
product noch immer 23 Millionen Dollars beträgt. Den
Moore's⸗Bach, der hier ſeicht und breit in ſandigem Bette
207
hinfloß, überſchritten wir auf einer primitiv gebauten Holz—
brücke. Luſtig ging es auf dem andern Ufer weiter. Waſſer—
leitungen zogen ſich zu beiden Seiten der Straße hin, bald
in Gräben eine über der andern an den Bergabhängen
herum-, bald auf hohen Holzblöcken in Rinnen hinlaufend.
Waſſerräder rauſchten in den Gräben und hoben die Fluthen,
welche bereits zum Auswaſchen goldhaltiger Erde gedient,
auf ein höheres Niveau, um dieſelbe Arbeit nochmals zu
verrichten. Wo ich hinſah, waren Miner fleißig bei der
Arbeit, denn dieſes war zum Goldwaſchen die günſtigſte
Jahreszeit, da das unentbehrliche Waſſer in Hülle und Fülle
vorhanden war. Hier ſtanden die Goldwäſcher mit Hacke
und Spaten in langen Gummiſtiefeln im rauſchenden Waſſer
oder an den Gräben und ſchaufelten Erde in die Goldwaſch—
rinnen, dort warfen andere mit dichtgezahnten Eiſengabeln
die Steine aus den Rinnen heraus. Schaaren von lang—
gezopften Chineſen karrten Erde aus dem Moore's-Bach,
deſſen Waſſer ſie mit Dämmen abgeleitet, um den gold—
haltigen Grund nach einander in Strichen bloßzulegen.
Hier waren wir bei den „Warmen Quellen“ (warm
springs), dem Pyrmont der Bewohner von Idaho City.
Eine ſchmucke Badeanſtalt mit Wannenbädern und großem
Schwimmbaſſin, ein Gaſthaus und freundliche Garten—
anlagen lagen am Fuße eines mit herrlichen Fichten
bewachſenen Berges, aus dem die heißen Mineralquellen
mit einem Wärmegrade von 102 Grad Fahrenheit her—
vorſprudeln. Omnibuſſe fahren von den Bädern den Tag
über bis ſpät in die Nacht nach der nur zwei engliſche
Meilen entfernten Goldſtadt. Breit im ſeichten Bette floß
rechter Hand der Moore's-Bach, voll von Schutthaufen
von Sandbänken.
Nach kurzem Aufenthalte bei den „warm springs““
jagten wir weiter, dem erſehnten Goldhafen entgegen.
208
Unter triefenden Waſſerleitungen fuhren wir hin; rechter
Hand war das ganze Ufer des Moore's-Baches buchſtäblich
unterſt zu oberſt gekehrt, — ein Chaos von tiefen Canälen
und Gräben, Steinhaufen, Bergen von Erde und Schutt,
hausgroßen Löchern, Waſſerleitungen, Goldwaſchrinnen ꝛc.
Wo man hinſah, waren die Miner bei der Arbeit. Die
goldhaltige Buena Viſta Bar war es, welche ſich uns
hier präſentirte. Rauſchende Waſſer brauſten quer über die
Landſtraße und nach allen Richtungen hin, in Gräben,
Rinnen und Waſſerleitungen, über und nebeneinander. Dann
kutſchirten wir durch eine lange Straße zwiſchen Holzge—
bäuden hin — Minerhütten, Trinkſalons, Kaufmannshäuſer
ꝛc. —, wie der Grund, worauf fie ſtand, „Buena Viſta
Bar“ genannt. Ein breites Querthal lag vor uns, das
des Elk-Bachs (elk creek), der ſich hier in den Moore's—
Bach ergießt. Jenſeits des Elk-Bachs lagen die Häuſer
von Idaho City. In ſchneller Fahrt ging's durch die hier
über eine viertel engliſche Meile breite Niederung des Elk—
Bachs, neben uns eine hohe triefende Waſſerleitung, —
und jetzt endlich hatte ich das Ziel meiner Reiſe erreicht,
die Goldſtadt Idaho City.
Durch eine unſaubere Gaſſe fuhren wir zunächſt; ſie
war voll von auf hohen Kahnpantoffeln umherſchlürfenden
Chineſen, wo die angemalten Geſichter der Dirnen des
himmliſchen Reichs uns aus niedrigen Fenſtern frech angaff—
ten. Bald hatten wir die lange Hauptſtraße von Idaho City
erreicht, die von Minern und Herumlungerern lebendig war.
Reiche Kaufläden, Trinkſalons und Geſchäftshäuſer aller
Art, meiſtens aus Holz gebaut und alle mit rieſigen bunten
Schildern und Anzeigetafeln geziert, drängten ſich an der—
ſelben, Muſik und fröhliches Zechgelage ſchallten aus den
offenen Thüren, Lärm und Getümmel aller Arten. Große
Höhlungen befanden ſich inmitten der Straße, in denen
209
rauſchende Waſſer hinfloſſen und wo tief unten Miner mit
Picke, Spaten und Eiſengabeln fleißig bei der Arbeit waren.
Schutthaufen, Berge von loſen Brettern lagen hier und
da mitten in der Straße; hoch aufpraſſelnde Feuer brann—
ten in derſelben, an welchen die zahlreichen Müßiggänger
ſich den Rücken wärmten. Langſam fuhren wir durch das
Getümmel; und hier hielten wir endlich vor dem Stage—
Bureau und waren von einer lärmenden Menſchenmenge
umgeben. Freudiges Händeſchütteln und frohe Grüße von
alten Bekannten, — das war mein Empfang in der wüſten
Goldſtadt des fernen Idaho nach einer fünfundzwanzig Tage
dauernden Stagefahrt von fünfzehnhundertundſechs Meilen,
ſeit wir bei Salina in Kanſas auf die große Steppe hin—
ausfuhren, und einer ununterbrochenen Reiſe von über fünf—
tauſend engliſchen Meilen, ſeit ich vor zweiundſiebzig Tagen
das nördliche Texas verlaſſen hatte.
14
Eine Fahrt
mit dem
„Hotelauge“ der Pacificbahn.
14 *
Euer
Als Gegenſtück zu meiner im vorigen Abſchnitte ge—
ſchilderten 1500 Meilen langen Stagefabrt, laſſe ich hier
die Beſchreibung einer Reiſe auf der Pacifiebahn folgen,
welche ich das erſte Mal im Jahre 1870 in einem ſoge—
nannten „Hotelzuge“ unternahm.
Im „Hotelzuge“ der Pacific-Eifenbahn.*
März 1870.
Wir ſpannten den eiſernen Rappen vor,
Auf Flügeln des Dampfes zu jagen
Zweitauſend Meilen vom goldenen Thor
Zum Miſſouri, im glänzenden Wagen;
Hoch unter den Wolken im donnernden Zug,
Durch endloſe Wüſten, im ſauſenden Flug, —
In vier gemeſſenen Tagen.
Ade, du herrlich grünende Flur,
Ade, ihr Frühlingsgefilde!
Dich, Goldland, ſchmückte die Mutter Natur
Im paradieſiſchen Bilde!
Der Himmel ſo tief, mit klarſtem Blau,
Die Lüfte, im Winter ſommerlau,
Wie im Tropenlande ſo milde.
* Adelpha, 2. Band, S. 224 ff.
214
Hinan die Sierra in donnernder Fahrt!
Nun ſchnaube, du muthiger Renner!
Ihr, die ihr in fremden Ländern war't,
Am Mont Cenis und am Brenner,
Ihr dachtet, dort gäb' es in Wolkenhöhn
Im Dampfzug Wunderdinge zu ſehn: —
Jetzt ſtaunet, wackere Männer!
Wir kreiſen hinan, wie der Adler fliegt,
An ſchwindelnden Bergeshängen;
Unſer Pfad über Brücken, thurmhoch, liegt,
Durch endloſe Felſenengen;
Wir ſpotten der mächt'gen Lawinen Gekrach, —
Unterm feſten Vierzigmeilen-Dach
Kann kein Schnee die Straße bedrängen.
Wir tafeln im fliegenden Speiſepalaſt,
Wie kein König jemals geträumet.
Es eilen die Meilen; die Gläſer gefaßt
Und den ſeltenen Wunſch nicht verſäumet;
Aus goldenem Füllhorn ſchöpfte uns dies
Das californiſche Paradies, —
„Ihm ein Hoch, da der Becher ſchäumet!“
In kreiſende Weite ſchweift der Blick
Beim Feſtmahl auf Dampfesflügeln.
Die Wälder, die Gipfel bleiben zurück
Und werden zu Büſchen und Hügeln.
Dort unten der Faden ſilberhell,
Es iſt ein Strom mit breiter Well',
Drin rieſige Wälder ſich ſpiegeln.
215
Und kommt die Nacht, ſo kehren wir ein
In koſige Schlafgemächer.
Was kümmert der Sturm uns! er brauſe darein
Und hagle an Scheiben und Dächer!
Wir hören auf donnernder Fahrt ihn kaum,
Auf der Windsbraut Flügeln; beim ſüßen Traum
Verhallt er ſchwächer und ſchwächer.
So ſauſen wir über Sierra's Höhn;
Dann durch traurige Wüſtenflächen
Und endloſe Wildniß. Wie iſt's ſchön,
Im Waggon von der Wüſte zu ſprechen,
Von den Emigranten der alten Zeit,
Von Indianern und blutigem Streit, —
Im „Hotelzug“, beim Schmauſen und Zechen!
Friſchauf, du Rappe und ſpute dich ſchnell!
Zu des Salzſees reichem Gelände,
Des landumſchloſſenen Meeres Well',
Zu Webers Schluchten dich wende.
Zweitauſend Meilen, — du kennſt den Weg
Durch Echo Calſion's Felſenſteg,
Und die thurmhoch rothen Wände!
Hinan der Felſengebirge Grat, —
Achttauſend Fuß über dem Meere!
Hinunter auf tiefbeſchneitem Pfad, —
Durch der Ebenen endloſe Leere!
Wir tragen ja des Jahrhunderts Geiſt,
Der auf Dampfesflügeln die Welt umkreiſt,
Mit uns vom Meere zum Meere!
+ *
216
Es war am Morgen des 16. März 1870, als ich bei
der Stadt Oakland, am nördlichen Ufer der großen San
Francisco-Bai, in den Hötel- und Expreßzug der Central—
und Union-Pacific-Eiſenbahn ſtieg, und ſieben Tage fpäter
befand ich mich au Bord eines ſchwimmenden Dampfpalaſtes
auf dem unteren Miſſiſſippi, mehr als dreitauſend Meilen
vom Goldenen Thore entfernt. Eine ſolche Reiſe, nach
Meilenzahl und Tagen betrachtet, hat ſelbſt im neunzehnten
Jahrhunderte, wo der Dampf die alten Begriffe von Zeit
und Entfernung vernichtet hat, etwas Märchenhaftes. Man—
cher möchte vermuthen, daß ich nach einer Eiſenbahnfahrt
von zweitauſenddreihundertſechsundachtzig Meilen, als ich
in St. Louis an Bord des ſtolzen Miſſiſſippidampfers trat,
halb gerädert war. Nichts von dem! ich hätte ſogar meine
Eiſenbahnreiſe auf beinahe viertauſend Meilen bis nach New—
Orleans ausdehnen können, ohne mich dabei im Mindeſten
zu ſtrapaziren.
Als ich in St. Louis nach einer ununterbrochenen Ei—
ſenbahnfahrt von fünfundeinhalb Tagen und fünf Nächten
anlangte, war ich ſo wenig ermüdet, als ob ich meine com—
fortable Wohnung in dem fernen San Francisco nie ver—
laſſen hätte. Jede Nacht habe ich auf meiner drittehalb—
tauſend Meilen langen Eiſenbahnreiſe in einem bequemen
Bette geſchlafen; während der eiſerne Rappe oft in Wolken—
höhe durch die endloſe Breite dieſes Continentes eilte, habe
ich in einem prachtvollen Hötelwaggon dejeunirt, dinirt und
ſoupirt, und habe unterwegs gerade ſo gelebt und mich
ebenſo prächtig amuſirt wie in einem Hötel und dabei die
Welt im Fluge betrachtet.
Auf dem „El Capitan“, einer der prächtigen Dampf—
fähren, welche die Verbindung zwiſchen San Francisco und
Oakland herſtellen, hatte ich um ſieben Uhr Morgens die
Hafenfront der großen Handelsmetropole Californiens ver—
217
laſſen. Das Wetter war herrlich, wie es unter dieſem
Breitengrade im März wohl kaum in einem andern Lande
der Welt ſo ſchön als in Californien zu finden iſt. Die
eleganten Salons des Dampfers waren gedrängt voll von
Paſſagieren, darunter Viele, welche mit der Pacifiebahn die
Reiſe über den Continent unternehmen wollten, — ein bun—
tes Gemiſch zahlreicher Nationalitäten kaukaſiſcher Abſtam—
mung. Ein halbes Dutzend Chineſen, in eleganter National—
tracht und augenſcheinlich der reichern Claſſe ihrer Lands—
leute angehörend, hatten auf einem der ſammetnen Canapees
Platz genommen und muſterten die im Saale auf und ab
promenirende Menge ſtumm und mit ernſter Miene, ohne
von irgend Jemandem der Anweſenden kaum eines Blickes
gewürdigt zu werden. John (Univerſalname aller Chineſen)
fühlte ſich ohne Zweifel in einer einſamen Lage und ſtellte
im Geiſte wahrſcheinlich Vergleiche zwiſchen den rohen Bar—
baren des Weſtens und ſeinen höflichen Landsleuten im
fernen Blumenreiche der Mitte an. Goldgräber und Minen—
arbeiter aus Californien und den angrenzenden Gold- und
Silberländern, behäbige californiſche Farmer mit Weib und
Kind, Kaufleute und Speculanten, und Andere, deren ſo—
ciale Stellung ſchwierig zu beſtimmen war, drängten ſich
in den Salons und auf den offenen Galerien des Dampfers.
Weiter hinaus eilten wir in die Bai. Linker Hand
zeigt ſich die befeſtigte Inſel Alcätraz, wo das Sternen—
banner hoch über den rothen Steinmauern flattert, — ein
ſchmuckes Plätzchen inmitten der weiten Fluthen. Mit den
caſemattirten Batterien von „Fort Point“ beherrſcht die
Inſel den Eingang in das „Goldene Thor“. In weitem
Bogen, an den Seiten anſehnlicher Hügel hingebaut und die
Kronen derſelben mit ihren Häuſern bedeckend, liegt hinter uns
die große Goldſtadt; links, in der Ferne „Hunter's Point“,
woſelbſt ſich eine bedeutende Docke zum Ausbeſſern von See—
n
ſchiffen befindet; rechter Hand der „Telegraphenhügel“, mit
dem jetzt vereinſamten Holzthurme auf ſeinem Gipfel, von
wo aus in alter Zeit, als der electromagnetiſche Telegraph
in Californien noch nicht eingeführt war, den Bewohnern
des jungen San Francisco Signale über die in das Goldene
Thor einlaufenden Panamä-Dampfer gegeben wurden, welche
nebſt der „Ueberland-Pony-Expreß“ dazumal die einzige
regelmäßige Verbindung mit der civiliſirten Welt bildeten.
Welch ein Wechſel der Dinge, — zwanzig Jahre zu—
rück und jetzt! — Wie gern reden die Californier noch im—
mer von alter Zeit (early times)! Wie manche Herzen da
klopften, wenn das Signal vom Telegraphenhügel flatterte
und die frohe Nachricht durch die Stadt von Mund zu
Mund flog: „Der Dampfer iſt in Sicht!“ und wer nur
konnte nach dem Hafen eilte, um den willkommenen Boten
zu begrüßen. Nachrichten von der Heimath brachte er, es
kamen vielleicht Freunde und Bekannte. Und wie wurden
die Glücklichen beneidet, die einen Brief erhaſcht hatten,
oder gar einen Freund am Arm vom Dampfer zurück in
die wilde Goldſtadt zogen, wie beneidet von Solchen, denen
der Dampfer nichts, gar nichts gebracht hatte! Immer noch
laufen die ſtolzen Dampfer von Panama regelmäßig wie
einſt in San Franciscos herrliche Bai, aber ohne bewill—
kommt zu werden, und namentlich ſeit der Vollendung der
Pacificbahn achtet faſt Niemand mehr auf fie; höchſtens ein
Kaufmann, der Waarengüter vom Oſten erwartet, horcht
auf, wenn ein Salutſchuß donnert. Der Telegraphenhügel
liegt da einſam und verlaſſen, ſein hohes Holzgerüſt ein
Denkmal der „alten Zeit“.“
* Auch dieſes Denkmal der alten Zeit iſt jetzt verſchwunden.
Ein gewaltiger Sturm ſtürzte das Holzgerüſt ſchon im nächſten Jahre
von ſeinem Fundamente herunter und iſt daſſelbe nicht wieder auf—
gebaut worden,
219
Der Rückblick auf San Francisco war nicht jo an—
ziehend, als Mancher, deſſen Phantaſie die Ferne gern mit
ſchönen Bildern bereichert, es ſich denken mag. Im Innern
der Stadt freilich ſind die Hauptſtraßen in modernem Stil
angelegt, und prächtige Gebäude, die jeder Hauptſtadt der
Welt zur Zierde gereichen würden, giebt es dort in Menge.
Aber die widrige Lage von San Francisco auf Sandbergen
und felſigen Hügeln, die theilweiſe planirt oder durchſtochen
wurden, um auch hier, allen Bodenverhältniſſen zum Trotze,
die in Amerika beliebten ſchnurgeraden Straßen anzulegen,
tritt, von der Bai aus geſehen, beſonders ins Auge. Halb
abgetragene Sandberge und nur zum Theil fortgeſprengte
Geſteinmaſſen, mit unanſehnlichen Holzhäuſern beſtanden,
bildeten das Amphitheater des Hintergrundes von dem
Panorama, deſſen Vorgrund die unſauberen und nichts we—
niger als elegant gebauten Hafenſtraßen waren. Aber der
Rahmen dieſes Gemäldes — die ſtolzen Segel- und Dampf—
ſchiffe, welche hier in langer Reihe das Ufer umkränzten,
dort vereinzelt im freien Gewäſſer ankerten, die weite Bai
und darüber der tiefblaue Himmel Californiens, war herrlich.
Bald lag die Stadt uns weit im Rücken und wir
näherten uns raſch der hohen „Ziegeninſel“ (Goat Island),
welche inmitten der Bai und halbwegs zwiſchen San Fran—
cisco und Oakland liegt. Die Breite der Bai beträgt an
dieſer Stelle etwa ſieben, die Entfernung von San Fran—
cisco nach Goat Island drei engliſche Meilen. Die geo—
graphiſche Lage von Goat Island iſt eine wichtige. Einer—
ſeits eignet ſich dieſelbe beſonders für die Anlage von Be—
feſtigungswerken zur Hafenvertheidigung; andererſeits hat
die Central-Pacific-Eiſenbahngeſellſchaft ihr Auge auf die
Inſel geworfen, als den paſſendſten weſtlichen Terminus
der großen Ueberlandbahn. San Francisco, welches auf
einer Halbinſel zwiſchen dem Meere und der großen Bai
220
liegt, ift in directer Linie vom Oſten her per Eiſenbahn auf
dem Feſtlande nicht zu erreichen. Durch den Bau einer in
dem hier nicht ſehr tiefen Gewäſſer der Bai leicht anzule—
genden Pfeilerbrücke von Oakland nach Goat Island würde
aber der Bahnhof bis dicht vor San Francisco gerückt,
und ſelbſt der Arm der Bai zwiſchen San Francisco und
Goat Island könnte durch eine Kettenbrücke überſpannt
werden, ſo daß die Bahnwagen direct bei San Francisco
anhielten. Von Oakland aus reicht eine Pfeilerbrücke zum
Anlanden der Dampfer bereits zwei engliſche Meilen weit
in die Bai hinaus, die leicht nach der Inſel verlängert
werden könnte. Gegenwärtig liegt ein Militärpoſten der
Vereinigten Staaten auf der Inſel.
Goat Island dicht zur Linken laſſend, durchfurchte
unſer ſtattlicher Dampfer ſchnell die breite Bai, und vor
uns breitete ſich am jenſeitigen Ufer die anſehnliche Stadt
Oakland aus, die ihren Namen nach der Menge von immer—
grünen Lebenseichen führt, welche in der Stadt und um die—
ſelbe zerſtreut ſtehen. Das friſche Grün jener Bäume bietet
dem Auge, das ſonſt ringsum nur nackte Hügel erblickt,
einen angenehmen Ruhepunct. Wegen ſeiner vor den rauhen
Seewinden geſchützten Lage iſt Oakland als Ziel für Ver—
gnügungspartien beliebt, und viele von den reicheren Be—
wohnern San Franciscos haben ſich Landſitze dort erbaut.
Oft verläßt man San Francisco, wo die Witterung nament—
lich im Sommer ſehr veränderlich iſt, in einem nichts
weniger als angenehmen Wetter, wenn feuchte Nebel die
Stadt einhüllen oder ein heftiger Wind dichte Staubwolken
durch die Straßen treibt, und tritt binnen einer halben
Stunde bei Oakland in ein wahres Frühlingsparadies.
Nach einer Fahrt von kaum dreiviertel Stunden lan—
dete der „El Capitan“ am Fuße der ſich weit in die Bai
hinauserſtreckenden Pfeilerbrücke, auf welcher bereits eine
221
lange Reihe prächtiger Waggons vom Expreßzuge der Pa—
cifie-Eifenbahn zur Abfahrt bereit hielt, der nach kurzem
Getümmel ſeine lebendige Fracht vom Dampfer an Bord
nahm und ſchnell dem Feſtlande entgegenrollte. Ich hatte
meinen Platz in dem „Pullman's Palaſt-Salon- und Schlaf—
waggon Winona“ genommen. Der „Winona“ (alle dieſe
Hötelmagen haben Namen) iſt der letzte in der ſtolzen Reihe
von Prachtwaggons, die unſeren Zug bilden. Außer dem
„Winona“ befinden ſich die Pullman's Palaſt-Salon- und
Schlafwaggons „Woodſtock“ und „Northweſtern“ im Zuge;
dann der Pullman's Palaſt-Speiſewaggon „Cosmopolitan“;
ferner, außer zwei gewöhnlichen Paſſagier- und einem Ge—
päck⸗, noch vier Silberpalaſt-Schlafwaggons der Central—
Pacific-Eiſenbahn. Hochklingende Namen für nichts als
Eiſenbahnwagen! wird Mancher denken. Einverſtanden!
Dennoch erregen dieſe die Bewunderung eines Jeden, der
ſie zum erſten Male beſteigt.
Herr Pullman iſt der Erfinder und Beſitzer jener
Prachtwaggons, welche ſeinen Namen führen, und dieſer
Beglücker der Reiſenden hat auch die Hötelzüge auf der
Pacificbahn eingeführt. Die Einrichtung der amerikaniſchen
Schlaf- und Reiſewaggons darf ich wohl als bekannt vor—
ausſetzen; die Pullman'ſchen ſind aber das Nonplusultra
von Eleganz und Bequemlichkeit und verhalten ſich zu den
anderen amerikaniſchen Schlafwaggons wie ungefähr die
erſte Kajüte eines Oceandampfers zu deſſen zweiter Kajüte.
Mit der Pacificbahn hat Herr Pullman einen Con—
tract abgeſchloſſen, welcher ihm das Recht giebt, ſeine Pa—
laſtwaggons jedem ihrer Züge einzuhängen. Seine Conduc—
teure, Köche und Aufwärter muß er ſelbſt beſolden. Seine
Einnahme beſteht in dem Schlafgeld für Betten, achtzehn
Dollars von San Francisco nach Omaha von jedem Paſſa—
gier für ein doppeltes Lager, wozu das Geld für Mahl—
222
zeiten und Getränke im Speiſewaggon kommt, ein Dollar
für Frühſtück und Zwiſchenmahlzeiten und anderthalb Dollar
für Mittagseſſen, und Getränke extra. Die Eiſenbahngeſell—
ſchaft berechnet jedem Paſſagier auf den Hötelzügen zehn
Dollars extra von San Francisco nach Omaha und einen
Cent pro engliſche Meile mehr als den gewöhnlichen Fahr—
ſatz ſür kürzere Diſtancen, welches jenen das Recht giebt
im Speiſewaggon (natürlich für Bezahlung) zu tafeln. Wer
die Extragebühr nicht zahlt, der hat keinen Zutritt in den
Speiſe⸗ und die anderen Pullman's-Waggons, und muß in
einem gewöhnlichen Wagen reiſen und auf den Stationen
oder aus ſeinem Brodkorb eſſen. Für die von jedem Paſſa—
gier der Hötelzüge gezahlten zehn Dollars oder einen Cent
pro Meile mehr hält die Pacific-Eiſenbahngeſellſchaft die
Pullman's⸗Waggons in gutem Stand. Alle Intereſſenten
ſtehen ſich bei dieſem Contracte vortrefflich. Herr Pullman
bezieht hundertfünfzig bis hundertfünfundſiebzig Dollars pro
Nacht für jeden Schlafwaggon, dazu das Geld für Mahl—
zeiten und Getränke; der Paciſiebahn werden dieſe pracht—
vollen Wagen umſonſt geſtellt, und die Paſſagiere haben
für eine geringe Zulage zu dem gewöhnlichen Anſatz der
Reiſekoſten unterwegs die Bequemlichkeiten eines Hötels
erſter Claſſe.“
Die Namen der Reiſenden, welche die Ueberlandzüge
benutzen, werden bei der Abfahrt, von San Francisco ſo—
wohl als von Omaha, nach Oſt und Weſt über den Con—
tinent telegraphirt; ſowohl in San Francisco als in New—
* Die Centralpacifiebahn hat dieſen Contract gekündigt und es
laufen jetzt keine Pullman's Palaſt- und Speiſewaggons mehr zwi—
ſchen Ogden und San Francisco. Die kaum minder prächtigen
Silberpalaſt⸗Waggons haben hier deren Stelle eingenommen, ohne
jedoch mit Speiſewaggons verbunden zu ſein.
223
Vork und anderen Großſtädten der Union lieſt man fie in
den täglichen Zeitungen.
Die Herſtellung der Pullman's-Waggons koſtet im
Durchſchnitt zweiundzwanzigtauſendfünfhundert Dollars für
jeden Wagen; die der Silberpalaſt-Schlafwaggons der Cen—
tral⸗Pacific⸗Eiſenbahn zwanzigtauſend Dollars. Der feinſte
von den Pullman's-Waggons „Orleans“ hat zweiunddreißig—
tauſend Dollars gekoſtet. In einigen derſelben befinden ſich
Melodeons und Pianos, damit die muſikaliſchen amerikani—
ſchen Ladies unterwegs darauf klimpern können. Gottlob
war kein Clavier auf unſerem Zuge, und blieben mir dieſe
Ohrenſchmäuſe erſpart. Unſer Fortepianowaggon war näm—
lich auf der letzten Reiſe mit vier anderen Wagen in einen
Graben geſtürzt. Im Sommer werden den Hötelzügen
offene ſogenannte „Obſervationswaggons“ angehängt, welche
den Paſſagieren eine freie Umſchau bieten.
Die Palaſt-Salon- und Schlafwaggons laufen auf
zwölf Rädern; die Speiſewaggons laufen jeder auf ſechs—
zehn Rädern. Die Palaſt-Speiſewaggons werden immer
eleganter hergeſtellt und jeder neue übertrifft an Pracht die
alten. Der demnächſt zu erbauende ſoll, wie der deutſche
Oberkoch im Cosmopolitan-Waggon mir mittheilte, etwas
Pompöſes werden. Früher war auch eine Bar (Trinkſtand)
in den Speiſewaggons; dieſelbe wurde aber neuerdings wie—
der entfernt, weil die Bremſer, Zugführer, Conducteure
und andere Bahnbeamte ſie zu ſehr patroniſirten und man
mit Recht befürchtete, die Liſte der „Zufälle“ im Verhält—
niß zu der Zahl der genoſſenen Liqueure zu vermehren.
Zur Zeit meiner Reiſe wurden Wein, Bier und ſonſtige
Getränke dort den Paſſagieren nur flaſchenweiſe verkauft.
Die Pullman's-Waggons werden im Winter durch
Röhren geheizt, welche unter den Sitzen hinlaufen und die
Temperatur ununterbrochen gleichmäßig warm halten. Die
224
Röhren find mit Salzwaſſer gefüllt und ftehen mit einem
mit Kohlen geheizten Ofen in Verbindung, der das Salz—
waſſer gleichmäßig erhitzt, — eine außerordentlich praktiſche
Vorrichtung. Dieſe Waggons ſind im Winter bei eiſiger
Kälte im Hochgebirge ſo angenehm warm wie ein fürſtliches
Boudoir. Beim Betrachten derſelben muß man über den
praktiſchen Sinn der Amerikaner erſtaunen. Jede Stelle, jeder
Winkel iſt benutzt worden. Die Wandſpiegel z. B. kann man
in die Höhe ſchieben; dahinter befinden ſich in den Schlaf—
waggons Nachtlampen, im Speiſewaggon Weingläſer. In
den mit ſolidem Wallnußholz überaus prächtig getäfelten
Wagen kann man ordentlich auf Entdeckungsreiſen ausgehen.
Zwiſchen jedem mit Sammet gepolſterten Doppelſitze bringt
ein ſtets dienſteifriger Aufwärter auf Verlangen niedliche
Klapptiſche an, woran man ſchreiben, leſen, ſpielen, eſſen
kann. An jedem Ende des Waggons befinden ſich ſchmucke
Toilettenzimmer. Ein Vergnügen iſt es, des Abends die
Kammerdiener beim Aufmachen der Betten zu beobachten,
die hinter dem getaͤfelten Geſims und hinter den Sitzen
verborgen ſind, und gleichſam aus Nichts hervorquellen und
den prächtigen Salonwaggon ſchnell in koſige Schlafgemächer
umwandeln. Die Hälfte jedes derſelben iſt in allerliebſte
Cabinete zum Gebrauch für Familien abgetheilt. Alle dieſe
Waggons haben feine Fußteppiche. Daß auch in jedem für
Cloſets geſorgt worden iſt, verſteht ſich bei den amerikani—
ſchen Eiſenbahnen von ſelbſt.
In einer Viertelſtunde, während welcher Zeit die
Fluthen der Bai unter uns plätſcherten und der Dampf—
zug eine ſchreckliche Flucht unter den bei Tauſenden dort
umherſchwimmenden wilden Enten verurſachte, war das Feſt—
land erreicht, und wir fuhren mitten durch die idylliſchen
Straßen von Oakland. Schmucke Wohnungen, umgeben
von Gärten und grünen Eichen, erfreuten das Auge, und
225
die gleichſam in einem Eichenhaine liegende, zerſtreut ge—
baute Stadt hatte ein außerordentlich behagliches Ausſehen.
Einen ſchönern Platz für Villen, und in einem wahrhaft
italieniſchen Klima, hätten ſich die Reichen der großen
Goldſtadt nicht wünſchen können. Als ich unter einem
blauen Himmel im ſommerlichen Wetter dieſe reizende Stadt
durcheilte, war es ſchwer zu glauben, daß heute Anfang
März ſei.
Nahe zur Rechten lag das anmuthige Alameda, wo
unſere deutſchen Mitbürger San Franciscos einen ſtattlichen
Schützenpark inmitten einer herrlichen Eichenwaldung er—
richtet haben, die Büchſen luſtig knallen laſſen, und ſich
mit Weib und Kind nach vaterländiſcher Sitte im Freien
mit Tanz, Muſik und edlem Gerſtenſaft zu erfreuen pflegen.
Soeben lief eine der großen Dampffähren von San Fran—
cisco, voll von Vergnügungszüglern, mit klingendem Spiele
und fliegenden Fahnen ein in die Bucht von Alameda. Der
eiſerne Rappe mit dem langen Zuge prächtiger Waggons
jagte jetzt durch ein reiches Farmland. Wieder ein ſchmuckes
Städtchen, San Leandro, das wir mit ſchrillem Dampf—
ſignal begrüßen.
Weiter eilen wir, dahin zwiſchen fruchtbaren Lände—
reien, an der Wegſeite zahlreiche Obſtgärten und ſchmucke
Farmhäuſer, und der tiefblaue californiſche Himmel über
uns. Ab und zu paſſiren wir eine ſtarke Schaar von
Chineſenarbeitern, welche beim Ausbeſſern des Bahnbettes
beſchäftigt ſind. „Wir waren es, die jenem Eiſenroſſe den
Pfad über den Continent gebahnt haben!“ — ſolche Ge—
danken mochten ſich den gelben Männern in der fremdarti—
gen Tracht wohl aufdrängen, als ſie, auf ihre Schaufeln
gelehnt, die menſchenbeſchwerten, in wilder Eile vorbeiſauſen—
den Waggons betrachteten. Jetzt geht es vorbei bei San
Lorenzo, dem letzten der freundlichen Städtchen in der Nähe
15
226
der großen Bai. Allmählich verlaſſen wir dieſe und eilen,
nachdem wir, dreißig engliſche Meilen von San Francisco,
die ſich dort abzweigende San Joſe (San Ho-ſé)-Bahn
paſſirt haben, der großen San Joaquin (San Oaquihn)-
Ebene entgegen.
Die ſchwarzen Diener im Salonwaggon „Winona“
melden unterthänigſt, daß das Frühſtück im Palaſt-Speiſe—
waggon „Cosmopolitan“ ſervirt wird. Im Fahren gehen
wir durch die nächſten Salonwaggons, welche durch mit
Kautſchukteppichen bedeckte Brücken verbunden ſind, ſo daß
die Paſſage von dem einen der dahinfliegenden Waggons
in den andern über den offenen Bremſerplatz ohne beſondere
Gefahr bewerkſtelligt werden kann, und erreichen bald den
Speiſewaggon. Die vordere Hälfte deſſelben iſt im Re—
ſtaurationsſtil, mit Tiſchen zu beiden Seiten, an denen je
vier Perſonen Platz nehmen können, eingerichtet; die andere
Hälfte iſt Küche und Vorrathskammer, woſelbſt unſer ge—
ehrter Landsmann Wilhelm Eberle als General-Oberkoch
und Küchenmeiſter das unumſchränkte Commando führt.
Ein rieſiger Kochofen, die angehäuften Vorräthe für den
„inneren Mann“, der geſchäftsmäßige Eifer der Ober- und
Unterköche und die Aromadüfte, welchen den Raum erfüllen,
geben die Verſicherung, daß wir auf unſerer Zweitauſend—
Meilen-Reiſe nicht darben werden.
In Geſellſchaft von mehreren Deutſchen — denn Lands—
leute finden ſich ſchnell auf einer ſolchen Reiſe zuſammen —
nehme ich Platz an einem der ſauber gedeckten Tiſche, die
auch mit friſchen Blumen geſchmückt ſind. Hier giebt es
köſtliche Auswahl von Gerichten, wie ſie ein Reiſender, der
mit gutem Appetit geſegnet iſt, ſich nur wünſchen mag; alle
Sorten von Fleiſch und Geflügel, Auſtern und Paſteten ꝛc.,
californiſches Gemüſe, z. B. Blumenkohl, Spargel, junge
Kartoffeln, Radieschen, Erbſen ꝛc, ich bitte zu erinnern, am
227
16. März! Die Speifen find nach guter deutſcher Küche
zubereitet, der californiſche Wein iſt vortrefflich, der Kaffee,
die friſchen californiſchen Wallnüſſe und Orangen, das feine
Backwerk ſchmecken ausgezeichnet. Die Aufwärter ſind auch
Deutſche, ſo daß wir uns ganz heimiſch fühlen. Nur die
eleganten Speiſekarten ſehen ausländiſch aus. Der ameri—
kaniſche Pullman's-Oberconducteur hat dieſelben mit engliſch—
franzöſiſchen Hieroglyphen ausgefüllt, die zu entziffern ſelbſt
einem deutſchen Doctor Mühe koſten möchte. Die eine
Hälfte jeder Speiſekarte iſt mit Annoncen bedruckt, da der
praktiſche Amerikaner gern das Nützliche mit dem Ange—
nehmen verbindet.
Ein ſeltſames Mahl! Während deſſelben blicke ich ab
und zu aus dem mir nächſten Fenſter des dahinfliegenden
Speiſegemachs. Eben haben wir einen gebirgigen Land—
ſtrich verlaſſen und es eröffnet ſich das reiche Livermore—
thal. Breite Aecker, wo Farmer fleißig beim Pflügen be—
ſchäftigt ſind, allerliebſte idylliſche Wohnungen, halb zwiſchen
Bäumen verſteckt, reizende Ausſichten ins Hügelland kommen
und gehen, kreiſen vorüber in immer wechſelndem Bilde.
Jetzt erweitert ſich das Panorama und der Blick ſchweift
hinaus in die bläuliche Ferne; es iſt zur Linken die San
Joaquin-Ebene, jenſeits derſelben die blinkenden Schnee—
zinnen der Sierra. Etwas unangenehmes iſt bei der Mahl—
zeit das Schaukeln des Speiſewaggons. Damen ſoll mit—
unter der Appetit davon vergehen. Bei Curven nament—
lich ſchaukelt der Waggon heftig, und ich muß mich vor—
ſehen, den Wein nicht zu verſchütten. Am confortabelſten
ißt man, wo die Bahn auf einer längeren Strecke gerade—
aus läuft. Der Aufwärter empfahl mir für das nächſte
Frühſtück die San Joaquin-Ebene.
Wir haben das ſchmucke Städtchen Pleaſanton paſſirt
und das reiche Livermorethal durchkreuzt, und die lange
15 *
228
Waggonreihe biegt ſoeben ein in den Livermorepaß, eine
Reihe von verſchlungenen Schluchten und engen Thälern,
welche das Livermorethal von der großen Ebene des San
Joaquin trennen, als ich den Palaſt-Speiſewaggon wieder
verlaſſe, um in den meinigen zurückzukehren.
Eben bin ich glücklich über den letzten Bremſerplatz
wieder in meinen Waggon gelangt und habe dort Platz ge—
nommen, als der Zug in einem langen Tunnel, dem Liver—
moretunnel, verſchwindet. Während wir anderthalb Minuten
lang in der Finſterniß dahindonnern, kann ich nicht umhin
froh zu ſein, daß der Tunnel mich nicht auf einem Bremſer—
platze überraſchte.
Bald darauf treten wir ein in die weite San Joaquin—
Ebene (Don Joaquin Plains), die ſeitwärts in bläulicher
Ferne verläuft und vor uns am Horizonte von der gezack—
ten Schneelinie der Sierra Nevada begrenzt iſt, links glänzt
hier und da in der Ebene einer der vielen Arme des San
Joaquinfluſſes. Die Ebene hat eine Ausdehnung von zwei—
hundertundfünfzig engliſchen Meilen von Nord nach Süd
und von ſechszig bis achtzig engliſchen Meilen vom Sierra—
Gebirge nach Weſten, ein außerordentlich fruchtbarer Land—
ſtrich, einer der productivſten des geſegneten Californien,
deſſen Bodenertrag aber leider nicht ſelten durch Dürre im
Sommer beeinträchtigt wird. Die am San Joaquinfluſſe
liegenden Landtheile find Ueberſchwemmungen ausgeſetzt
und Baumwuchs iſt überall ſpärlich.
Ein Zeltlager, nahe an der Bahn, lebendig von Chi—
neſen, bringt eine Ueberraſchung. Freilich ſind die Aſiaten
an der Pacificbahn nichts Neues; aber hier ſehen wir ſie
nicht wie ſonſt bei der Arbeit, ſondern im gemüthlichen
häuslichen Beieinander.
Wir überſchreiten den San Joaquinfluß auf einer
Holzbrücke und wenden uns nun mit verändertem Cours
229
direct nach Norden und erreichen, neunzig engliſche Meilen
von San Francisco, die Stadt Stockton, eine der blühend—
ſten in Californien. Der Ort zählt gegen 1200 Ein—
wohner und vergrößert ſich raſch. Von hier aus werden
die meiſten Producte der großen San Joaquin-Ebene ver—
ſchifft, theils zu Waſſer auf dem Joaquin, theils auf der
Pacificbahn.
Weiter die Fahrt. Die blinkenden Zinnen der Sierra
haben ſich nach rechts gewendet; linker Hand ragt die
Doppelkuppe des Monte Diablo in den blauen Aether.
Die Bahn durchſchneidet die Ebene in ſchnurgerader Linie;
nirgends iſt jene eingefriedigt, und Rinder und Pferde
laufen frei herüber und hinüber. Mancher von den Paſſa—
gieren ſieht ängſtlich aus dem Waggonfenſter, wenn die
Locomotive mitunter kurz und ſchnell aufeinander folgende
Pfiffe ausſtößt, um einen dummen Ochſen, eine Anzahl
Pferde oder ein paar Hämmel vom Geleiſe zu verjagen;
aber ſchon rennen dieſe vom Bahnbett herunter und quer—
feldein, und Keiner denkt mehr daran, daß ein ſtörriſcher
Bulle ſoeben ſo und ſo viele Menſchenleben hätte vernichten
und den Inſaſſen der Palaſtwaggons „ Elend
hätte bereiten können.
Wir treten ein in die Niederungen am Sacramento—
fluſſe, die nördliche Fortſetzung der San Joaquin-Ebene,
welche ganz denſelben Character zeigen wie dieſe. Durch
ſeine häufigen verheerenden Ueberſchwemmungen, welche
in früheren Zeiten auch die Stadt Sacramento mehrere
Male betroffen haben, ſteht dieſer Fluß in Californien in
ſchlechtem Ruf, obgleich die von ihm durchſtrömten Niede—
rungen außerordentlich fruchtbar ſind.
Auf einem Ausbiegegeleiſe brauſt der Expreßzug vom
Oſten vorbei. Glückauf, Du eiſerner Renner mit Deiner
lebendigen Fracht! Möge daſſelbe gute Glück, das Dich auf
230
Tauſenden von Meilen vom Geſtade der Atlanta, durch
Thäler und Fluren, zahllos, bis nach Californien begleitet
hat, Dir treu bleiben bis an das nicht mehr ferne große
Stille Meer!
Brighton, die letzte Station vor der Stadt Sacramento,
iſt paſſirt. Vor uns ragt die Kuppel des prachtvoll ge—
bauten californiſchen Staatshauſes auf, ein Gebäude, deſſen
Herſtellung zwei Millionen Dollars gefoftet hat. Und hier
ſind wir in Sacramento, der Hauptſtadt von Californien,
und rollen mit Schellengeklingel der Locomotive, damit ſich
Jedermann vor dem Dampfzuge in Acht nehme, entlang
am unteren Stadttheil, nahe dem Ufer des breiten Sacra—
men tofluſſes. Viele Dampfer liegen auf dem Strome,
und am Ufer ziehen ſich die Bahngebäude der Central—
Pacific- Eifenbahn hin. Rechts laufen die Hauptſtraßen
der Stadt, beſetzt mit Baumreihen, rechtwinklig zum Fluß
herunter. Wir fahren vorbei bei der M. Straße, der
L. Straße, der K. Straße (die Hauptſtraßen Sacramentos
ſind nach Buchſtaben benannt, die Querſtraßen nach Zahlen:
1., 2., 3., 4., ꝛc.) und rollen am Fuße der J. Straße,
der Hauptgeſchäftsſtraße von Sacramento, in den Bahnhof
der Central-Pacific-Eiſenbahn. Einhundertundachtunddreißig
engliſche Meilen haben wir in gerade ſechs Stunden
zurückgelegt.
Nach kurzem Aufenthalte verlaſſen wir den Bahnhof
in Sacramento und eilen den bewaldeten Höhen der Sierra
Nevada entgegen, während im „Cosmopolitan“ ein ſplen—
dides Diner ſervirt wird. In einer Höhe von 2000 Fuß
über dem Meere nehmen wir doppelten Vorſpann und das
Schnauben der gewaltigen Eiſenroſſe zeigt an, daß die
Bodenhebung ſchnell zunimmt. Jenſeits der Station Colfax
(2448 Fuß über dem Meere und 54 engliſche Meilen öſt—
lich von Sacramento) eröffnet ſich das Hochgebirge in ſeiner
231
ganzen Pracht. Das romantiſche Cap Horn liegt vor ung,
der Stolz Californiens. Wir donnern über eine fünfund—
ſiebenzig Fuß hohe lange Treſtlebrücke, und mit zwei Loco—
motiven als Vorſpann brauſt die lange Reihe der prächtigen
Waggons im großen Bogen herum an der walbbedeckten
Höhe. Ueber uns ragen die Felſen ſchroff empor; zur
Rechten, zweitauſendfünfhundert Fuß unter uns, ſchlängelt
ſich der Americanfluß durch das Waldthal. Eine ſchwarze
Linie kreuzt ſeinen Silberfaden; es iſt die breite Brücke
einer chauſſirten Landſtraße. Der Bergabhang iſt ſo ſteil,
daß es einen dünkt, man könne vom Wagen direct in den
Fluß hinunterſpringen. Das Bahnbett iſt aus der Berg—
wand herausgeſchnitten, und die lange Wagenreihe fliegt
gleichſam am waldigen Abhang herum — ein unvergeßliches
Bild für Jeden, der es geſchaut hat! Jenſeits Cap Horn
liegen zwei Farmen, wohl dreitauſend Fuß in der Tiefe,
ſo zu ſagen direct unter dem oben an den Felſen entlang
eilenden Bahnzug. Seht! eine Frau, die vom Waggon—
fenſter aus betrachtet zwerghaft klein ausſieht, tritt dort
unten vor die Thüre ihrer Wohnung, und winkt herauf
mit weißflatterndem Tuche. Weiterhin in der Tiefe liegt
ein altes Minenlager, mit hydrauliſchen Leitungen, Gräben
und einer Anzahl von Minerhütten.
Wunderbar großartig iſt die Scenerie, welche uns auf
der Eiſenbahnfahrt über die Sierra Nevada begleitet. Ganz
abgeſehen von der Kühnheit des Eiſenbahnbaues wird das
Auge fortwährend durch die herrlichſten Panoramas entzückt.
Bald ſind es idylliſche grüne Thäler, die in duftiger Ferne
träumeriſch am Fuße der Gebirge daliegen, dann bewaldete
Bergkuppen, umkränzt von ſchneegekrönten Gipfeln, die ſich
hoch in den blauen Aether emporthürmen; jetzt verfolgt das
Auge wild herabbrauſende Waldbäche, die thalwärts ſtürzen,
dann einen Fluß, der ſich, einem Silberbande gleich, Tau—
232
ſende von Fuß tief unten hinſchlängelt, während ein Meer
von grünen Tannenwipfeln zwiſchen der Bahn und dem
tiefen Thalgrund den ganzen Abhang in breiter, welliger
Fläche bedecken.
Wieder und wieder jagten die Eiſenroſſe über haus—
hohe, leicht aus Holz aufgebaute Treſtlebrücken, und unwill—
kührlich ſchließt der Reiſende die Augen, wenn die Waggons
ſchaukelnd über dem Abgrund ſchweben. Wo oft die Bahn
hart am Rande eines Abhanges hinläuft und das Auge
vom Waggonfenſter direct in die ſchwindelnde Tiefe blickt,
ſehen unten die höchſten Fichten wie ganz kleine Tannen—
reiſer aus; käme der Zug hier aus dem Geleiſe, ſo würde
er einen Salto mortale von vollen 2000 Fuß machen, ehe
er dort unten anlangte. Aber es iſt keine Gefahr vor—
handen; leicht gegen den Berg geneigt, rollen die Waggons
ſicher auf dem Eiſenpfade dahin an den ſchwindelnden Ab—
hängen.
Bei der Station Gold Run, 3248 Fuß über dem
Meere, liegt ein berühmtes altes Minenlager, und das
wüſte Durcheinander von Schutthaufen, umgewühltem
Boden, tiefen Schluchten, Gräben, Goldwaſchrinnen und
ſchiefen Minerhütten zeigt ſich hier in nächſter Nähe. Es
iſt, als ob ein böſer Geiſt dort ſeine Fußſtapfen in Gottes
ſchöner Natur zurückgelaſſen hätte! Eine Waſſerleitung,
auf hohen Holzblöcken ruhend, läuft etwa 75 Fuß über
dem Boden, quer über die Bahn. Drei engliſche Meilen
weiter und 67 Meilen von Sacramento paſſirt der Zug
die Station Dutſch Flat, 3425 Fuß über dem Meere,
wo ſich ein noch bedeutendes Minenlager befindet. Einen
intereſſanten Anblick gewährt das in der wilden Umgebung
im waldigen Thalkeſſel eingeniſtete Städtchen gleichen
Namens, bei dem wir in nicht weiter Entfernung im
Fluge vorübereilen. Die in ſeiner Nähe liegenden von
233
waldigen Höhen umkränzten riefigen Schutthaufen und
unterſt zu oberſt gewühlten, mit entwurzelten Stämmen
beſtreuten gelben Sandberge ſehen aus, als ob ſie das
Schlachtfeld von Titanen geweſen wären. Zahlreiche
Dampfſägemühlen ſchnarren und lärmen ſeitwärts im Walde,
und friſchgeſchnittene Balken, Dielen und Bretter liegen
bergeweis in den Lichtungen. |
Allmählich breiten ſich die Schatten der Nacht über
das Hochgebirge. Höher und höher hinan die Sierra ar—
beiten die ſchnaubenden Locomotiven; oft donnert der Zug
über thurmhohe Treſtlebrücken und durch rieſige Durchſtiche.
Wir erreichen Alta dreitauſendſechshundertfünfundzwanzig
Fuß, Blue Canon viertauſendſiebenhundert Fuß, Emigrant
Gap fünftauſenddreihundert Fuß; eins immer prächtiger,
immer wildromantiſcher als das andere; bei einbrechender
Nacht zeigten ſich die erſten Schneefelder, wir donnern hin
durch rieſige Tunnels und unter ſcheinbar endloſen Schnee—
dächern. Vierzig Meilen weit erſtrecken ſich dieſelben, um
den Zügen Schutz gegen die Lawinen zu geben; das längſte
Schneedach, ein geſchloſſenes Gebäude, iſt fünfzehn engliſche
Meilen lang, — wie eine rieſige Anaconda windet es ſich
um das Gebirge. Mitunter bildet ein Schneedach nur die
Fortſetzung eines ſteilen Abhanges; der Schnee rollt darüber
weg in das tiefe Thal und ungefährdet eilt der Dampfzug
darunter hin.
Ich habe mein Nachtlager aufgeſucht; die Lampen im
Schlafwaggon flimmern matt, die Reiſegefährten ſchlummern.
Eine Nachtfahrt im Dampfzug auf der Sierra Nevada! ich
konnte die Augen nicht ſchließen. Den Schieber des Fen—
ſters an meiner warmen Lagerſtätte öffnete ich und blickte
hinaus in die winterliche, geſpenſtiſch vorbeihuſchende Gegend.
Wie ein ſilberner Schleier lag das Licht des Vollmondes
auf dem Gebirge. Gigantiſche Fichten huſchten vorbei und
234
ſtreckten mir ihre ſchneeigen Arme entgegen; die Finſterniß
der Tunnels und der Schneedächer wechſelte ab mit mond—
beleuchteten Schluchten, Schneefeldern, Thälern, Felſen,
Schneegipfeln und rieſigen Tannenwäldern. Wir waren
ſiebentauſend Fuß über dem Meere! Es raſſelt dicht über
mir auf dem Dache des Waggons; der Hagel eines Schnee—
ſturmes, der über das Gebirge hinſauſt und dem es doch
nicht gelingt, den Schlaf von meinem bequemen Lager weg—
zuſcheuchen.
Eine der ſchönſten Partien in der Sierra Nevada, die
am herrlichen Donnerſee, welchen der Bahnzug an einer
waldigen Höhe unter Schneedächern umbrauſt, paſſirten wir
leider im Dunkel der Nacht. Den weſtwärts über die
Sierra fahrenden Reiſenden giebt der Anblick jenes wild—
romantiſchen Bergſee's in früher Morgenſtunde eine faſt
märchenhafte Ueberraſchung, wenn das Auge, wo ſich kurze
Oeffnungen zwiſchen den Schneedächern befinden, das Bild
jenes im Schooße prächtig bewaldeter Berge tief unter ihm
ſchlummernden Gewäſſers im Fluge erhaſcht. Der See
führt ſeinen Namen nach einer deutſchen Familie Donner,
welche zur Zeit des erſten californiſchen Goldfiebers mit
einer Ochſenfuhr die lange Ueberlandreiſe unternahm und
an ſeinem Geſtade, von einem wüthenden Schneeſturm über—
raſcht elendiglich umkam.
Die goldene Morgenſonne ſchien durch das Fenſter
und weckte mich auf zu früher Stunde. Welch ein Wechſel
des Landſchaftsgemäldes! Weit hinter uns lagen die Schnee—
zinnen der Sierra, um uns eine traurige Wüſte mit ſpär—
lichem, verkrüppeltem Salbeigeſtrüpp. Ich erhebe mich von
meinem Lager und kleide mich an, finde die Stiefel geputzt
am Bett ſtehen und mache Toilette im Toilettezimmer; der
Schlafwaggon verwandelt ſich wieder in einen Salonwaggon;
im „Cosmopolitan“ wird geſpeiſt wie geſtern.
235
Die Gegend, welche wir an dieſem Tage durcheilen,
bietet wenig Intereſſantes; es iſt eine traurige Salbei- und
Alcaliwüſte, welche der ſich im Sande verlaufende Humboldt—
fluß träge durchſtrömt. Die Städtchen Reno, Winnemucca,
Palliſades und Elko, die Depots der reichen Silberminen—
diſtricte von Waſhoe, Owyhee, Eureka und White Pine,
ſind die einzigen Ortſchaften von Bedeutung, welche wir
auf dieſer Strecke paſſiren. Dieſelben ſind aber nichts
weniger als maleriſch gebaut und beſtehen zum größten Theil
nur aus Reihen von nahe an der Bahn angelegten Holz—
häuſern und Barakken, in denen ſich eine Bevölkerung von
Minern, Schenkwirthen, Kaufleuten, Spielern und ſchlechten
Subjecten aller Art herumtreibt, welche für ihre Exiſtenz
auf den Verkehr mit den reichen Minendiſtricten angewieſen
ſind, denen jene Ortſchaften ihre Entſtehung zu verdanken
haben. Der Staat Nevada, welchen wir heute durchfliegen,
führt mit Recht den Namen der „Silberſtaat“. Für die Cen—
tral⸗Pacifiebahn find die zahlreichen Silberminen, welche in
ſeinen öden Bergen zerſtreut liegen, von vorwiegender Be—
deutung, da der Hauptverkehr und die größten Waarentrans—
porte über ihren Schienenweg von und uach jenen Dorados
gehen. Betrug doch der Ertrag der Silberminen an der
weltberühmten Comſtock-Ader allein ſeit dem Jahre 1861
voll 200 Millionen Dollars an edlen Metallen! alle Ma—
ſchinerien, alles Bauholz ꝛc. zum Bearbeiten der Gruben,
die ganzen Bedürfniſſe der Minenſtädte und das edle Me—
tall ſelbſt, müſſen über die Centralpacificbahn transportirt
werden.
Für den Fremden bilden während der Fahrt durch den
berühmten Silberſtaat nebſt den allerorten ſich zeigenden
bezopften Chineſen, die zu dem Stamme der Piutes ge—
hörenden Indianer, ein intereſſantes Studium. Dieſe edlen
Rothhäute ſind eher Zigeunern als cooperſchen Helden—
236
geſtalten ähnlich. Faſt ohne Ausnahme find fie in Lumpen
gehüllt und dabei bunt bemalt und mit Hahnenfedern
geputzt, die Weiber tragen ihre auf Bretter geſchnallten
Kindlein (Papuhs) wie ein Bündel Stroh auf dem Rücken,
und Alle glotzen den Reiſenden mit nichtsſagenden Blicken
an, oder betteln wie das ärgſte Vagabondenvolk. Mitunter
ſteigt eine Geſellſchaft dieſer Kinder der Wildniß, welche
auf allen Eiſenbahnen hier zu Lande das Privilegium der
freien Fahrt genießen, in einen Waggon, um von dieſer
nach jener Station zu fahren, was manchesmal zu einer
intereſſanten Unterhaltung in poſſirlicher Zeichenſprache, un—
termiſcht mit barbariſchem Engliſch und indianiſchen Gurgel—
lauten, Anlaß giebt.
Unſere Reiſegeſellſchaft machte ſchnell Bekanntſchaft un—
tereinander und war bald eine große Familie. Bunt genug
war dieſelbe. Da waren unter Anderen ein Midſhipman
der Vereinigten-Staaten-Flotte, der vor Kurzem von den
Fidſchi⸗Inſeln in San Francisco angelangt war und eine
fliegende Viſite nach New-Jerſey machte; eine junge ame—
rikaniſche Dame, die ganz allein zu Beſuch nach Newyork
reiſte; ein Amerikaner, der in Heidelberg ſtudirt hatte und
ſehr gut Deutſch ſprach; ein deutſcher Kornhändler und
Millionär aus San Francisco, ſieben Fuß hoch, eine von
den Damen beſonders geſchätzte Perſönlichkeit; eine Familie
von Michigan mit zwei allerliebſten Kindern, die im Waggon
ſpielten und ſich herumjagten, daß Jeder ſeine Freude daran
hatte. Hier und da wurden die kleinen Klapptiſche zwiſchen
den ſammtgepolſterten Doppelſitzen in Requiſition gebracht,
und wir ſpielten Karten, Dame ꝛc. Zwiſchen den Mahl—
zeiten verſammelten ſich die meiſten Herren im „Cosmo—
politan“-Waggon, rauchten und ſpielten und laſen und dis—
cutirten die Gegend.
237
Die nächſte Nachtfahrt brachte uns nach dem geſchicht—
lichen Promontory am Nordende des großen Salzſees,
achthundertundzwanzig engliſche Meilen von San Fran—
cisco. Nichts bezeichnet dort die Stelle, wo am 10. Mai
des vorigen Jahres die letzte Schwelle der verbundenen
Weltbahn niedergelegt wurde, wo die Locomotiven „Jupiter“
von der Central und „Nr. 116“ von der Union Pacific
ſich zum erſten Mal begrüßten, wo der weltberühmte gol—
dene Nagel eingeſchlagen wurde, und von wo der Telegraph
die Kunde der großen That gleichzeitig nach allen Enden
der civiliſirten Welt brachte. In Amerika iſt das Ereigniß
ſo gut wie vergeſſen; Niemand auf unſerem Zuge ſprach
davon.
Die Stadt Promontory iſt bald nach dem goldenen
Nagel und der Lorbeerholzſchwelle, die nach San Francisco
wanderten, vom Erdboden ſo gut wie verſchwunden. Sechs—
unddreißig engliſche Meilen weiter entſtand an der Eiſen—
bahn eine blühende Stadt Corinne, die einzige „Heiden—
Stadt“ im Mormonenlande. Um die Frühſtücksſtunde er—
reichten wir die anſehnliche Mormonenſtadt Ogden, wo ſich
die Union Pacific an die Central Pacific anſchließt. Eine
Zweigbahn läuft von Ogden nach Great Salt Lake City,
der Reſidenz des Mormonenpaſcha Brigham Young.
Die Gegend am großen Salzſee mit den ſchmucken
Mormonenniederlaſſungen, welche mich vor drei Jahren
im Monat Mai, auf der Reiſe von Texas nach Idaho, ſo
entzückt hatte, ſah jetzt ganz winterlich aus. Ich konnte
nicht umhin, an jene Poſtfahrt über jene Steppe und die
Felſengebirge recht oft zurückzudenken, als ich jetzt in dem
glänzenden Hötelzuge dahinſauſte. Zweiundvierzig Tage
dauerte damals meine Reiſe von St. Louis nach Idaho City
und wochenlang ſaß ich während derſelben in der Poſt—
kutſche. Gefechte in der Kutſche mit Indianern, meilen—
238
und meilenweit durch Schneefelder zu waten, Umwerfen der
Poſtkutſchen, Schneeſchaufeln, durchnäßt, halberfroren, halb—
verhungert, auf Rumpelwagen und im Schlitten über die
Felſengebirge, zu Fuß über die ſchneebedeckten Waſatch—
gebirge, — das war damals mein wenig beneidenswerthes
Loos. Im Hötelzuge ging die Reiſe diesmal etwas ange—
nehmer von Statten! Damals war ich während Wochen
von der civiliſirten Welt ganz abgeſchnitten; jetzt las ich
jeden Morgen die neueſten Telegramme von Oſtindien bis
nach San Francisco, heute in dieſer, morgen in jener Zei—
tung, und in Städten gedruckt, die vor drei Jahren noch
gar nicht exiſtirten.
Unter der Aegide der Union Pacific ſetzten wir unſere
Reiſe von Ogden fort. Beim Teufelsthore traten wir mit
doppeltem Vorſpanne des Dampfes ein in die Canon, die
natürliche Straße von Oſten in das Utah-Baſſin. Quer
durch die Waſatchgebirge führen dieſe Felſenſtraßen, Weber
Safon und Echo Kafion, — die Via Mala der neuen Welt.
Die thurmhohen Felſenwände hallten wieder vom Brauſen
des Dampfzuges, als wir uns vierzig Meilen weit durch
dieſe hochromantiſchen Gebirgspäſſe hinwanden. Unange—
nehm überraſchten mich nur die an die Felſen gemalten
Annoncen. In Echo Caſion paradirten an den ſchönſten
rothen Felsmauern die Worte: „Drake's Plantation
Bitters!“ die ein Yankee mit ellenlangen weißen Buch—
ſtaben dorthin gemalt hatte. Es kam mir wie eine Ent—
heiliguug vor. — „ 1000 Mile Tree!“ (der Tauſend—
Meilen-Baum) lieſt man an einem einſamen Baume in
Weber Caljon. Nur tauſend Meilen nach Omaha? Ueber—
morgen ſind wir dort!
Am nächſten Tage dejeunirten wir ſiebentauſend Fuß
über dem Meere, auf der ganz eingeſchneiten großen Laramie—
Ebene, Bergforellen, Antilopenſteaks, californiſche Spargel,
239
Blumenkohl ꝛc. In der winterlichen Dede unſerer letzten
Tagereiſen nahm der Comfort des Hötelzuges jo zu ſagen
einen poetiſchen Charakter an. Was kümmerten uns Schnee
und Eis und Hagel und Sturm, ob Hochgebirge auf un—
ſerem Pfade, ob endloſe Wüſten, ob wir fünftauſend oder
ſechstauſend oder achttauſend Fuß hoch über dem Meere
dahinſauſten! Wir trugen ja die Civiliſation des neun—
zehnten Jahrhunderts mit uns durch die Wolken, — auf
Flügeln des Dampfes!
Laramie City, 7123 Fuß über dem Meere, war ſo
zu ſagen der erſte civiliſirte Ort, den wir ſahen, ſeit wir
den großen Salzſee und die Mormonenniederlaſſungen ver—
laſſen hatten. Während der letzten zwei Tagereiſen und
namentlich in den Schwarzen Hügeln, wo die Union Pacific
bei Sherman, 8242 Fuß über dem Meere, den höchſten
Punkt erſteigt, waren die Schneefänge mir etwas ganz
Neues. Dieſelben ſind ſchräge, über Kreuz aufgeſtellte
Latteneinfriedigungen, die meiſtens parallel mit der Bahn
laufen; mitunter ſieht man mehrere in Zwiſchenräumen von
etwa hundert Schritt hinter einander angebracht. Maſſen
von Schnee lagen noch an den Schneefängen, die ſonſt
ſicherlich auf die Bahn geweht wären. Faſt alle Schnee—
fänge ſind an der ſüdlichen Seite der Bahn, weil die meiſten
Schneeſtürme aus jener Himmelsrichtung von den Felſen—
gebirgen herwehen.
Von Sherman, wo ein heftiger Schneeſturm wüthete,
ging's wieder bergab, aber ſo allmählig, daß man es gar
nicht gewahr wird. Unſere letzte Nacht im Hötelzuge ver—
brachten wir auf den Ebenen; die letzte Nacht brachte uns
in das Thal des Platte, in eine angebaute Gegend und nach
Omaha. Die Ebenen waren eine endloſe, ganz mit Schnee
bedeckte Fläche. Nur die Stationsgebäude an der Eiſenbahn
unterbrachen mitunter die menſchenleere Oede. Um ein Uhr
240
und vierzig Minuten nach San Francisco Zeit langten wir
in Omaha an, wo es bereits nach drei Uhr war. Pünktlich,
auf die Minute der vorgeſchriebenen Zeit, hatte der Hötel-
zug die Fahrt von neunzehnhundertzwölf engliſchen Meilen
zurückgelegt.
Bilder aus dem Goldland,
16
1. In den Goldminen von Idaho.
Der Mai war in's Land gekommen und bereits ſechs—
zehn Sonnen alt, als ich das erſte Mal in meinem Leben
meinen Wanderſtab in die Mauern der Goldſtadt Idaho
City (ſprich: Eidaho) ſetzte. Kalt war es, wie im rauhen
Herbſte, und noch lagerte der Schnee zwiſchen den grünen
Fichten auf den nahen Bergen. Große Feuer, um welche
frierende Goldjäger ſich drängten, hatte man angezündet in—
mitten der Straße, durch welche ich in einer vierſpännigen
Poſtkutſche meinen Einzug in jene Hauptminenſtadt des nord—
amerikaniſchen Territoriums Idaho gehalten hatte, meine
ſelbſtgewählte Heimath für den Sommer des Jahres 1867.
Ein erhabener Gedanke, ſo auf goldenem Boden wohnen zu
dürfen! Tag aus, Tag ein ſollte ich das Rauſchen leben—
diger Waſſer hören, welche ſich aus luftigen Aquäducten
von den nahen Gebirgen zu Thal ſtürzten, durch die tief—
ausgehöhlten Straßen brauſten und, wohin das Auge ſah,
auf verſchiedenartigem Wege dem Menſchen dienſtbar ge—
macht wurden, um das blanke Gold der Mutter Erde zu
entreißen. Sogar unter meinem Schlafzimmer waren emſige
Goldgräber bei Tage und bei Nacht beſchäftigt, denn die
ganze Stadt ſtand auf goldhaltigem Boden, und keine Grund—
rechte der Hauseigenthümer hinderten den Miner, nach
Herzensluſt in den Straßen und ſogar unter den Häuſern
nach dem Mammon zu ſuchen.
he
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Nachdem ich alten Freunden die Hand geſchüttelt und
brennende Neuigkeiten ausgetauſcht, mich von dem aſch—
grauen Alcaliſtaube meiner (im erſten Abſchnitt geſchilderten)
fünfzehnhundert Meilen-Stagereiſe ein wenig gereinigt und
mit Speiſe und Trank erquickt hatte, begab ich mich in
die Stadt, um noch am Tage meiner Ankunft meine neue
Heimath etwas genauer in Augenſchein zu nehmen.
Auf und ab wanderte ich die Hauptſtraße des Ortes,
kletterte hier über Schutthaufen, überſprang dort weite Oeff—
nungen im Wege, durch welche brauſende Waſſer ſich Bahn
brachen, ging unter einer luftigen auf Pfählen ruhenden
Waſſerleitung hin, die in leckigen Holzrinnen haushoch über
mir lag, und ſchaute neugierig dem fremdartigen Treiben
um mich her zu. In der Straße befanden ſich lange und
tiefe Höhlungen, dem ausgewaſchenen Bette eines Berg—
ſtromes ähnlich, in denen Schutt und loſe Steinmaſſen auf—
gehäuft lagen. Eifrig war man dort in der Tiefe mit
Goldwaſchen beſchäftigt. Die obere bis zu fünfzehn Fuß
mächtige Erde wurde fortgeſchwemmt, um den Grundfelſen
zu erreichen, auf dem ſich unter dem Kies das meiſte körnige
Gold anzuſammeln pflegt. Wilde Waſſer brauſten in langen
hölzernen Rinnen am Grunde der Schlucht; Arbeiter in
Gummiſtiefeln ſtanden im Waſſer und hackten und ſchaufelten
im Boden, der ſich, wenn unterhöhlt, mitunter maſſenweiſe
von den Wänden der Schlucht lostrennte; mit Eiſengabeln
holten Jene die loſen Steine aus dem Waſſer, warfen Erde
und Kies in die Rinnen und rührten das ſchnell durch die—
ſelben hinfließende Waſſer auf, um die hineingeſchaufelte
Erde aufzulöſen und fortzuſchwemmen, damit das ſchwere
Gold zu Boden ſinke, während Hunderte von Müſſiggängern
am Ufer der Kluft ſtanden, ſich am großen Holzfeuer wärmten
und der Arbeit zuſahen.
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Hier wuſch Einer goldhaltige Erde in einem „Rocker“
aus, einem hölzernen wiegenähnlichen Kaſten mit einem Sieb
darin, worunter ein Wollentuch geſpannt war, auf dem ſich
das Gold feſtſetzte, während die hineingeſchüttete Erde vom
Waſſer fortgeſpült wurde und die Steine im Siebe liegen
blieben. Mit einer Hand ſchaukelte der Wiegenmann den
Kaſten hin und her, während er mit der anderen in einer
Kelle Waſſer ſchöpfte und auf die im Siebe liegende Erde
goß. Dieſe einförmige Arbeit lieferte einen Gewinn von fünf—
zehn bis fünfundzwanzig Cents in Goldſtaub aus etwa einem
Eimer voll Erde. Ein Anderer kratzte Erde von der
Straße in eine flache Eiſenblechſchale und wuſch ſie nachher
darin aus, um das darin enthaltene Gold durch Hinaus—
ſchlemmen der Erde zu gewinnen; ein diminutives Quantum
von dem edlen Metall, das ich kaum im Bodenſatz der
Schale zu erkennen vermochte. Doch gewinnen dieſe Leute
täglich für drei bis fünf Dollars Goldſtaub. Was an Gold
in der Erde. enthalten war, die fie auswuſchen, war weiter
nichts als ſolches, das mit dem Kehricht aus den Häuſern
herausgefegt oder aus den Goldſtaubbörſen der Bewohner
von Idaho City verloren gegangen war.
Läden, kleine und große, den verſchiedenartigſten In—
halt zur Schau tragend und ihre Fronten alle mit farben—
reichen Anzeigetafeln geſchmückt, lagen in langer Reihe zu
beiden Seiten der Straße, hier und da mit Schlachterbuden,
Reſtaurationen und Vergnügungslocalen abwechſelnd. Schenk—
ſtuben, mit Hazardſpieltiſchen darin, an denen es luſtig zu—
ging, waren beſonders zahlreich. Die Thüren der faſt
ſämmtlich aus Holz erbauten Häuſer ſtanden allenthalben
weit offen; Niemand genirte ſich, ſein Privatleben aller Welt
Blicken zu zeigen, und Jeder that offenbar, was ihm be—
liebte, ohne ſich um die Meinung Anderer zu bekümmern.
Im Chineſenquartier traten chineſiſche Aushängeſchilder mit
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ihren ſonderbaren Schriftzeichen an die Stelle der eleganten
Anzeigetafeln in der Hauptſtraße des Ortes. Langzöpfige
Johns (wie jeder Chineſe hier zu Lande genannt wird)
begegneten mir dort in großer Menge, die bald in heimi—
ſcher Blouſentracht und bauſchigen Beinkleidern auf hohen
Filzſchuhen einherſchlürften, bald in Kleidung und Haltung
mehr oder weniger amerikaniſirt waren.
Doch es iſt Zeit zur Rückkehr, denn meine Freunde
werden mich mit Ungeduld erwarten und mir zürnen, wenn
ich ungebührlich lange am erſten Tage des Wiederſehens
ausbleibe. Hier bin ich wohlbehalten wieder bei unſerem
„Store“ angelangt. Mein langjähriger Aſſocié hat die
Nachbarn als Gäſte geladen, zur Feier meiner glücklichen
Ankunft vom fernen Texasland in den goldenen Bergen von
Idaho. Im ächten Junggeſellenſtil lebt er hier und hat
bald ein ſuperbes Abendbrot, in Geſtalt von rohem Schinken,
ſauren Gurken und hartgeſottenen Eiern, im hinteren Raume
unſeres Ladens aufgetiſcht. Ein luſtiges Feuer kniſtert im
Kochofen, von wo aromatiſche Kaffeedüfte ſich verbreiten.
Neugierige Bekannte haben ſich zahlreich eingefunden, die
Alle auf einmal ſprechen und fragen und erzählen. Auf
einer leeren Kleiderkiſte wird der Kaffee ſervirt. Die ge—
ladenen Gäſte, Goldgräber und Kaufleute, die meiſten von
ihnen in Hemdsärmeln und mit geladenen Revolvern im
Gürtel, eſſen aus der Hand im Stehen, den Schinken auf
der Gabel, die heißen Eier verwünſchend, und die Gurken
mühſam mit den Taſchenmeſſern aus der tiefen Flaſche heraus—
holend. Der Kaffee verliert leider an Geſchmack durch die
in Idaho übliche Weiſe, ihn aus Blechnäpfen oder Bier—
gläſern zu trinken, worin Jeder den Zucker mit einem Eß—
löffel umrührt, der mit Silber nur die Farbe gemein hat.
Doch muß ich geſtehen, daß mir dies mein erſtes Abend—
brot im Goldlande vortrefflich mundete.
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Ein windiger Morgen begrüßte mich in Idaho City
am Tage nach meiner Ankunft in jener berühmten Goldſtadt
des fernen Weſtens. Wirbelnd flogen die Staubwolken
durch die Straßen, vermiſcht mit Hobelſpänen, Stroh, Pa—
pierſchnitzeln und loſem Kehricht aller Art, der durch die
Stadt zerſtreut lag. Manchem von den Müſſiggängern,
welche in Reihen am Rande einer gewaltigen Oeffnung
ſtanden, wodurch die Paſſage der Hauptſtraße dicht vor un—
ſerer Hausthür für Menſchen und Fuhrwerk unſicher ge—
macht wurde, flog bei einem Windſtoß der Hut vom Kopfe;
fiel der Hut, wie mitunter vorkam, hinab in eine der Gold—
waſchrinnen, ſo ſchleuderten die Minenarbeiter ihn, triefend
von ſchlammigem Waſſer, unter dem Gelächter der Zu—
ſchauer und zum Aerger ſeines Eigenthümers, mit Eiſen—
gabeln auf die Steinhaufen.
Bald verließ ich die windige Straße, wo ich den Gold—
wäſchern bei der Arbeit zugeſehen, und begab mich in den dicht
hinter unſerem Store gelegenen ſogenannten „feuerfeſten
Keller“. Dort lag ich der Beſchäftigung ob, mit Hülfe
einiger Geſchäftsfreunde Waarenballen zum Transport auf
Packthieren nach den etwa 400 engliſche Meilen von Idaho
City entfernt liegenden neuentdeckten Lemhi-Goldminen zu—
recht zu machen. Das Verpacken und die Beförderung von
Waaren nach ſolchen entlegenen Goldregionen, zum Bedarfe
dort wohnender Kröſuſſe in spe, durch die Kaufleute der
älteren Minenplätze, iſt mit nicht geringen Schwierigkeiten
verknüpft; ſowohl Erfahrung als Sorgfalt wird erfordert,
um die Waaren ſo zu verpacken, daß ſie bei dem oft
Monate lang dauernden Transport durch die Wildniß wohl—
behalten an ihren Beſtimmungsort gelangen. Jeder Packen
muß feſt zuſammengenäht, geſchnürt und gewogen werden.
Die Laſtthiere, Mauleſel und Pferde, auf denen die Waaren
über die Gebirge, wo Landſtraßen nicht exiſtiren, trans-
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portirt werden follen, beladet man jedes mit zwei Ballen
oder mit zwei Kiſten aus leichtem Holz, die je von 150 bis
200 Pfund wiegen und über den Packſattel an die Seiten
des Thiers in möglichſt genauem Gleichgewicht gehängt wer—
den. Alles überflüſſige Gewicht muß ſorgfältig vermieden
werden, da der Frachtſatz nach ſolchen fernen Goldregionen
enorm iſt. Waaren von Idaho City nach Lemhi zu ſchicken
koſtete z. B. fünfzehn Cent in Gold pro Pfund.
Ich ſtellte eben mit meinen Geſchäftsfreunden Berech—
nungen an, wie viele tauſend Dollars wir wohl mit unſerer
Waarenſendung nach Lemhi verdienen könnten, als plötzlich
nahe auf der Straße der Schreckruf: Feuer! — Feuer!
— erſcholl und alle unſere goldenen Zukunftspläne in Nichts
zerſtieben ließ. Wenn ſchon in alten Städten mit ſoliden
Steinbauten und gut eingerichteten Löſchanſtalten eine Feuers—
brunſt die Bewohner in Angſt und Schrecken verſetzt, ſo
iſt die Verwirrung, welche ein ſolches Ereigniß in einem
Minenplatze hervorruft, geradezu eine ungeheure zu nennen.
Man denke ſich eine Stadt, die faſt ganz aus Holz—
häuſern beſteht. Die aus Fichtenholz erbauten gedrängt da—
ſtehenden Wohnungen ſind mit Schindeln gedeckt, die Straßen
eng und die Verkehrswege mehr oder weniger durch Bretter—
haufen, tiefe Löcher, Berge von Schutt und Steinen ꝛe.
verſperrt. In den zahlreichen Trink-, Tanz- und Spiel-
localen ſind die Stubendecken meiſtens aus dünnem Baum—
wollenzeug gemacht, worunter eine Menge von Kohlenöl—
lampen hängen, damit die Nacht den Vergnügungsſuchenden
zum hellen Tage werde; Tapeten bekleiden die dünnen ausge—
trockneten Bretterwände; Ofenröhre ſtecken in Holzverſchlägen
oder durch die Schindeldächer; die Kaufläden ſind voll von
leicht brennbaren Stoffen; Feuerſpritzen giebt es nicht.
Man ſchien jegliche Löſchauſtalten zum Bekämpfen des feind—
lichen Elements bei der Bauart der Stadt für nutzlos zu
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halten und verließ ſich ganz und gar auf eine gütige Vor—
ſehung, — eine zweifelhafte Hülfe, da die meiſten Minen—
ſtädte am Stillen Meere während ihres kurzen Beſtehens
mehrere Male total niederbrannten. Auch Idaho City hatte
bereits einmal (am 18. Mai 1865) ein ſolches Schickſal
ereilt, ohne daß die Bewohner der Goldſtadt deshalb ihre
Häuſer minder feuergefährlich wieder aufgebaut hätten.
Die Kaufleute von Idaho City verließen ſich auf ihre
feuerfeſt ſein ſollenden Kellergewölbe, in welche ſie ihre Waaren
bei einem ausbrechenden Brande in Sicherheit zu bringen
hofften. Diejenigen unter ihnen, welche keine ſolche Zu—
fluchtsſtätten hatten, befanden ſich bei einer in jeder Minute
möglichen Feuersbrunſt ohne alle Mittel, ihr Hab und Gut
den ſich mit unglaublicher Schnelligkeit ausbreitenden Flam—
men zu entreißen. Die „feuerfeſten Keller“ waren weiter
nichts als hölzerne über dem Boden erbaute und mit Erde
überſchüttete Gewölbe, die durch Eiſenblechthüren geſchloſſen
wurden. Das Beiwort „feuerfeſt“ war in dieſem Falle
etwas problematiſch, denn mancher Kaufmann ſah ſeine
während eines Brandes in ein ſolches Gewölbe geretteten
Waaren dort nachträglich in Aſche verwandelt. Wir waren,
wie alle Kaufleute in jeder Minenſtadt, in unſerem Geſchäfts—
locale jederzeit gegen eine Feuersbrunſt gerüſtet. Die fer—
tigen Beinlleider lagen, immer an zwei Dutzend Paar mit
einem Lederriemen zuſammengeſchnallt, in langer Reihe auf
dem Ladentiſch. Verkaufte man ein Paar davon, ſo wur—
den die andern, die in demſelben Haufen gelegen, ſofort
wieder zuſammengeſchnallt. Die Röcke waren glatt aufein—
ander gelegt, ſo daß ſchnell ein Dutzend oder mehr auf
einmal gefaßt werden konnten; Stiefel lagen in Kiſten, an—
dere Kleidungsſtücke zuſammengebunden und in Packeten, —
mit einem Wort, Alles war auf ein möglichſt ſchnelles Aus—
räumen, das zu jeder Minute nöthig ſein konnte, berechnet.
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Guten Freunden hat ſchon der weiſe Salomon ein
Loblied geſungen; bei einer Feuersbrunſt in einer Minen—
ſtadt ſind dieſelben nicht mit Gold aufzuwiegen. Ein Paar
Goldgräber, brave Leute und handfeſte Männer, die das
Herz auf dem rechten Flecke hatten, die als Hausfreunde
galten, beim Kochen halfen und Nachts im Laden ſchliefen,
waren, ehe noch der erſte Schreckruf „Feuer!“ verhallt
war, ſo zu ſagen im Handumdrehen da und ſtellten ſich
uns zur Verfügung. Die Hülfe kam keinen Augenblick zu
ſpät. In der Straße, welche fich im Nu mit Menſchen
gefüllt hatte, herrſchte ein dämoniſcher Wirrwarr. Das Feuer
war im zweiten Nebenhauſe von dem unſerigen ausgebrochen
und breitete ſich bei dem an dieſem Unglückstage beſonders
heftig wehenden Winde mit raſender Schnelligkeit aus.
Zunächſt verſchloſſen und verrammelten wir die Haus—
thüren, um unberufenen Helfern, nöthigenfalls mit dem
Revolver in der Hand, den Eintritt zu wehren, und dann
ging's mit aller Macht an das Ausräumen des bis an die
baumwollene Stubendecke mit Waaren aller Art gefüllten
Ladens. Fünf Rettungsengel zählten wir. Im Keller nahm
Einer die Sachen in Empfang und ſtapelte ſie auf, wäh—
rend wir anderen vier ſchleppten, als ob jeder Arm voll
den Werth einer Million hätte. Ohne Worte zu verlieren,
ergriff Jeder, was ihm von Sachen eben in die Hand kam,
indeß von draußen ſchon die hellen Flammen durch die
Glasthüren des Ladens leuchteten und laut praſſelten, und
der Wind heulte und Bretterwände krachend einſtürzten, und
Jedermann in Idaho City auf einmal zu ſchreien, zu fluchen
und Befehle zu ertheilen ſchien, denen natürlich Niemand
gehorchte.
Raſch verfloſſen die Minuten. Ein flüchtiger Blick
nach Außen zeigte uns ſchon die rothen Flammen über das
nächſte Schindeldach herüberzüngeln. Um nicht bei längerem
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Verzug Gefahr zu laufen, von unſerem Keller, ehe wir den—
ſelben zu ſchließen vermöchten, durch das Feuer vertrieben
zu werden, verließen wir jetzt den Laden. Nachdem wir
die Eiſenblechthür des Kellers geſchloſſen hatten, ſchaufelten
wir noch ſchnell Erde vor den Eingang, während unſere
muthigen Freunde, die Goldgräber, die letzten Bretter von
der Verkleidung des Gewölbes herunterriſſen; und dann
nahmen wir ſämmtlich vor den Flammen Reißaus.
In einem Bogen eilte ich nach der Hauptſtraße des
Ortes, um den Fortſchritt des Feuers zu beobachten, als
die Flammenwirbel bereits über das Dach unſerer Woh—
nung ſchlugen und die Rückkehr dorthin unmöglich machten.
In der Stadt hatte alle Ordnung aufgehört. Nur
einige ſchwache Verſuche wurden gemacht, das feindliche Ele—
ment zu bekämpfen, die ſich aber als gänzlich nutzlos her—
ausſtellten. Bald dachte Jeder nur noch daran, von ſeinem
Eigenthum zu retten, was er in der Geſchwindigkeit mit
den Händen ergreifen konnte, und ließ das Feuer brennen,
wie es wollte. Chineſen, mit fliegenden Zöpfen, flüchteten
über die Schutthaufen, ihre ſämmtlichen Habſeligkeiten, eine
ſonderbare Raritätenſammlung, mit ſich ſchleppend; brave
Goldgräber halfen Fremden, deren Habſeligkeiten zu retten,
mit einer Selbſtaufopferung, die über alles Lob erhaben
war. Binnen zwanzig Minuten ſtanden an zweihundert
Gebäude in Flammen. Die vom Winde angefachte Gluth
war ſo intenſiv, daß ſich ihr Keiner auf weniger als fünf—
zig Schritt nähern konnte. Die hölzernen Rinnen in den
Höhlungen der Straßen brannten lichterloh, und ziſchend floß
das Waſſer durch dieſelben hin; über den Häuſern flammte
die große quer über die Stadt laufende hölzerne Waſſer—
leitung hoch empor in die von dem ſchwarzen Qualm des
brennenden Fichtenholzes erfüllte Luft, während aus den zer—
platzten Bretterwänden der Rinne das Waſſer kaskaden—
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ähnlich in die unten praſſelnden Flammen hinabſtürzte; ver—
einzelt daſtehende Steingebäude, die als feuerfeſt gegolten,
fingen mit ihrem reichen Waareninhalte Feuer wie Zunder
und brachen zuſammen wie Kartenhäuſer; überall floſſen
die entfeſſelten Waſſer wie brauſende Mühlbäche durch und
über die Straßen.
In etwas über einer halben Stunde hatten die Flam—
men das Werk der Zerſtörung vollendet. Vierhundert—
vierzig Gebäude, worunter zweihundertſechsunddreißig Ge—
ſchäftshäuſer lagen in Aſche: über eine Million Dollars
an Eigenthum war binnen jener kurzen Spanne Zeit buch⸗
ſtäblich vernichtet worden.
Noch brannten die letzten Häuſer am Ufer des Moore's
Creek, dem einen Ende der Goldſtadt, als wir bereits über die
heiße Aſche zwiſchen qualmenden Schutthaufen und brennen—
den Brettern einen Weg nach unſerem Kellergewölbe ſuch—
ten, um Gewißheit zu erlangen, ob daſſelbe in dem Flam—
menſturme auch unverſehrt geblieben ſei. Wie ein ſchwarzer
Berg lag es zwiſchen Rauch, Aſche und Trümmern vor
uns, als Luftlöchern von ſeinen drei Eiſenblech-Schorn—
ſteinen überragt, aus denen jedoch zu unſerer Freude kein
ominöſes Gewölk emporſtieg. Treu hatte es uns ſeinen
für uns ſo koſtbaren Inhalt bewahrt. Als wir die Eiſen—
blechthüre öffneten, ſprang uns unſere prächtige Neufund—
länderin „Madame Lulu“, welche ihre dort im Neſt lie—
genden Jungen bei der Flucht vor dem Feuer nicht hatte
verlaſſen wollen, freudig bellend entgegen und wurde mit
allſeitigem Jubel begrüßt. Das kluge Thier ſchien ſich ſeiner
edlen Handlung wohl bewußt zu ſein und hob ſtolz den
Kopf höher, als wir über ſeine aufopfernde Mutterliebe uns
unterhielten.
Die Brandſtätte gewährte einen ſeltſamen Anblick.
Viele Menſchen eilten und ſprangen auf der heißen Aſche
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zwiſchen brennenden Trümmern und qualmenden Schutt—
haufen hin und her, um die Sicherheit der Kellergewölbe,
von denen ſich leider manche nicht als feuerfeſt bewieſen
hatten, zu unterſuchen. Bereits eine halbe Stunde nach
dem Brande wurden Bretter zum Bau neuer Wohnungen
herbeigefahren, und die Sonne war noch nicht untergegan—
gen, als man bereits in Buden und leicht gezimmerten
Holzhütten Getränke und Eßwaaren zwiſchen den rauchenden
Trümmern verkaufte. Bei einbrechender Nacht loderten
große Feuer, um welche laut redende und ſingende Männer
lagerten, zwiſchen den Ruinen empor, und auf ſchnell im—
proviſirtem Bretterboden drehten ſich leichtfertige „Hurdy—
Gurdys“ (deutſche Tanzmädchen) mit jauchzenden Minern
im Reigen, zu rauſchender Muſik auf der qualmenden Brand—
ſtätte. Ich ſuchte mir ein Nachtlager in der Nähe unſerer
zerftörten Wohnung. In meine Wollendecke gehüllt ent—
ſchlummerte ich, bei den Klängen von Hörnern, Zithern und
Geigen und dem Jubel der tanzenden Miner, auf dem Dache
unſeres Kellergewölbes, inmitten der rauchenden Ruinen von
Idaho City.
Während der erſten Tage nach dem großen Brande,
welcher Idaho City in Aſche gelegt, wohnte ich in dem der
allgemeinen Zerſtörung entgangenen, zur Zeit nicht benutzten
„Jenny Lind-Theater“, und lebte mit meinen Freunden
unter dem Dache der Muſen, wo wir unſere eigenen Kammer—
diener und Koch ſpielten, in traulicher Abgeſchiedenheit. Bald
aber vertrieb uns eine Hurdy-Gurdy-Tanzgeſellſchaft, die
den vereinſamten Kunſttempel als Tanzboden und Schenke
gemiethet hatte, auf ſummariſchem Wege aus unſerem
Aſyl. Da wir keine andere Wohnung in der Stadt finden
konnten, ſo beſchloſſen wir, uns ſelber eine zu bauen. Nichts
iſt leichter als dies, in einem Lande, wo Jeder, der einen
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Nagel einzuſchlagen verftand, ein Baumeifter war! Zimmer-
leute forderten nach der Feuersbrunſt ſechszehn Dollars
Gold Arbeitslohn pro Tag, was wir füglich ſelber verdienen
konnten. |
Mir ward das Amt eines Architekten anvertraut. Den
Plan für eine Wohnung hatte ich bald entworfen. Der
Keller, ſchlug ich vor, ſoll Prunkgemach ſein. Tabackskiſten,
Champagnerkörbe und Balken mit Herrengarderobe können
dort mit Leichtigkeit und Eleganz als Möbeln aufgeſtellt
werden. Vor dem Kellergewölbe wird eine Veranda erbaut,
einfach und luftig, vorne offen, wegen der romantiſchen Aus—
ſicht auf die Ruinen, oben und an den Seiten nicht zu
dicht, damit Sonne, Mond und Sterne hineinſchauen können;
darin wird gekocht und getafelt. Gäſte und Kunden werden
im Keller empfangen. Als Schlafſtelle dient, je nach Be—
lieben, der Keller oder die Veranda. Lulu wird den Ehren—
poſten als Wache bei Nacht vor dem offenen Waarenlager
gewiß zur Zufriedenheit ausfüllen. Die Koſten zum Bau
ſind unbedeutend. Nägel können genug in der Aſche auf—
geſammelt werden, und ein Handbeil borgt man. Zwei
Dutzend Bretter und vier Pfähle ſind das nöthige Bau—
material. Auf das Dach wird ein rothes Hemd gehängt,
um anzudeuten, daß hier ein Geſchäftshaus ſei. Die Woh—
nung heißt „Bellevue“.
Mein Bauplan wurde einſtimmig angenommen, und
binnen einer Stunde ſtand die Wohnung zum Einzug fertig da.
Die häusliche Einrichtung bot geringe Schwierigkeiten.
Einen alten Kochofen hatten wir billig erſtanden; doch fehlte
daran leider das Ofenrohr. Da der Verſuch, ohne Rohr Feuer
im Ofen anzumachen, ſich als unpraktiſch erwies, weil es in
der Nähe deſſelben vor Rauch nicht auszuhalten war, ſo
ſuchten wir eins unter den Ruinen und fanden auch bald,
was wir wünſchten. Das Rohr war allerdings vom Feuer
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etwas mitgenommen, leiſtete aber vortreffliche Dienſte. Ein
windſchiefer Ellbogen ragte wie eine Wetterfahne ſeitwärts
über die Bretterwand der Veranda hinaus, und gab dem
Ofen ein originelles Ausſehen. Die Kappe darauf ſah aus,
wie der Hut eines Schuſters, der blauen Montag feiert.
Jeder, der den Ofen ſah, lachte. Einen herrenloſen Tiſch
oktroyirten wir im Jenny Lind-Theater, und Tabackskiſten
gaben ſolide Stühle. Unſer Tiſchgeſchirr dagegen war min—
der praktiſch geſtaltet. Für fünf Koſtgänger, außer Freun—
den, welche ſich täglich um die Mittagszeit zu Beſuch ein—
fanden, beſaßen wir eine blecherne Waſchſchüſſel, die als
Suppenterrine diente, zwei zinnerne Teller, drei Blechſchalen,
zwei Gabeln, zwei Eßlöffel und drei Meſſer — N. B. die
Taſchenmeſſer nicht mitgerechnet. Auch das Kochgeſchirr
ließ Manches zu wünſchen übrig. Daſſelbe beſtand aus
zwei altersſchwachen Bratpfannen, einem Kaffeetopf und
zwei kleinen Blechhafen.
Unangenehm war der Zugang zu unſerer Wohnung.
Um hin zu gelangen, mußte man zuerſt mehrere tiefe Minen—
löcher überſpringen, dann über einen Berg von Schutt und
Aſche klettern (unſer ehemaliges glänzendes Geſchäftshaus!),
der ganz mit verbranntem Blechgeſchirr und zerbrochenen
Töpfen überſäet war, und ſchließlich unter einem im Wer—
den begriffenen Schneiderladen hindurchkriechen, den unſer
Nachbar der Hofſchneider Lewy („Liwei“ genannt) im
Pfahlbauſtil aufführen ließ. Für Kunden, welche das
rothe Hemd auf dem Dache der Veranda flattern ſahen
und Einkäufe machen wollten, war dieſer Vorhof zu unſerm
Bazar beſonders unangenehm. Oft mußten wir ermun—
ternden Zuruf erſchallen laſſen, wenn ſo ein Goldvogel
zwiſchen den Keſſeln und Töpfen herumſtolperte, oder unter
Liewei's Pfahlbauten in der Aſche ſtecken blieb, ehe er Bellevue
erreichte.
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Unſer Leben war im Allgemeinen recht romantiſch.
Früher Morgen iſt es. Ich ſehe die Geſtirne über
mir erbleichen, als ich den Kopf vorſichtig unter der war—
men Wolldecke auf der Veranda, wo ich geſchlafen, hervor—
ſtrecke und durch die fingerbreiten Spalten des Daches
aufwärts ſchaue. Die Luft iſt eiſig kalt, obgleich es heute
einer der letzten Tage des Wonnemonds iſt, ſo daß ich,
keineswegs ein Freund von allzufrühem Aufſtehen, mein
Haupt ſchnell unter die mit ſilbernem Reife belegte Decke
zurückziehe. In halbwachem Traume lauſche ich noch ein
Stündchen dem monotonen Rauſchen des Waſſers in den
Goldwaſchrinnen drüben in der Straße, und horche auf das
emſige Schaufeln und Hacken der Goldgräber, welche die
ganze Nacht fleißig bei der Arbeit geweſen ſind; da zieht
mich einer unſerer Hausfreunde, ein an frühe Stunden ge—
wöhnter Schotte, unſanft am Bein unter der warmen Woll—
decke hervor, mit dem Bemerken, es ſei Zeit aufzuſtehen,
um Frühſtück für die Familie zu kochen.
Beſagte „Familie“, worunter mein Aſſocié und andere
zwei Hausfreunde zu verſtehen, ſchläft unterdeß im Keller
ruhig weiter den Schlaf des Gerechten und wartet auf den
Kaffee. Mit einer kräftigen Bemerkung auf das Goldland
Idaho, die ſchlecht zum Morgengebete paſſen möchte, mache
ich meinem Aerger ob des unſanften Aufweckens Luft und
erhebe mich. Morgentoilette iſt bald gemacht, und ich be—
gebe mich auf den Weg, um Einkäufe für das Frühſtück
zu beſorgen, während mein Genoſſe eine alte Kiſte entzwei
ſchlägt, und damit Feuer im Ofen anmacht. Der bekannte
Weg unter Liewei's Pfahlbauten und durch die wüſte Straße,
über Löcher, Gräben und Schutthaufen, iſt für mich in
Morgenſchuhen doppelt ſchwierig. Mit etlichen Pfund
Hammelsrippen nebſt Brot, Butter und Zwiebeln beladen,
lange ich wieder in Bellevue an, wo der Rauch bereits
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luſtig aus dem ſchiefen Ofenrohr in die blaue Morgenluft
ſteigt. Mein ſchottiſcher Freund brät die Hammelsrippen
mit Butter in der einen Pfanne, während ich in der an—
deren die mit dem Taſchenmeſſer ſchnell entzwei geſchnittenen
Zwiebeln „A la français““ ſchmore. Der Kaffee, den wir
gemahlen in Packeten vorräthig haben, iſt leicht gekocht.
Der Tiſch wird gedeckt, ſelbſtverſtändlich ohne Tiſchtuch oder
gar im Goldland verpönte Servietten, wir ziehen im
Keller die Wolldecken von der Familie herunter, und bald
ſitzen wir Alle auf Tabackskiſten um den Tiſch und langen zu.
Nie hat mir eine Mahlzeit beſſer gemundet als eine
ſolche im freien Goldland, wo alles Conventionelle wegfällt
und die friſche Bergluft den Appetit würzt. Meinen Kame—
raden ſchmeckt das Eſſen gleichfalls ausgezeichnet, und das
mangelhafte Tiſchgeſchirr ſtört keineswegs unſeren guten
Humor. Einer ißt mit Eßlöffel und Gabel, ein Anderer
mit zwei Taſchenmeſſern, der dritte mit Adams fünfgezahnten
Gabeln, und ein vierter gebraucht gar zwei Stäbchen, nach
chineſiſchem Stil, u. ſ. f. —. Beim Kaffee, den wir aus
Blechſchalen trinken, können wir aber nicht umhin, uns über
den ſpitzbübiſchen Yankee-Fabrikanten bitter zu beklagen, der
ihn mit grobgemahlenen Bohnen, die wie Klöſe oben auf
ſchwimmen, vermiſcht hat. — Im Allgemeinen fand wenig
Abwechſelung in unſeren Mahlzeiten ſtatt, die ſich ſämmtlich
durch patriarchaliſche Einfachheit auszeichneten. Mittags
und Abends wurden dieſelben Gerichte wie beim Frühſtück
aufgetiſcht mit dem Unterſchiede, daß delicater Nierenbraten
oder ſogenanntes Kalbfleiſch, welches in Idaho, wie unſer
Schlachtermeiſter mir anvertraute, aus den Nackentheilen
fetter Ochſen herausgeſchnitten wird, mitunter an Stelle
der Hammelsrippen traten. Auch pflegten wir uns Mittags
bisweilen mit dem Luxus eines Topfes Kartoffeln, die in
Idaho zehn Cents das Pfund koſteten, zu regaliren, oder
17
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einige Fruchttorten als Nachtiſch zu verconſumiren, bei deren
Zubereitung ich mich unter der Aufſicht eines Goldwäſchers
als Bäckerlehrling übte.
Im Keller hatten wir täglich Beſuch von Bekannten,
die es mit Förmlichkeiten nicht zu genau nahmen. Deutſche,
welche faſt den dritten Theil der Bewohner von Idaho
City bildeten, fanden ſich beſonders zahlreich bei uns ein.
Oft ging es in Bellevue recht heimiſch zu und die Main—
linie ward hitzig beſtritten. Der alte Zank zwiſchen Süd
und Nord fand auch in den Gebirgen des goldenen Idaho
einen Nachhall, und mancher Schwab machte bei einem
Schoppen „Bairiſch“, den wir uns aus einer der drei
Brauereien in Idaho City herbeiholten, ſeinem Aerger über
die „verflixten“ Preußen und den „verwetterten“ Bismarck
in keineswegs ſchmeichelhaften Worten Luft. Das Deutſch,
welches von unſern Beſuchern geredet ward, möchte jedoch
Manchem aus der alten Heimath ohne Dolmetſcher zum
Theil unverſtändlich ſein. Außer den mehr üblichen deutſch—
amerikaniſchen Redensarten in elegantem Yankeedeutſch hat
ſich die deutſche Sprache in Idaho noch durch euphoniſche
Minenausdrücke bereichert, z. B. ſluhßen (sluieing = gold—
haltigen Boden in Rinnen auswaſchen); ausklienen (to
clean up = das Gold aus den Rinnen herausnehmen);
proſpekten (to prospect = nad) goldhaltigem Boden ſuchen)
ꝛc. Dieſelben werden auch conjugirt, z. B. ich habe ge—
ſluhßt; er hat ausgeklient; ſie haben geproſpectet
— u. ſ. f.
Unſere Unterhaltung drehte ſich, wie es in allen Minen—
lagern geſchieht, faſt ausſchließlich um Minenneuigkeiten, und
wann man wohl nach Hauſe gehen könnte, womit Eu—
ropa oder die älteren Unionsſtaaten gemeint waren; letztere
wurden auch kurzweg „Amerika“ genannt, als ob Idaho
gar nicht zu den Vereinigten Staaten gehöre. Niemand
259
fieht ein Minenland als feine Heimath an. Die Gegen—
wart iſt dort im beſten Falle erträglich, während die
Hoffnung, als reicher Mann heimkehren zu können, die Zu—
kunft allemal mit roſigen Bildern ſchmückt. Wer wohl—
habend iſt, hofft reich zu werden, wie irgend ein Bekannter
von ihm, ein Glückskind, das ſo zu ſagen auf der Straße
über einen Goldklumpen ſtolperte; er hofft und hofft ſo
lange, bis ein unvorhergeſehenes Etwas ihm plötzlich wieder
Alles raubt. Der Eine Glückliche, der mit vollem Säckel
heimkehrte, iſt in Jedermann's Munde, wogegen von den
Tauſenden, die ſchon jahrelang nach Schätzen jagen und heute
ebenſo arm ſind, wie vor Decennien, kein Menſch redet.
Wer lange in den Minenländern verweilt, verliert, mag er
zu Zeiten noch ſo glücklich in ſeinen Unternehmungen ſein,
in neunundneunzig unter hundert Fällen über kurz oder
lang wieder Alles, was er mühſam erworben hat. Er muß
den Kampf mit der Welt von Neuem beginnen, und erliegt
er in demſelben mit gebrochener Kraft ſo findet er eine Ruhe—
ſtätte im fremden Lande, die bald vergeſſen iſt. Es iſt eine
Kunſt, ein ſolches Land zur rechten Zeit zu verlaſſen. Die
Hoffnung auf mehr Erwerb iſt der Ruin von Tauſenden.
„Noch 5000, noch 10,000 Dollars,“ — ſo heißt es —
„und ich gehe heim!“ — Aber man könnte eben ſo gut
darauf ſpeculiren, das große Loos in einer Lotterie zu
ziehen, als jene fehlenden Dollars zu erhaſchen, die nur in
höchſt ſeltenen Fällen gewonnen und noch ſeltener behalten
werden.
Bei der ſtets regen Hoffnung nach Gewinn, welche im
Goldlande die Quinteſſenz jedes Gedankens iſt, heiligt zu—
letzt bei Vielen der Zweck das Mittel. Nach jahrelangen
Täuſchungen nehmen es Manche mit der Ehrlichkeit nicht
mehr ſo genau; und nirgends iſt die Verſuchung, ſich über
Gewiſſensſerupel hinwegzuſetzen, ſo groß, als in den Minen—
1
260
ländern, wo das Geſetz meiſtens nur ein leeres Wort ift.
Mehr unzufriedene Menſchen, als in den Minenlagern,
giebt es in keinem Lande der Welt. Namentlich in Bezug
auf die Goldminen findet dies ſeine Geltung. Etwas ſcheint
immer dabei verkehrt zu ſein. Zum Goldwaſchen iſt ent—
weder zu viel oder zu wenig Waſſer vorhanden, oder man
wird von Jemandem betrogen, oder es iſt zu wenig Gold
im Boden, oder — was das ſchlimmſte iſt! — es iſt gar
kein Gold mehr zu finden.
Sonntags ging es in Bellevue beſonders lebhaft zu,
und die Goldwage, worauf der Goldſtaub, das in Idaho
allein übliche Zahlungsmittel, abgewogen ward, hatte vom
frühen Morgen bis ſpät in die Nacht wenig Ruhe. Die
Goldgräber, welche die Woche über hart gearbeitet hatten,
kamen am Sonntag aus der Umgegend ſchaarenweiſe nach
der Stadt, um ſich zu amüſiren und Kleider, Lebensmittel
und Minengeräthſchaften einzukaufen. In den „Stores“
ward am Tage des Herrn mehr als in allen Wochentagen
zuſammen genommen verkauft, und die Trink- und Hurdy—
Gurdy-Salons, die Spielhöllen ꝛc. machten goldene Ge—
ſchäfte. Alles, was zum Lebensunterhalte gehörte, hatte
fabelhaft hohe Preiſe. Ein kleines Glas Bier, ein Trunk
Whisky oder eine Zigarre koſteten je einen viertel Dollar;
ein mäßig großes Laib Brot einen halben Dollar; Eier
zweieinhalb Dollars das Dutzend, Hühner drei Dollars das
Stück. Chineſiſche Waſchleute berechneten für das Waſchen
eines Hemdes einen halben Dollar, für Unterbeinkleider,
Strümpfe, Taſchentücher u. d. m. einen viertel Dollar das
Stück. Sich ein Paar Stiefel anmeſſen zu laſſen, erfor—
derte eine Auslage von fünfundzwanzig Dollars, und fer—
tige Kleidungsſtücke in einem Laden waren denſelben Preiſen
entſprechend. Ein Paar wollene Strümpfe z. B. koſteten
einen Dollar. Im Allgemeinen galt unter den Kaufleuten
261
in Idaho die Regel, daß der Verkaufspreis das Doppelte
vom Einkaufspreiſe war. Was einen Dollar koſtete ver—
kaufte man für zwei — 1 pro Cent pflegten wir zu jagen!
Während ich ſo ein intereſſantes Leben in der eben
erſt durch Feuer zerſtörten, aber wieder raſch aus den Ruinen
erſtehenden Goldſtadt führte, ermangelte ich nicht, gelegent—
lich die Umgegend meiner neuen Heimath in Augenſchein zu
nehmen und mich mit den verſchiedenen Proceſſen des Gold—
gewinnens genauer bekannt zu machen. Ein ſchöner Sommer—
mittag lud mich hinaus in die Berge, zu einem längeren
Spaziergange nach Buena Viſta Bar.
Bald befinde ich mich auf einer dreihundert Schritt
langen niedrigen Holzbrücke, welche den Elk Creek (Elkbach)
überſpannt und Idaho City von Buena Viſta trennt. Das
ſchlammige Bett des Elk Creek ſieht einer ſoeben von der
Fluth entblößten Flußmündung ähnlich. Hunderte von
trüben Strömungen durchkreuzen die Sandbänke nach ver—
ſchiedenen Richtungen, die Ergüſſe hydrauliſcher Minen—
waſſer aus den umliegenden Bergen und Schluchten. Eine
an dreißig Fuß hohe Waſſerleitung läuft von der jenſeitigen
Höhe quer über das ſeichte Gewäſſer und hoch hin über
Idaho City, über Straßen und Häuſer, zum gegenüber
liegenden Bergrand, — eine über eine halbe engliſche Meile
lange hölzerne Rinne, die auf hohen Holzblöcken ruht. Das
Skelett eines urweltlichen ungeheuren Hunderttauſendfüßlers
müßte einen ähnlichen Anblick geben.
Der Grund jenes unpoetiſch ausſchauenden Gewäſſers
iſt mehr oder minder goldhaltig; die weiter oberhalb in
ſeinen Thalgrund einmündenden Schluchten ſind durch die
aus ihnen zu Tage geförderten Reichthümer berühmt ge—
worden. Linker Hand liegt der breite Moore's Creek, in
262
den fih der Elkbach ergießt, und durch den alle Minen-
gewäſſer des Boiſe Baſin (ſprich: Boiße, — der Minen⸗
diſtrict, von dem Idaho City der Centralort iſt) ihren Ab—
fluß finden. Sein ſeichtes von dem Schlamme zahlreicher
ausgewaſchenen Minen angefülltes Bett iſt dem des Elk
Creek ähnlich und wie dieſes reich an Gold. Jenſeits des
Moore's Creek erheben ſich waldige um dieſe Jahreszeit theil—
weiſe ſchneegekrönte Bergzüge, an deren Abhängen zahlreiche
kahle Baumſtämme lagen. Die Zweige benutzt man zu
Böſchungen an Gräben, in denen das Waſſer an den Bergen
herumgeleitet wird. Hohe Waſſerleitungen, ſogenannte „Te—
legraphen“, auf langbeinigen Holzblöcken ruhend, traten an
verſchiedenen Stellen aus dem Berge hervor. Glänzende
Cascaden fielen aus den gegen das Thal gewendeten höheren
offenen Enden der „Telegraphen“ herab. Hydrauliſche
Schläuche ſind oben an den Holzrinnen befeſtigt, um den
Grund des Berges durch gewaltigen Waſſerdruck, der ähn—
lich wie eine Feuerſpritze, nur mit zwanzigfacher Kraft ar—
beitet, bloßzulegen und die geldhaltigen Tiefen zu erreichen.
Um in Flußbetten an den Grundfelſen zu gelangen,
auf dem ſich in der Regel die reichſten Goldablagerungen
befinden, wird der Fluß theilweiſe abgedämmt und darauf
die Erde vermittelſt Strömungen, die durch Holzrinnen ge—
leitet werden, fortgeſchwemmt. Wo der Fall des Waſſers
zu gering iſt, um einen ſolchen Proceß mit Erfolg aus—
führen zu können, muß die Erde in Schubkarren entfernt
werden, eine ebenſo mühſame als koſtſpielige Arbeit. So—
bald das Gold aus dem abgedämmten Flußgrund gewonnen
iſt, läßt man das Waſſer wieder einſtrömen und dämmt
einen neuen Theil des Flußbetts ab u. ſ. f. — Ein An⸗
recht auf goldhaltigen Boden wird ein „Claim“ genannt.
Nimmt Jemand ein ſolches in Beſitz, deſſen Länge auf
zweihundert Fuß beſchränkt iſt und das ſich quer über ein
263
Flußbett, eine Thalmulde ꝛc. ausbreitet, fo ſchreibt er feinen
Namen nebſt einer kurzen Localbeſchreibung ſeiner Gold—
kammer in spe auf ein Stück Papier und nagelt dies an
den nächſten Baum oder an einen in die Erde gepflanzten
Pfahl, was ihm ſein Eigenthumsrecht ſichert, bis beſagtes
Document in der nächſten Gerichtsſtube zu Protocoll ge—
nommen iſt. Die in ſolchen Handſchriften von den biederen
Goldgräbern entwickelte Kalligraphie und Orthographie iſt
in der Regel nicht minder bemerkenswerth als ihre Stiliſtik.
Ich bin über die Brücke gegangen und betrete das
goldene Buena Viſta, die Uferbänfe des Moore's Creek.
Ein entſetzlich wüſtes Bild bieten die halb ausgewaſchenen
zahlreichen Goldfelder, als ſei das ganze Land ſo zu ſagen
unterſt zu oberſt gekehrt. Millionen von Hamſtern und
Maulwürfen, auf einen Acker zuſammengedrängt, würden
keinen ſolchen Unfug anrichten, als Waſſer, Picke und Schaufel
hier gethan hatten.
Langſam wanderte ich durch das Goldparadies. Schutt
und Steinhaufen liegen in chaotiſchem Wirrwarr auf den
durchwühlten Uferbänken, rauſchende Waſſer fließen nach
allen Richtungen, bald in Holzrinnen und Gräben über—
einander an den Bergabhängen herum, bald durch tief aus—
gewaſchene Schluchten oder auf luftigen Holzböcken in Rinnen
einander kreuzend hoch daher. Alle paar Schritt gewahre
ich Miner, die in langen Gummiſtiefeln im fließenden Waſſer
ſtehen, Erde und Kies in die Rinnen ſchaufeln und die
loſen Steine mit Eiſengabeln aus dem ſchnell hinſtrömenden
ſchlammigen Waſſer herauswerfen.
Auf wackeligen Brettern ſchreite ich jetzt über breite
Löcher, verlaſſe die Uferbank und ſteige rechter Hand einen
Berg hinan, dem Brauſen gewaltiger Waſſer entgegen—
gehend, das immer lauter herübertönt. Die nackten Stämme
entwurzelter Eichen liegen, zerſplittert und halb zerſägt,
264
zwiſchen Haufen von Brettern zerſtreut am Boden da, und
verfallene Minerhütten verſtecken ſich in den Bergſchluchten.
Fließenden Waſſern begegne ich bei jedem Schritt.
Das Waſſer iſt die lebendige Kraft, der Alles in einem
Minenlande unterthan iſt. Die Eigenthümer der künſtlichen
Waſſerläufe ſind die eigentlichen Herren jener Länder und
die Goldwäſcher müſſen ihnen ſchweren Tribut entrichten.
Oft find die Minengräben zwanzig und mehr engliſche
Meilen lang. In der Regel wird das Waſſer von Bächen
und Flüſſen in ihrem oberen Laufe abgedämmt und in
Gräben an den Bergabhängen herum nach ſeinem Be—
ſtimmungsorte geleitet; nicht ſelten laufen mehrere Gräben,
einer über dem andern, an demſelben Bergabhange alle
demſelben Ziele zu. Das Waſſer wird den Minern beim
Zoll verkauft, worunter ein laufender Cubikzoll, der durch
hydrauliſchen Druck regulirt wird, zu verſtehen iſt. Der
Preis des Waſſers variirt zwiſchen fünfzehn und fünfzig
Cents den Zoll für einen zwölfſtündigen Gebrauch bei Tage
und die Hälfte davon bei Nacht. Das Waſſervolumen,
welches jene Gräben halten, iſt ſehr verſchieden und beträgt
von fünfundzwanzig bis zu tauſend Zoll und darüber. Die
Goldwaſchrinnen in den Straßen von Idaho City ver—
brauchten in vierundzwanzig Stunden etwa vierzig Zoll
Waſſer; ein mittelſtarker hydrauliſcher Preßſtrom dagegen
etwa hundertfünfzig Zoll, was, da die mächtigſten Ströme
allemal die theuerſten ſind, eine Waſſertaxe von fünfund—
zwanzig Dollars pro Tag ausmachen würde. Da nun ein
Graben mehrere Rinnen und hydrauliſche Schläuche, bis zu
ſeiner vollen Kapazität, mit Waſſer verſorgt, ſo leuchtet es
ein, daß ein ſolcher, der etwa tauſend Zoll hält, ſo gut iſt
und beſſer, als manche Goldmine.
Auf dem nächſten breiten Bergabhange erblicke ich ſechs
„Telegraphen“, von denen jeder mehrere hundert Schritt
265
lang iſt, neben einander herlaufen, die ſo zu ſagen aus
dem Berge herausgebaut ſind. Rauſchend ſtrömt das Waſſer
in den langen Holzrinnen auf den ſkelettartigen Böcken vom
Berge her und fällt aus den offenen höchſten Enden ſchäu—
mend in die Tiefe. Unter ihnen durchkreuzen in Gräben
ſchnell fließende Gewäſſer die geneigte Ebene aus verſchie—
denen Richtungen, alle dem Abhange zubrauſend. Am Ende
eines der „Telegraphen“ machte ich Halt, von dem ein über
hundert Fuß langer, gegen zehn Zoll dicker Schlauch tief
herabhängt, eine rieſige Anaconda, die in allen Ringeln
zuckt, wie ein lebendiges Ungeheuer. Aus dem metallenen
Rohr am unteren Ende des Schlauches ſchießt ein faſt arm—
dicker Waſſerſtrahl mit gewaltiger Macht hervor, wühlt
tiefe Löcher in den Berg, ſchleudert Steine wie Spielbälle
umher, zermalmt und zerpeitſcht Lehm, Erde und Sand,
löſt ſie im Waſſer auf und treibt ſie nebſt kleinerem Stein—
geröll in finſterer Fluth mit Macht in eine enge Schlucht.
Es iſt ein hydrauliſcher Preßſtrom, der unter dem
Druck einer hundert Fuß hohen Waſſerſäule den Berg fort—
ſpült und dabei den goldhaltigen Boden auswäſcht. Die
Arbeit von zweihundert fleißigen Menſchenhänden verrichtet
er, mit nie ermüdender Kraft. Unausgeſetzt, bei Tag und bei
Nacht, wühlt das rieſige Ungeheuer in den Berg und zerreißt
ſeine Grundfeſten, gehorſam der ſchwachen Kraft eines ein—
zelnen Menſchen. Von Kopf bis zu Fuß in einen Gummianzug
gekleidet, ſteht dieſer in den ſtrömenden Fluthen, im umher—
ſpritzenden Goldſtaub und leitet die Rohrmündung gegen
die Bergwand. Oben am Abhange wurden Pfähle in die
Erde geſchlagen, wo ſich Riſſe in ihr zeigen, um mit Hebe—
kraft den ſich ablöſenden Maſſen nachzuhelfen. Gewaltige
Schichten der vom Waſſer unterwühlten Erde ſtürzen ab
und zu mit Getöſe in die Tiefe. Arbeiter ſind beſchäftigt,
die größeren Steine an die Seite zu bringen, um dem
266
Waſſerſtrome mit der losgeſpülten und ſich darin auflöfen-
den mehr oder weniger goldhaltigen Erde freien Abfluß zu
verſchaffen.
Im Thalgrund fließt der ſchlammige Strom mit reißen—
der Schnelligkeit durch die Goldwaſchrinnen (sluice boxes),
in denen das Gold aufgefangen wird. Die Rinnen ſind
mit runden Blöcken oder mit Latten ausgeſetzt, zwiſchen
welche Queckſilber geſchüttet wird. Das ſchwere Gold ſinkt
aus der durch die Rinnen geſchwemmten goldhaltigen und
zu einem Brei aufgelöſten Erde zu Boden, wo es ſich mit
dem Queckſilber amalgamirt. Die leichtere Erde treibt
weiter, und die Steine, welche in reißender Fluth über die
Oeffnungen zwiſchen den Blöcken und Latten hinrollen, wer—
den mit einer dichtgezahnten Eiſengabel gefaßt und aus den
Rinnen herausgeworfen, damit ſie dieſelben nicht verſtopfen.
Jede Woche oder zwei wird mit der Arbeit eingehalten.
Die Blöcke oder Latten werden aus den Rinnen herausge—
nommen, das Amalgam wird herausgebürſtet und das darin
enthaltene Queckſilber in Retorten verdampft, bis das reine
Gold erſcheint. Sind die Rinnen lang genug, ſo geht nur wenig
Gold bei dieſem auf den erſten Anſchein ſehr oberflächlichen
Proceß verloren. Bei zu kurzen Rinnen dagegen wird ein
Theil des Goldes mit fortgeſpült, ehe es ſinken und ſich
mit dem Queckſilber verbinden kann. Dieſer fogenannte
Abfall (tailings) wird von Neuankömmlingen, meiſtens Chi—
neſen, oft mit reichem Erfolge wieder vorgenommen, nach—
dem die erſten Beſitzer ihren Minengrund verlaſſen haben.
In den Boiſe⸗Minen, wo meiſtens feiner Goldſtaub ge—
funden wird, benutzt man das Queckſilber allgemein zum
Gewinnen des Goldes. In Minendiſtricten dagegen, wo
das Gold grobkörnig iſt, kommt nur wenig Queckſilber zur
Anwendung, und das Gold wird, wie die Natur es ge—
ſchaffen hat, in den Rinnen aufgefangen. Der Goldgewinn
267
hängt natürlich ſowohl von dem Reichthum der Mine als
von den Kräften ab, die zum Auswaſchen des goldhaltigen
Bodens angewandt werden können. Von 1000 bis zu 5000
Dollars iſt ein guter Durchſchnittsertrag für zwei Wochen
hydrauliſcher Arbeit. Je höher die Waſſerſäule, welche den
Druck ausübt, um ſo bedeutender iſt in gutem Minengrund
in der Regel der Ertrag. Aus der Mine der Gebrüder
White wurde in neun Tagen 13,000 Dollars Goldſtaub
und einmal in demſelben Zeitraum das Doppelte gewonnen;
im Granitbach, ſechs engliſche Meilen von Idaho City
25,552 Dollars in zwei Wochen. Doch ſind dies Aus—
nahmefälle.
An ſiebzig Fuß hoch iſt die Bergwand, auf der ich
ſtehe und das Schauſpiel der hydrauliſchen Minenarbeit be—
trachte. Ein halbes Dutzend Waſſerſchläuche peitſchen ihre
gewaltigen Waſſerſtröme gegen den Berg und wilde Gewäſſer
ſtürzen vom Abhang, die mit dem aus den Schläuchen kommen—
den Waſſer den künſtlichen Strom bilden, der die losgewaſchene
Erde unten durch die Rinnen treibt. Unter mir öffnet ſich ein
weiter, wüſt ausſehender Thalkeſſel, ehemals die Grundfeſte
eines Berges, der bereits fortgeſchwemmt wurde. Große Stein—
haufen, Schutt und Baumwurzeln liegen in ihm zerſtreut,
tiefe Schluchten, durch welche brauſende Gewäſſer einen Aus—
weg ſuchen, durchfurchen ihn nach allen Richtungen. Es
iſt ein urwildes, lebendiges Bild, das man nicht müde wird,
anzuſchauen.
Mühſam und gefahrvoll iſt das Leben der Männer,
welche ſich das wilde Element dienſtbar gemacht haben.
Nicht ſelten ſtürzen Felſen mit zermalmendem Gewicht in
die Tiefe und zerſchmettern den Arbeiter, oder es löſt ſich
unverſehens eine breite Erdwand los und begräbt den leider
oft zu unvorſichtigen Miner, wenn nicht gar der hydrau—
liſche Waſſerſtrahl zufällig Einen trifft und ihn tödtet, als
268
jet er von einer Kugel getroffen worden. Tag und Nacht
wird die Arbeit mit den Preßſtrömen fortgeſetzt, Nachts
beim Auflodern rieſiger Kienholzfeuer, welche die wüſte Ge—
birgslandſchaft unheimlich beleuchten, ſo lange als hinreichen—
der Waſſervorrath vorhanden iſt, oder bis der erſtarrende
Winter die Bäche in Eis verwandelt — und wie Grabes—
ſtille tritt es plötzlich an die Stelle des wilden Aufruhrs.
Grabesruhe — auch jetzt iſt ſie bei mir, hier, wo
das Leben aus tauſend Frühlingsbächen mich umbrauſt.
Ganz nahe blinken die weißen Steine des Friedhofs. Für—
wahr, einen ſeltſamen Platz hat ſich die Goldſtadt erwählt
als Ruheſtätte für ihre Todten! Auch mir liegt ein Freund
dort begraben. Des Goldlands tückiſcher Schimmer lockte
ihn her in ungaſtliche Bergwüſte vom fernen, friedlichen,
grünenden Neckarſtrand, um hier ſein junges Leben zu be—
ſchließen. Mögeſt du ſanft ſchlummern, mein Freund, im
fremden Land, der du mit reichem Seitenſpiel mir oft in
oregoniſcher Wildniß den goldgelockten Apoll zu Gaſt ge—
laden haft!® — Ach! bald wird die Habgier der Menſchen
jene Ruheſtätte in einen Ort des Schreckens umwandeln.
Näher und näher rückt die Thalwand hinüber zum Friedhof,
immer weiter zurückgedrängt von der Titanenkraft des ge—
feſſelten Elements. Särge werden zerſchmetternd hinab—
ſtürzen zwiſchen raſenden Fluthen und wüſtem, goldgeſchwän—
gertem Felsgeröll, ihre bleichen Gebeine zerſtreut von den
brauſenden Wogen. Doch wozu euch heraufbeſchwören, ver—
zerrte Bilder der Zukunft! Iſt dieſes Land doch der Ge—
genwart Land, wo aus goldenen Pocalen die Luſt über—
ſchäumt und die Jugend ſich tummelt im fröhlichen Ueber—
muth, Ernſt und Sorgen verſpottend! —
* J. L. Geer, ſtudirte in Heidelberg und ſpielte die Zither
meiſterhaft. Er ſtarb in Folge übermäßiger Strapazen auf einer
Reiſe von Walla Walla nach Boiſe im Jahre 1864 in Idaho City.
269
Die länger werdenden Schatten mahnen mich zur Heim—
kehr, und ſchon ſenkt ſich die Sonne hinter die weſtlichen
Berggipfel. Ein Blick noch von der Höhe, ehe ich ſcheide!
— Jenſeits des Elkbachs liegen im Thalgrund die neuen
Häuſer von Idaho City zwiſchen ſchwarzen Ruinen; wie
Silberbänder blinken rings an den Abhängen des weiten
Bergkeſſels die langen Ströme der „Telegraphen“ und
ſchweben hin und her, lichte Funken ausſprühend; die breiten
Strombetten des Elk- und des Moore's-Creek ſchillern wie
Flittergold; ſcharf gezeichnet ragen ſchlanke Fichten empor
von den maleriſchen Bergkuppen in die blaue Luft, und die
Schneefelder auf den Höhen überfliegt ein Goldhauch, des
Tages Scheidegruß. Rauſchende Waſſer füllen die ſtille
Abendluft mit momentanem Geräuſch und wiegen den Geiſt
in ſinnende Träumereien. Ein donnernder Erdfall von der
Bergwand unter mir, die das Schlangenungeheuer unter—
wühlt hat, ſchreckt mich auf, und ich trete den Rückweg zur
Stadt an, ehe die Dunkelheit mich überraſche.
Bei eintretender Nacht überſchreite ich auf's Neue die
lange Holzbrücke, welche den Elkbach überſpannt. Die
Brücke iſt voll von Chineſen, die vom Tagewerk heimkehren,
Jeder von ihnen eine Schaufel oder ein langes Bambus—
rohr, an deren beiden Enden Gummiſtiefel, ſchwere Bündel
und Minengeräthſchaften hängen, auf den Schultern balan—
cirend. Im Gänſemarſche kommen die fremdartigen Ge—
ſtalten mit kurzen elaſtiſchen Schritten daher und geben in
ihrer tartariſchen Tracht ein originelles Bild. In der
Hauptſtraße von Idaho City erſchallt aus neuen hellerleuch—
teten Häuſern fröhliches Trinkgelag, und nebenan ſinken
halbverkohlte Bretterwände in den Aſchenſtaub. Große
Feuer von Menſchen umgeben, lodern inmitten der Straße
empor. In den Höhlungen daneben flammen Fackeln, bei
deren flackerndem Lichte fleißige Goldwäſcher, finſteren
270
Gnomen ähnlich, im rauſchenden Waſſer ſtehen, und emfig
ſchaufeln und die Steine hoch empor ſchleudern aus der
dunklen Fluth. Muſik und Jubel und fröhliches Tanz—
geſtampf ſchallen aus ſchimmernden Sälen, wo leichtfertige
Hurdy⸗Gurdys mit ausgelaſſenen, revolverumgürteten Gold—
gräbern den Reigen ſchwingen und ungezügelte Luſt ſich
tummelt. Hier und dort ſchlägt der Ton von fallenden
Goldmünzen an das Ohr, wo in einer von Lampen ſtrah—
lenden Halle, bei den Klängen von Banjos und Geigen,
ein Schwarm von Minern, von Spiel und Getränken er—
hitzt, ſich beim Pharao oder Monte um die grüne gold—
beladene Tafel drängt.
„Wie die Lieben in der Heimath erſtaunen möchten,
machten ſie ſo einen nächtlichen Spaziergang durch die wüſten
Gaſſen dieſer leichtſinnigen, eben erſt aus der Aſche wieder
erſtandenen Goldſtadt!“ — ſolche Gedanken kamen mir in
den Sinn, als ich langſam über die Schutthaufen und durch
die hellerleuchtete Straße nach unſerer Wohnung zurück—
kehrte, und dem Jubel horchte, der die Luft erfüllte mit
bacchantiſchem Lärm.
2. Ein Beſuch in Willow⸗Creek in Oregon.
Seit Entdeckung der Goldminen von Californien hat
jedes Jahr in den Minenländern am nördlichen Stillen
Ocean wenigſtens ein epidemiſches Goldfieber aufzuweiſen.
Aus allen Richtungen der Windroſe ſtrömen, ſobald die
Fama oder die Landeszeitungen die Localität des neuent—
deckten Goldlands auspoſaunt, Goldjäger bei Hunderten und
bei Tauſenden dorthin, um ihr Glück zu ſuchen; Abenteurer
aller Art und Kaufleute ſchließen ſich ihnen an; lange Züge
von Packthieren, mit der ganzen Einrichtung einer nagel—
neuen Stadt, mit Lebensmitteln und mit Werkzeugen zum
Bearbeiten der Minen beladen, ſieht man, dicht aufeinander
folgend, auf bis dahin nur von Indianern betretenen Pfaden
durch die Urwildniſſe ziehen; in ſonſt ſtillen, einſamen
Thälern und Gebirgsgegenden erſchallt das Geſchelte der
Maulthiertreiber, und das Knallen von Büchſen und Re—
volvern ſcheucht Wölfe, Bären und Antilopen aus ihren
Schlupfwinkeln auf, und nicht ſelten miſcht ſich das Hurrah
der Goldjäger mit dem hundegebellähnlichen Kriegsgeſchrei
ergrimmter Rothhäute, welche den Bleichgeſichtern den un—
berufenen Eintritt in ihre Wildnißheimath ſtreitig machen.
An einer günſtigen Localität in dem neuentdeckten
Minendiſtricte projectirt irgend ein ſchlauer Yankee eine
Stadt mit pompöſem Namen und bietet Grundſtücke zum
Verkauf aus; bald ſteht eine Bretterhütte da, worin Je-
mand Schnaps verkauft, ein Reſtaurant ſchließt ſich dem
272
Tempel des Bacchus an, und ein ſtämmiger Sohn des Vulcan
fabricirt daneben in einer Grobſchmiede Piken für die Gold—
gräber und beſchlägt die ſtörriſchen Mauleſel, — und ehe
zwei Monden vergangen, ſteht ein ſchmuckes Städtchen in
der Wildniß da, mit eleganten Trinkſalons, Kaufmanns—
häuſern, Hötels, Reſtaurationen, Hurdy-Gurdy-Tanzhäuſern,
Spielhöllen, Billardzimmern u. ſ. w. In den umliegenden
Schluchten und Thälern, an Flußläufen und Bächen bauen
Goldgräber ihre Hütten und ſchaufeln goldhaltige Erde in
ſchnell zuſammengezimmerte Goldwaſchrinnen und ſogenannte
Wiegen, um den Mammon auszuwaſchen. Meilenlange
Gräben werden an den Bergabhängen herumgeleitet, um
das Waſſer irgend eines näher oder entfernter liegenden
Fluſſes, den man an ſeinem oberen Laufe abzapft, nach den
nöthigen Punkten zu leiten, wo man es zum Auswaſchen
goldhaltiger Erde vortheilhaft verwenden kann, während
Hunderte von Goldjägern, mit Schaufel, Pike und Gold—
waſchſchalen verſehen mit Büchſe und Revolver zum Kampfe
gegen die Indianer ausgerüſtet, täglich die Berge durch—
ſtreifen, tiefe Löcher bis zum Grundfelſen graben und die
ausgeworfene Erde an dem nächſten bequemen Waſſerlaufe
oder in einer Pfütze in kleinen Quantitäten in Eiſenſchalen
auswaſchen, um auszufinden, ob der Boden Gold in ge—
nügender Menge enthalte, — ſogenannte „Proſpectors“,
welche meiſtens am Abend in die Stadt zurückkehren und
entweder wie Rohrſperlinge auf das Land ſchimpfen, wenn
ſie nicht einmal die Farbe (nämlich des Goldes) in der
Schaale gefunden, oder die fabelhafteſten Gerüchte von dem
Reichthum eines neuentdeckten Claim circuliren und von
Hunderttauſenden und Millionen reden, obgleich ſie nicht
einmal im Beſitze eines zweiten Hemdes ſind. Im Falle
in dem neuentdeckten Goldminendiſtrict wie nicht ſelten vor—
kommt, alles, nur nicht Gold, zu finden iſt, und das Gold⸗
275
fieber weiter nichts, als eine Geſchäftsunternehmung eines
geriebenen Yankee und ein Schwindel reinſten Waſſers
war, verſchwindet die neugebackene Stadt ebenſo ſchnell
wieder vom Boden, wie ſie entſtand, die Rothhäute ſind
wiederum die unumſchränkten Herren der Wildniß und die
enttäuſchten Goldjäger ſchwärmen unter Verwünſchungen
auf den Humbug, der ſie oft Hunderte von Stunden weit
nach dem vorgeſpiegelten „Eldorado“ gelockt, durch das
Land, um anderswo ihr Glück zu ſuchen.
Das Frühjahr des Jahres 1868 hatte der wander—
ſüchtigen Bevölkerung dieſer Länder zwei epidemiſche Gold—
fieber gebracht, das eine das von den Sweet Water—
Minen, im nordöſtlichen Winkel des Territoriums Utah,
zwiſchen der Kette der Windflußberge und dem Südpaß in
den Felſengebirgen gelegen, das andere das von den Willow
Creek-Minen (Minen am Weidenbach), öſtlich von den
Blauen Bergen im Staate Oregon.
Als die Frühlingsſonne den Schnee von den Bergen
bei Boiſe City zu ſchmelzen begann, in welcher Haupt—
ſtadt des berühmten Goldlands Idaho ich im vergangenen
Winter meinen Wohnſitz aufgeſchlagen, ſchien es, als ob
die geſammte Bevölkerung dieſes Ultima Thule vom Gold—
fieber angeſteckt ſei, und „Sweet Water“ und „Willow
Creek“ waren in Jedermanns Munde. Auch ich ward von
dem dazumal dort arg graſſirenden Goldtyphus angeſteckt
und beſchloß einen kleinen Abſtecher nach dem nur 120
engliſche Meilen von Boiſe City entfernten Willow Creek—
Minen zu machen und der dort eben entſtehenden nagel—
neunen Goldſtadt Eldorado City, von der die Fama
das Wunderbarſte auspoſaunte, einen Beſuch abzuſtatten.
Am 10. März, zwei Uhr Nachts, ſagte ich Boiſe City
Lebewohl. Unſere erſte Tagereiſe, welche uns bis nach
„Farewell Bend“ an den Schlangenfluß (snake river)
18
274
brachte, 85 engliſche Meilen von Boiſe City, bot nicht viel
Intereſſantes. Die Berge waren überall noch mit Schnee
bedeckt und ſelbſt die fruchtbaren Thäler des Boiſe, Payette
und Weſer, Nebenflüſſe des Snake, welche wir durchkreuzten,
gaben ein einförmiges Bild, da die Jahreszeit zum Be—
bauen der Felder noch zu früh war. Den an 200 Ellen
breiten Schlangenfluß überſchritten wir am Ende unſerer
Tagereiſe auf einer fliegenden Kettenfähre und nahmen am
jenſeitigen Ufer in Old's Fährhauſe Quartier, als ſich die
Schatten der Nacht eben auf die wilde Gebirgslandſchaft
legten.
Am nächſten Morgen beſtieg ich mit noch einem Reiſe—
gefährten, einem Goldgräber aus Californien, auf's Neue
unſer Gefährt, das uns von Old's Fähre direct nach Eldo—
rado bringen ſollte. Da dies die erſte Poſtkutſche war,
welche den Weg durch die Berge nach Willow Creek unter—
nahm, ſo hatten wir uns mit Stricken, Beilen, Schaufeln
und ähnlichen Werkzeugen wohl verſehen, um unvorherzu—
ſehenden Schwierigkeiten zu begegnen und den Wagen ſicher
durch die Wildniß zu lootſen.
Wir verließen jetzt die Hauptlandſtraße, welche von
Boiſe City über die Blauen Berge nach der Stadt Uma—
tilla an den Columbia führt und ſteuerten hinaus in eine
öde Gebirgslandſchaft. Von Baumwuchs war nirgends die
Spur, und das verkrüppelte Salbeigeſtrüpp, welches die
Berge bedeckte, und die damit abwechſelnden Schneefelder
gaben der Landſchaft ein troſtloſes Ausſehen. Aber wir
fuhren ohne beſondere Schwierigkeiten in den aufeinander—
folgenden Thalmulden hin. Nur dreimal blieben wir in
Sumpflöchern ſtecken und waren gezwungen, den Wagen los—
zuſchaufeln und auf höheres, feſtes Terrain zu ziehen. Gegen
Mittag ſahen wir von einem Bergrücken die breite Niede—
rung des Willow Creek, an deſſen oberem Laufe die neu—
275
|
entdeckten Goldminen liegen, vor uns und langten bald dar—
auf bei dem ſogenannten „Felſenhaus (rock house)“ an.
Das Felſenhaus war die Wohnung von ſechs Jung—
geſellen, welche ſich beſonders mit dem Einſammeln von Heu
beſchäftigten, das in den Niederungen am Willow Creek in
Hülle und Fülle wuchs. Das Heu verkauften ſie für die
Kleinigkeit von hundert Dollars für die Tonne (20 Centner),
und von den tagtäglich in Menge vorbeipaſſirenden Fuhr—
leuten und Goldjägern nahmen ſie für Logis und Mahl—
zeiten manchen „ehrlichen Pfennig“ ein. Bereits vor vier
Jahren hatten ſie ſich hier angeſiedelt, ganz allein inmitten
feindlich geſinnter Indianer, mit denen ſie manches intereſſante
Scharmützel zu beſtehen gehabt. Die Schießſcharten in den
dicken Wänden des Felſenhauſes und die dort befindlichen
zahlreichen Hinterladungswaffen neueſten Muſters, Patronen,
Pulverflaſchen u. ſ. w. ſprachen deutlich genug, daß dieſes
nicht eine Stätte des Friedens ſei.
Nachdem wir hier einem raſch beſchafften Diner alle
Ehre angethan und unſeren Wirthsleuten als üblichen Preis
dafür einen Dollar in Goldſtaub ausgewogen, ſagten wir
dem Felſenhauſe Lebewohl.
Gegen Abend kamen wir bei gutem Wetter an den
Willow Creek; aber als wir weiter fuhren, fing es heftig
an zu ſchneien, und bei einbrechender Nacht ſtrich ein eiſiger,
ſcharfer Wind über die öden Berge und trieb den feinen,
haldgefrorenen Schnee uns ins Geſicht. Aengſtlich ſpähten
wir deshalb nach den Gaslichtern von Eldorado City. End—
lich gewährten wir linker Hand ein Licht, das abwechſelnd
aufflackerte und erloſch. Der Kutſcher vermuthete, daß das
Licht in Eldorado City ſei und erbot ſich, auf Recognos—
cirung hinzugehen, wenn wir beiden Paſſagiere den Wagen
bis zu ſeiner Rückkehr bewachen wollten, worin wir ein—
willigten.
18 *
276
Faſt eine Stunde lang blieben wir in dem Schnee—
ſturm mit dem Wagen allein. Endlich kam der Fuhrmann
zurück und brachte die frohe Nachricht, daß wir nur eine
Viertelſtunde von Eldorado City entfernt ſeien; er hätte ſich
erſt noch ein Bischen mit einem heißen Whiskypunſch er—
wärmt und hoffte, daß uns das Warten nicht zu lange
gedauert.
Wacker hieb er nun auf das Viergeſpaun ein und raſch
fuhren wir quer durch den Schnee, den Berg hinunter
und dem erſehnten Goldhafen entgegen. Plötzlich ver—
ſchwanden die beiden Vorderpferde in der Erde. Wir
wähnten im erſten Schrecken, daß die Gäule über einen
Felsabhang geſtürzt, und ſprangen kopfüber vom Wagen in
den Schnee, da wir fürchteten, daß die Deichſelpferde mit
der Stange den Vorderpferden im nächſten Augenblick in
die unbekannte Tiefe folgen würden. Im Nu hatten wir:
die Stränge abgeſchnitten und riſſen die Deichſelpferde am
Rande eines ſchwarz aufgähnenden Minenſchachts herum, im
welchen die Vorderpferde hinabgeſtürzt. Die lebendig be—
grabenen Thiere nothgedrungen vorläufig ihrem Schickſal
überlaſſend, fuhren wir vorſichtig um den Schacht herum
und erreichten endlich glücklich die erſehnte Goldſtadt.
Mehr als ein Dutzend Häuſer konnte ich bei dem Schnee—
geſtöber in Eldorado nicht entdecken und war froh, als wir
das Nevada Hötel erreichten, ein elendes Bretterhaus,
das ausſah, als ob der Wind es jeden Augenblick um—
werfen könnte. Das räucherige Gaſtzimmer war gedrängt!
voll von einer Geſellſchaft lärmender Goldgräber, von denen,
die meiſten ſofort hinauseilten, ſobald ſie von dem Mißge—
ſchick vernahmen, das uns betroffen, um die Pferde womöglich
aus dem 28 Fuß tiefen Minenſchacht zu retten. Dieſe Mühe—
war jedoch vergeblich, da beide Pferde den Hals gebrochen
hatten.
277
Nach eingenommenem Abendeſſen verfügte ich mich
treppauf, um mir ein paſſendes Nachtlogis zu ſuchen. Von
Betten war im Nevada Hötel keine Rede, und hatte ich
ſolche in Eldorado auch nicht erwartet. Jeder Reiſende
in dieſen Ländern führt ſeine Wollendecke bei ſich, und ich
hatte mich, ehe ich die Reiſe antrat, noch mit einer extra
waſſerdichten Gummidecke und mit einem Kopfkiſſen verſehen,
ſo daß ich in Bezug auf Bettzeug mich in beſſeren Um—
ſtänden befand, als die meiſten Goldtouriſten.
Bald fand ich neben der warmen Ofenröhre, die vom
unteren Gaſtzimmer quer durch den Dachſtuhl lief, ein zu—
trauliches Plätzchen, das ich ſofort in Beſchlag nahm. An
der anderen Seite der Ofenröhre hatten ſich eine ſpaniſche
Donna und ein Greaſer (Schmutzpelz, d. h. Mexikaner)
einquartirt, die ſich in einer Fülle von „Carachos“ und
„Carambas“ ergingen, wenn der Wind ihnen den Schnee
durch das löcherige Dach ins Geſicht trieb.
„Buenos dias, Senor!“ — rief eine heiſere Baß—
ſtimme mir von der anderen Seite der Ofenröhre zu, als ich
am Morgen des 12. März anno Domini 1868 auf dem
Dachboden des Nevada Hötels in Eldorado City erwachte.
Die heiſere Baßſtimme gehörte der ſpaniſchen Donna an,
deren flüchtige Bekanntſchaft ich Abends zuvor gemacht.
Beſagte Donna lag in Eldorado der edlen Kunſt des Wahr—
ſagens ob und lüftete den biederen Goldgräbern für die
[Kleinigkeit von füuf bis zehn Dollars in ſchnödem Gold—
ſtaub vermittelſt Kartenſchlagens die Schleier der Zukunft.
Den freundlichen Morgengruß der reizenden Donna
haſtig erwidernd, erhob auch ich mich von meinem Lager,
ſchüttelte den Schnee ab und verfügte mich ſchleunigſt her-
unter in das räucherige Gaſtzimmer des Hötels.
278
Meine nächte Sorge war, mir ein beſſeres Quartier
zu verſchaffen als das Nevada Hötel, wo die Küche ein ge—
treues Seitenbild von dem Schlafſtellendepartement bildete.
Ein ſolches fand ich auch bald bei einem Geſchäftsfreunde,
der in einer Bretterbude von zwölf Fuß im Geviert die bie—
deren Goldgräber für Goldſtaub mit Werkzeugen zum Minen—
bau, mit Kleidungsſtücken, Erbſen, Speck, Mehl, Whisky,
Taback und ſonſtigen Lebensbedürfniſſen verſorgte und gleich—
zeitig den Koch für ſich und feine zahlreichen Gäſte ſpielte.
Unter der Leitung meines freundlichen Wirthes nahm
ich Eldorado City und ſeine Umgebung zunächſt etwas näher
in Augenſchein. Ich zählte dreizehn Häuſer in der
Goldſtadt, eine Zahl, welche die Fama in Boiſe City be—
reits auf 300 vermehrt hatte. Die bis jetzt noch namen—
loſen Straßen waren von Koth und halbgeſchmolzenem
Schnee faſt grundlos, und die umliegenden nackten Hügel
gaben im winterlichen Kleide ein nichts weniger als idylli—
ſches Bild. Die banditenähnlich ausſehende Bevölkerung
dieſes berühmten Goldhafens hatte ſich meiſtens in den
Whiskykneipen concentrirt, wo die lärmende Unterhaltung
ſich um den fabelhaften Werth von unerforſchten Claims
drehte und man von Zehntauſenden ſprach, als ob jeder
nach Belieben Schätze aus den umliegenden Hügeln und
Schluchten herausſchaufeln könnte. Binnen einer Viertel-
ſtunde wurden mir mindeſtens zwei Dutzend Claims zum
Verkauf angeboten und zwar zu den beſcheidenen Preiſen
von je 2000 bis 20,000 Dollars — und darüber. Ich
lehnte dieſe freundlichen Anerbietungen jedoch freundlich ab
und entſchuldigte mich damit, daß ich mich erſt etwas mehr
in Eldorado umſehen müſſe, ehe ich, wie ich beabſichtigte, ein
paar tauſend Dollars in Claims anlegen könnte. Dieſe bes
ſcheiden gemachte Erklärung und mein im Vergleich zu der
Bevölkerung von Eldorado ariſtokratiſches Aeußere ſtempelten
|
279
mich ſofort zu einem Kröſus und öffneten mir die Herzen
aller anweſenden Claimſpeculanten und Whiskytrinker.
Die Unterhaltung mit meinen neuen Freunden drehte
ſich zunächſt um die in der Nähe der Stadt liegende gold—
haltige „Klapperſchlangenſchlucht“. Dieſelbe hattei hren
Namen von den zahlloſen dort hauſenden Klapperſchlangen
erhalten, welche den Jagdluſtigen in Eldorado für den kom—
menden Sommer viel Vergnügen in Ausſicht ſtellten. Andere
fabelhaft reich ſein ſollende Bäche und Schluchten, die alle
in den Willow Creek münden oder mit demſelben verzweigt
find, waren Shaſta- und Rich-Creek, Quarz-Gulch, Jones—
und Willtams-Flat und eine ganze Legion von Gulches
(Thalmulden), die alle wohlhabende Käufer ſuchten. Kleine
Quantitäten von allerliebſtem Goldſtaub (Dust), die ich ſah,
gaben den augenſcheinlichen Beweis, daß der koſtbare Mam—
mon in den Hügeln, Bächen und Schluchten um Eldorado
keine Mythe ſei; aber ich erfuhr bald, daß es an Waſſer
fehlte, um die Minen auszubeuten.
Für die Willow Creek-Minen war der Burntfluß,
ein Nebenfluß des Snake, die nächſte nie verſiegende Waſſer—
quelle in spe zum unentbehrlichen Waſſerbedarf. Der
große Graben daſelbſt, von dem die Zeitungen ſo viel
Redens gemacht, konnte aber, wie ich hörte, ſchwerlich in
dieſem Jahre fertig werden. Obgleich der Burntfluß in
gerader Richtung nur ſechs engliſche Meilen von Eldorado
entfernt iſt, wird genannter Graben doch eine Länge von eini—
gen achtzig engliſchen Meilen haben, um das Waſſer jenes
Stromes an den zwiſchen ihm und Eldorado liegenden
Bergzügen herum und an ſeinen Beſtimmungsort zu leiten.
Die Koſten zum Bau dieſes Mammuthgrabens werden auf
100,000 Dollars veranſchlagt.“
* Der „große Graben“ wurde im Jahre 1873 fertig und
hat 120,000 Dollars gekoſtet.
280
Während meines faſt vierwöchentlichen Aufenthaltes
in Eldorado fand ich volle Gelegenheit, das Leben in dieſem
berühmten Goldhafen recht gründlich kennen zu lernen.
Faſt täglich langten kleinere und größere Geſellſchaften
von Goldjägern an, welche die Fama oft aus Hunderten
von Stunden weiter Entfernung hergelockt hatte. Die
meiſten dieſer Herren vom Revolver, von der Picke und
Schaufel verließen Eldorado faſt eben ſo ſchnell wieder,
als ſie hergekommen, nachdem fie ſich überzeugt, daß bein
dem Mangel an Waſſer in dieſem Jahre kein Glück zu
finden ſei.
Die bitter enttäuſchten Goldjäger waren fleißige Be—
ſucher der Whiskykneipen, wo ſie ihre Sorgen todt tranken,
und Abends namentlich ging es in den größeren Trinkſalons
flott her. Eine Einnahme von 200 Dollars an einem
Abend war in dieſen Tempeln des Bacchus nichts Seltenes.
Im Hintergrunde des größten der Eldoradotrinkſalons
klapperten Silber- und Goldſtücke auf den Spieltiſchen, an
denen ſich die Goldgräber beim Monte oder Pharao amü—
ſirten. In einer Ecke des Zimmers ſaßen vor einer langen
Reihe von Whiskytonnen ein Banjo- und ein Geigenſpieler
und kratzten ohrzerreißende Melodieen von den Seiten her—
unter, während nicht weit davon ein Haar- und Barbier-
künſtler ſolche der Gäſte verſchönerte, die mehr auf elegantes
Aeußere als auf einen Dollar ſchnöden Willow Creek-Gold—
ſtaubes hielten. Der entſetzlich ſchlechte Whisky an der
Bar verſetzte manchen der Salongäſte in die wildeſte Auf—
regung, und mitunter ertönten Revolverſchüſſe, welche be—
ſonders Luſtige im Uebermaß der Freude zum Spaß ge—
gen die baumwollene Stubendecke abfeuerten. Nach Mitter—
nacht verwandelte ſich der Trinkſalon in ein Bivouac; die
Goldtouriſten ſtreckten ſich, jeder in ſeine Wollendecke ge—
hüllt, im romantiſchen Durcheinander auf den Fußboden hin
281
oder machten ſich's auf Tiſchen und Stühlen bequem, jeder
mit einem geladenen Revolver oder mit einer Henry-Büchſen
unterm Kopfkiſſen oder an der Seite, und viele modulirten
bereits ſonore Baßlieder in Dur und Moll und träumten
von ganzen Bergen von Gold, während andere erſt zu
trinken anfingen. |
Gemüthlicher und gefitteter ging es Abends in der
Wohnung meines Geſchäftsfreundes zu, bei dem ich Quar—
tier genommen, und wo ſich nach des Tages Laſt und Mühen
ein Häuflein Auserwählter verſammelte, um der geſelligen
Freude zu pflegen. Da Stühle in unſerem Store unbe—
kannte Größen waren, ſo machte es ſich die Geſellſchaft
den Umſtänden nach auf Wollendecken, Ballen, Fäſſern,
Kiſten und Kaſten bequem, Abenteuer wurden der Reihe
nach vorgetragen, und wenn ein Gläschen Kirſchbrandy oder
Eierpunſch die Zungen einiger anweſenden alten californi—
ſchen Goldjäger gelöſt, ſo wurden dieſe Vorträge öfters
höchſt intereſſant.
Bei dieſen geſelligen Zuſammenkünften bildeten die
„Goldminen vom blauen Eimer“, welche ein glänzendes,
unerfaßbares Traumbild, die goldene Fata Morgana jedes
Goldjägers in Oregon ſind, ein Unterhaltungsthema von
ſtets neuem Reiz. Was war Willow-Creek, was Boiſe
in Vergleich mit jenen Minen, wo die alten Emigranten
das gediegene Gold eimerweiſe aufgeleſen hatten! Eine
wahre Schande, hier in Eldorado bei Tage ein paar lumpige
Unzen Gold auszuwaſchen und Abends ſchlechten Whisky
zu trinken, indeß man vielleicht jene berühmten „Diggings“
wieder entdecken und dort das Gold wie Kieſelſteine auf—
* Henry rifle, eine in den Goldländern beliebte Waffe, welche
mit 18 Schuß, die man ſchnell nach einander abfeuern kann, auf
einmal geladen wird.
282
ſammeln könnte!“ — Wenn die Geſellſchaft ſich entfern
hatte, jo pflegte unſer engerer Familienkreis, beftehent
aus ſechs Junggeſellen, ſich im Store für die Nacht zi
verſchanzen. Um es unberufenen Eindringlingen im Dunkel
unmöglich zu machen, unſer im Hintergrunde des Ladens
auf dem Eſtrich gemachtes Lager geräuſchlos zu erreiche
und unter unſeren Wolldecken und Mantelſack-Kopfkiſſen
Rekognoscirungen nach Goldſtaubbörſen zu unternehmen
wurde der ganze Vordertheil des Store's ſo zu ſagen mi
ſpaniſchen Reitern ausgeſetzt. Dieſelben beſtanden aus eine
* Ein paar Worte über die „Goldminen vom blauen Eimer!
(blue bucket diggings), auch die Emigranten-Diggings genannt, wer
den dem Leſer von Intereſſe ſein. Dieſelben ſind, wie geſagt, ein
verloren gegangene Entdeckung, womit es ſich folgendermaßen verhält
„Im Jahre 1845 zog eine Karavane von etwa tauſend Emi
granten mit zahlreichen Fuhrwerken, Pferden, Vieh ꝛc. vom Miſſouri
fluß überland nach dem Willamettethal im weſtlichen Oregon
Zwiſchen dem Schlangenfluß und den Blauen Bergen in Oregor
kamen fie an einer Stelle vorbei, wo ein ihnen unbekanntes gelbe:
Metall in kleinen Stücken auf dem Boden zerſtreut dalag. Das
Metall war weich und ließ ſich auf den eiſernen Radreifen de:
Fuhrwerke leicht mit Steinen breitſchlagen. Einige Emigranter
ſammelten davon einen blau angemalten Waſſereimer voll zuſammen
warfen das unnütze Zeug, als zu ſchwer zum Transport, aber bali
wieder fort.“ —
Als in Folge der im Jahre 1848 erfolgten Goldentdeckunger
in Californien ſich Schwärme von Abenteurern über die Küftenlände:
am nördlichen Stillen Ocean verbreiteten, um nach Gold zu ſuchen
hörten einige derſelben von dieſem Funde der Emigranten. Mi
Blitzesſchnelle verbreitete ſich die Nachricht davon unter den Gold
jägern. Das unbekannte weiche gelbe Metall, das man mit Steiner
auf den Radreifen aushämmern konnte, mußte natürlich Gold ge
weſen fein, denn, — was hätte es ſonſt fein können? Daß di
Emigranten daſſelbe nicht für Gold anſahen, war leicht erklärlich
im Jahre 1845 hatte noch Niemand etwas von Goldentdeckunger
an dieſer Küſte gehört, und die Emigranten unterſuchten ihren Fund
nicht genauer. Aber Gold mußte es geweſen fein, das war klar wi
283
Unmaſſe von Blechgeſchirr, nebſt Gläſern, Flaſchen, Koch—
öfen, Töpfen, Kaffeekannen, Schaufeln, Bratpfannen, Waſch⸗
ſchüſſeln, Eimern ꝛc., zwiſchen welchen hindurch ſelbſt der
ausgebildetſte Spitzbube nicht ſeinen Weg im Dunkeln, ohne
Lärm zu machen, gefunden hätte. Da jeder von uns
Schlafenden eine geladene Büchſe oder Doppelflinte neben
ſich liegen hatte und nach einem im Finſtern zwiſchen den
ſpaniſchen Reitern Umherſtolpernden ſofort geſchoſſen hätte,
ſo wurde unſer Nachtquartier, deſſen unangreifbare Lage allen
Eldoradoern bekannt war, begreiflicherweiſe nie beunruhigt.
die Sonne! Das verloren gegangene Dorado erhielt nach dem erſten
Eimer voll Gold, welchen die Emigranten dort aufgeſammelt haben
ſollten, den poetiſchen Namen „Goldminen vom blauen Eimer“.
Seit einem Vierteljahrhundert durchſtreifen nun in jedem Som—
mer kleinere und größere Geſellſchaften von „Proſpectors“ die Wild—
niſſe des öſtlichen Oregon, um die Goldminen vom blauen Eimer
wieder zu finden. Man ſuchte ſowohl von Oſten als von Weſten
her die Spuren der großen Emigrantenkaravane; ihre Marſchroute
ließ ſich an altem Eiſen, Ueberbleibſeln von Bivouaes, Radgeleiſen ꝛc.
von Oſten her bis an den Malheur- (ein Nebenfluß des Snake),
von Weſten her bis an den Crooked-Fluß (ein Nebenfluß des John
Day, welcher oberhalb der Dallesfälle in den Columbia mündet)
mit ziemlicher Deutlichkeit erkennen. An beiden genannten Flüſſen
hörten aber die Spuren von der Emigrantenkaravane ganz auf, ohne
daß man bis dorthin das Gold, welches wie Kieſelſteine offen da—
liegen ſollte, gefunden hatte. Die „Goldminen vom blauen Eimer“
mußten nothwendigerweiſe auf der Strecke zwiſchen dem Malheur—
und dem Crooked-Fluß liegen.
Dieſes Land war eine pfadloſe Wüſte, und befindet ſich noch
heute zum größten Theil im Urzuſtande; außerdem liegen dort die
Jagdgründe der blutdürſtigen Schlangen-Indianer, welche den gold—
ſuchenden Bleichgeſichtern jeden Fußbreit Boden in ihrer Heimath
ſtreitig machten und erſt im Herbſt 1868 mit den Weißen Frieden
ſchloſſen. Hierzu kam die große Ausdehnung des Landſtrichs in
welchem die Goldminen vom blauen Eimer verborgen liegen ſollten,
ein Land, das ſich etwa 180 engliſche Meilen von Oſt nach Weſt
und gegen 200 euglifche Meilen von Süden uach Norden erſtreckt.
284
Ueber die Willow Creek-Goldminen wurden mir, wäh—
rend meines Aufenthaltes in Eldorado, ſelbſtverſtändlich die
genaueſten Erörterungen gegeben. Ich erfuhr, daß man
das erſte Gold im Schaſtabach bereits vor vier Jahren
entdeckte, daß die Miner aber wiederholt durch Indianer
von ihrer Arbeit verjagt worden wären. Noch im ver—
gangenen Herbſte hatten kleine Abtheilungen von Gold—
gräbern im Bach goldhaltige Erde ausgewaſchen, während
ihre Kameraden oben auf dem Berge die Indianer mit
Henrybüchſen in reſpecktvoller Entfernung hielten.
Trotz aller einer gründlichen Erforſchung ſich entgegenſtellenden
Schwierigkeiten wurde dieſes Land Jahr aus Jahr ein von Aben—
teurern durchſtreift, welche den tauſendfachen Gefahren der Wildniß
trotzten und ſich mit den Indianern herumſchlugen, in der Hoffnung
die Goldminen vom blauen Eimer dort zu entdecken. Keine von
ihren Hoffnungen hat ſich aber bis jetzt erfüllt; nicht einmal die
Spur von der großen Emigrantenkaravane hat man dort wieder—
finden können.
Es iſt ein ſchwieriges Unternehmen, die Spur einer ſolchen
Karavane nach langen Jahren zu entdecken. Nicht nur hat die Zeit
dieſelbe verwiſcht und haben ſowohl Elemente als Indianer etwaige
Ueberbleibſel und Zeichen von Bivouaes zerſtört oder weggeführt,
auch ihre Marſchroute durch die Wildniß war eine ſehr unbeſtimmte.
Die erſten Emigrantenkaravanen, welche dieſes damals noch nie
von einem Weißen betretene Land durchzogen, folgten in der Regel
den indianiſchen Fußwegen (Indian trails). Dieſe ſind auf dem
Kamm von Höhenzügen, welche nicht ſelten dichtbewaldet ſind, an—
gelegt. Die Rothhäute vermeiden mit ihren Fußwegen ſtets die
Thäler ſo viel als möglich, weil ihnen beſonders an einer freien
Umſchau gelegen iſt, um ſich vor Ueberfällen ſicher zu ſtellen. Ein
indianiſcher Fußweg folgt dem Kamme eines Höhenzuges ſo lange
ſich dieſer einigermaßen nach der gewünſchten Himmelsgegend hin—
zieht; führt die Bergkette nach einer gar zu falſchen Richtung, ſo
wird der indianiſche Fußweg einen geraden Uebergang quer durch
das nächſte beliebige Thal nach einem anderen günſtiger gelegenen
Höhenzuge einſchlagen, dem er dann, immer oben auf dem Berg—
rücken hinlaufend, wieder treu bleibt. Um das Verfolgen einer
285
Den Erzählungen meiner Eldoradofreunde nach zu
ſchließen, iſt das ganze öſtliche Oregon, von den Blauen
Bergen bis zum Schlangenfluſſe, Eine Goldmine und würde,
könnte man nur das unumgänglich nothwendige Waſſer her—
beiſchaffen, bald ſelbſt Californien zur Zeit ſeines Glanzes
in den Schatten ſtellen. Auf einem Umkreiſe von Hunderten
von Meilen kann man faſt nirgends eine Schale voll Erde
auswaſchen, ohne die Farbe zu finden, worunter ein oder
ein paar diminutive Goldflitterchen zu verſtehen ſind. Ein
im Goldwaſchen Uneingeweihter möchte erſtaunen, wie gering
alten Spur von einer Emigrantenkaravane zu erſchweren, kommt
noch der Umſtand, daß dieſe nicht immer die Richtung der indiani—
ſchen Fußwege einhält, ſondern mitunter der Bequemlichkeit halber
ſich in den Thälern hinzieht, und ſo oft wie ſinnlos nach allen Rich—
tungen der Windroſe herumläuft.
Nach Jahrzehnten die nur einmal gemachte Marſchroute einer
ſolchen Karavane in der Wildniß zu finden, grenzt an die Unmöglich—
keit. Doch haben die Goldjäger noch keineswegs die Hoffnung dazu
aufgegeben, um dadurch die Goldminen vom blauen Eimer wieder
zu finden. Im Sommer 1868 glaubte man unter der Führung
eines alten Emigranten, am Stein's-Gebirge, etwa 115 engliſche
Meilen ſüdlich von Canyon City, endlich auf der rechten Spur zu
ſein; wiederum aber lief alles auf eine Täuſchung hinaus.
Die Ausdauer eines ſolchen Suchers der Goldminen vom blauen
Eimer iſt geradezu unverwüſtlich, nicht weniger als ſeine Hoffnung,
das goldene Ziel zu finden; zufällige Fünde in der Wildniß — ein
altes Stück Eiſen, ein mit der Axt gefällter Baum, irgend ein Stück
gedrechſeltes Holz, ein Ochſenhorn, ein Pferdeknochen, oder beſſer
noch eine Gegend, wo der Boden mehr oder weniger goldhaltig iſt
— geben ihr ſtets neue Nahrung. Auch liegen reiche Golddiſtricte
in jener Wildniß wie Oaſen zerſtreut, ſo daß die Goldminen vom
blauen Eimer dort durchaus nicht zu den Unmöglichkeiten gehören,
z. B. die von Canyon Creek, Marysville, am John Day, am Olive
Creek, bei Auburn, am Pulverfluß, im Mormon-Baſin und Rye
Valley, am Willow Creek, Burntfluß 2c. aber keine von allen dieſen
kann nach der Beſchreibung der Emigranten das verloren gegangene
Goldparadies „vom blauen Eimer“ ſein.
286
jelbft bei reichen Minen die Quantität des in der Erde
vertheilten Goldes iſt. Ein bis zwei Cents Goldſtaub zur
Goldwaſchſchale — etwa ein Eimer voll —, was in ge—
nanntem Landſtrich auf Tauſenden von Plätzen zu finden
iſt, zahlt mit genügendem Waſſervorrath in Goldwaſch—
rinnen von acht bis zu zehn Dollars jedem Arbeiter pro
Tag. Eine Schale voll Erde mit drei Cents Gold darin
zahlt in einer Wiege, worin ein Mann etwa hundert Eimer
oder Schalen voll Erde pro Tag auswaſchen kann, drei
Dollars pro Tag. Da aber der Tagelohn hier zu Lande
ſechs Dollars iſt, ſo wird ein Claim, das weniger als vier
bis ſechs Dollars pro Tag einbringt, nicht bearbeitet und
bleibt unbenutzt liegen, bis vielleicht in ſpäteren Jahren die
mit geringerem Gewinn zufriedenen Chineſen, denen gegen—
wärtig das Bearbeiten von Minen hier nicht geſtattet iſt,
an Stelle der Weißen treten werden, oder der Tagelohn
geringer wird, um auch den Weißen das Bearbeiten eines
ſo armen Bodens zahlend zu machen.
Der goldhaltige Boden liegt in den Willow Creek—
Minen meiſtens ſehr tief, von vier bis zu ſechzig Fuß tief
auf den Grundfelſen, und die obere Erde muß fortgeſchafft
werden, um den ſogenannten Zahlgrund zu erreichen,
was bei dem allgemeinen Mangel an Waſſer die Bearbei—
tung dieſer Minen außerordentlich ſchwierig macht. Trotzdem
hörte ich faſt jeden Abend von neuen Goldentdeckungen.
Ein Proſpector hatte z. B. einen Bit (122 Cents) in einer
Goldwaſchſchale gefunden, ein anderer vielleicht vier Bit
(ein halber Dollar), und ein dritter, der ſich für den Glück—
lichſten aller Sterblichen hielt, einen Dollar, wogegen an—
dere die Diggings verwünſchten, da ſie trotz aller Be—
mühungen nie mehr als die Farbe hatten finden können.
Drei größere Goldſtücke, die einen Werth von reſpective
16—29 und 49 Dollars hatten, welche man während der
287
Zeit meines Aufenthaltes in Eldorado an demſelben Tage
in verſchiedenen Schluchten fand, veranlaßten in der Stadt
eine wilde Aufregung, und auch in unſerer Wohnung ward
das wichtige Ereigniß mit einer Extraauflage von Eierpunſchen
gebührend gefeiert. Willow Creek erfreute ſich an jenem
unvergeßlichen Abende des einſtimmigen Lobes aller An—
weſenden, und die Claims ſtiegen ſofort drei bis vierhun—
dert pro Cent im Werth.
Das Leben in Eldorado war im allgemeinen eben
nicht das friedfertigſte, wie man es in einer neu entſtehen—
den Minenſtadt, deren Bewohner der überwiegenden Mehr—
zahl nach Abenteurer und ſchlechte Subjecte ſind, kaum
anders erwarten konnte.
Eines ſchönen Morgens ward die Stadt durch mehrere
ſchnell aufeinanderfolgende Piſtolenſchüſſe alarmirt. Zwei
Goldgräber, die über das Prioritätsrecht eines Claims in
eine Meinungsdifferenz gerathen waren, ſuchten ihre Con—
troverſe durch einen Kampf mit ſechsſchüſſigen Marine—
revolvern zu ſchlichten. Die Combattanten, welche ein—
ander auf offener Straße angriffen, wo wenigſtens ein
halbes Hundert der Einwohner von Eldorado ſpazieren gingen,
thaten es ſich in ſchlechtem Zielen gegenſeitig zuvor, und
die Zeugen des heroiſchen Kampfſpiels waren weit mehr
in Gefahr, von den planlos umherfliegenden Kugeln ge—
troffen zu werden, als die ſtreitenden Parteien ſelber.
Mehrere der Kugeln flogen durch die Bretterwände und
nicht viel fehlte daran, ſo hätte eine umherirrende Spitzkugel
ihr Ziel in der Perſon des Verfaſſers gefunden, ſie ward aber
glücklicherweiſe durch das Brett eines Ladentiſches aufgehalten,
hinter dem er ſtand. Nachdem beide Kämpfer ihre Revol—
ver leer gefeuert, ohne einander getroffen zu haben, warfen
ſie ihre Waffen fort und wurden zum Gaudium der El—
dorader handgemein; bald aber trennte die Streiter, zum
288
nicht geringen Aerger der Zuſchauer, der Friedensrichter
in Perſona.
Der Friedensrichter ſetzte ſofort eine Extragerichtsſitzung
an, die in Ermangelung eines paſſenden Locals in einem
Trinkſalon gehalten wurde. Eine Jury ward eingeſchworen
und man ſchaffte einen guten Vorrath von Aktenpapier und
ein paar alte Geſetzbücher herbei; zwei Spieler erboten ſich
als Advokaten der beiden Angeklagten aufzutreten, und ein
dritter ward Staatsanwalt und trat als Kläger für den
Staat Oregon gegen die beiden Kampfhähne auf. |
Der am Nachmittage deſſelben Tages in dem Trink⸗
ſalon verhandelte Proceß ſteht in feiner Art wohl einzig im
der Criminalgeſchichte da. Die zahlreich verſammelten Zu—
ſchauer machten ſchlechte Witze, tranken auf die Geſundheit,
des hochweiſen Gerichts, rauchten, lärmten und ergingen ſich
in zahlloſen Thorheiten. Der Friedensrichter hatte die Miene
eines Solon angenommen und explicirte der Jury das Geſetz:
„Wer von den beiden Angeklagten zuerſt ſeinen Revolver
gezogen, der ſei die angreifende Partei geweſen und folglich
der Schuldige; der andere hätte nur aus Nothwehr gehandelt
und das Recht gehabt, jenen todtzuſchießen.“
Nachdem die Jury eingeſchworen, wurden vom Richter
Whisky⸗Cocktails beſtellt, und Sr. Ehrwürden nebſt Jury,
Advokaten und die beiden Delinquenten auf der armen
Sünderbank goſſen, ehe die Unterſuchung begann, im fried—
lichen Beieinander erſt eins hinter die Binde.
Jetzt begann ein intereſſantes Zeugenverhör, wobei die
verſchiedenen Zeugen ſich ſchnurſtracks widerſprachen. Ein
Zeuge ſagte aus, daß Delinquent Nummer Eins, er
den Revolver gezogen und abgefeuert, und ein anderer Zeuge
ſchwor, daß er genau geſehen, wie Delinquent Nummer;
Zwei zweimal geſchoſſen, ehe Delinquent Nummer Eins
feinen Revolver hinterm Rockſchoß hätte hervorholen tönen.
a
ö
4
289
Die Advocaten verſuchten ſich in glänzenden Perioden,
und der eine von ihnen blieb in ſeiner glänzendſten Periode
glänzend ſtecken. Der Staatsanwalt, welcher es als Ehren—
punkt anzuſehen ſchien, beide Delinquenten zu verdonnern
und der ſich in bilderreichen Redensarten über die Heiligkeit
des Geſetzes, Ruhe und Ordnung, über ſchlechte Subjecte,
die dem Staate Schande brächten ꝛc. erging, wurde von
einem der Herren Advocaten milde daran erinnert, daß ſich
eine ſolche Moralpredigt wenig für ihn paßte, da doch Jeder—
mann in Eldorado wüßte, daß er, der ehrenwerthe Staats—
anwalt, im vergangenen Winter in Idaho City falſchen
Goldſtaub aus Kupferſpänen fabricirt und in Circulation
geſetzt hätte, und daß er nur nach Eldorado gekommen ſei,
um nicht in Idaho die Bekanntſchaft einer allzuengen hänfenen
Cravatte zu machen.
„Mein Herr!“ — rief der Staatsanwalt mit ſonorer
Stimme ſeinem perſönlich werdenden Widerſacher zu —
„mein Herr, wenn Sie mich beleidigen, ſo beleidigen Sie
den Staat Oregon!“
Unter wieherndem Gelächter jubelten die Zuſchauer ihm
Beifall zu und ließen „den Staat Oregon“ hochleben, wo—
gegen der Advocat bemerkte; „daß der Staat Oregon verd.
small potatoes — d. h. von winziger Bedeutung — ſei!“
Das Ende vom Proceß war, nachdem Richter, Advo—
caten, Jury und „der Staat Oregon“ (nämlich der Staats—
anwalt) eine unendliche Menge von Whisky Cocktails ver—
tilgt, daß die Jury auf den Antrag des Richters entſchied:
„Jeder der beiden Angeklagten hätte ſeinen Revolver zu:
letzt gezogen, und beide hätten nur das allen freigeborenen
Amerikanern heilige Recht der Selbſtvertheidigung ausgeübt;
beide Angeklagte ſeien folglich ſchuldlos und ſofort zu entlaſſen.
In Berückſichtigung der Milde des Urtheilsſpruches hätten die
beiden Angeklagten jedoch die Whiskyrechnung zu bezahlen.“
19
290
Hiermit war der Proceß beendigt, Jedermann goß
noch einen Schluck auf Rechnung der beiden Freigeſprochenen
hinunter, und die hohe Verſammlung löſte ſich mit allge—
meinem Wohlgefallen auf.
Daß der Rechtsſpruch des weiſen Eldorado-Solon die
Moralität der jungen Goldſtadt eben nicht verbeſſerte, läßt
ſich denken. Schlägereien und Schießaffairen wurden jetzt
etwas Alltägliches. An einem Sonntage gab es in El—
dorado nicht weniger als ſechszehn Straßenprügeleien, und
bei einer derſelben wurden dem „Staate Oregon“ zwei
Zähne ausgeſchlagen.
Die Indianer machten den Bewohnern der jungen
Goldſtadt nicht weniger Sorgen, als die einheimiſchen
Zwiſtigkeiten es thaten.
Eines Sonntags, als Eldorado von Müſſiggängern
ſchwärmte, kamen ſechs Reiter auf ſchaumbedeckten Roſſen
ohne Sättel in die Stadt geſprengt und brachten die un—
willkommene Nachricht, daß eine ſtarke Bande von Piutes—
Indianern drei mit Waarengütern ſchwer beladene Wagen
im Kanon — nur zwölf engliſche Meilen von der Stadt —
überfallen hätten. |
Die Aufregung in Eldorado war beim Eintreffen dieſer
Nachricht eine ungeheure. Während eine dichte Schaar von
Neugierigen die Ankömmlinge umdrängte und ſich dieſelbe
Geſchichte zwanzig Mal wiederholen ließ, forderten Andere
Freiwillige auf, um die Indianer zu verfolgen und ihnen
den Raub wieder abzujagen. Binnen einer Stunde galoppir—
ten auch ſchon ſechs bis an die Zähne bewaffnete „Indianer—
Jäger (Indian hunters)“ davon und ſchworen, daß jeder
wenigſtens zwei Scalpe mitbringen würde und daß ſie hundert
verdammte Rothhäute nicht fürchteten und blutige Revanche
an den frechen Schafseſſern, d. h. den Piutes, nehmen
wollten. Am nächſten Tage kehrte die Jagdgeſellſchaft aber
291
unverrichteter Sache wieder zurück, nachdem ſie über hundert
engliſche Meilen geritten waren, da man die Spur der
Indianer im Gebirge verloren hatte.
Seit dieſem erſten diesjährigen Erſcheinen der Indianer
auf dem Kriegspfade verging faſt kein Tag, an dem die
Rothhäute ſich nicht in der Nähe von Eldorado blicken ließen.
Das Wetter in Eldorado war während der Zeit
meines Aufenthaltes daſelbſt außerordentlich rauh und ver—
änderlich. Faſt jede halbe Stunde fand ein Witterungs—
wechſel ftatt. Bald war es frühlingswarm, bald ſibiriſch
kalt, und Schneeſtürme hatten wir faſt jeden Tag. Bei
Sonnenuntergang begann regelmäßig ein heftiger Wind,
der bis Sonnenaufgang in erbärmlichen Accorden um die
Bretterhäuſer heulte und den Gedanken wach werden ließ,
daß das Haus jeden Augenblick fortwehen könnte. In
einer beſonders windigen Nacht ward auch wirklich ein zwei—
ſtöckiges Haus von ſeinem Fundamente heruntergeweht, und
eine Goldwaſchrinne, die etwa 300 Pfund ſchwer ſein mochte
und in der Straße ſtand, an hundert Ellen weit die Straße
entlang geſchleudert. Bei Tage kamen die kalten Luftwellen
mehr ſtoßweiſe und waren, wenn eben vorher das Wetter
milde geweſen, doppelt unangenehm. In meiner Behauſung
fand der Wind freien Eintritt durch die fingerbreiten Spalten
im Fußboden und in den Wänden, und mitunter war ein
ſolcher Zugwind in der Bretterwohnung, daß ich vor die
Thür ging, um aus dem Wind herauszukommen. Nachts
brachten uns heftige Stoßwinde zuweilen eiſigkalte Regen—
ſchauer. Der Regen, welcher in feinen Strömen an vielen
Stellen durch das Schindeldach rieſelte, weckte einen mit—
unter unangenehm auf, wenn er unerwartet die Naſe traf;
oft veränderten wir ein Dutzend Mal während einer Nacht
unſere Lagerſtätten, um ein trockenes Plätzchen im Hauſe
zu finden.
18
292
Was den Fortbau der Stadt ſehr verzögerte, war der
Mangel an Bauholz, das von zwei acht engliſche Meilen
weſtlich im Gebirge liegenden Sägemühlen hergeſchafft wer—
den mußte. Der Preis deſſelben betrug an den Mühlen
75 Dollars für tauſend Fuß; die Wege waren ſo grundlos,
daß Wagen, zu dreißig Dollars die Fuhr, nur mit halber
Ladung den Weg in einem Tage zurücklegen konnten.
Zimmerleute forderten blos acht Dollars pro Tag Arbeits:
lohn. Das Häuſerbauen war unter ſo bewandten Um—
ſtänden ein recht koſtſpieliges Vergnügen. Die Herſtellung
eines Bäckerladens, acht Fuß Fronte bei neun Fuß Tiefe,
den man in Deutſchland für weniger als zehn Thaler bauen
könnte, koſtete die enorme Summe von einhundertfünfzig
Dollars; die monatliche Miethe für ein Geſchäftshaus,
welches man richtiger einen ſchlechten Stall nennen ſollte,
betrug hundert Dollars in Gold. Andere zum Leben
nothwendige Dinge waren nicht weniger koſtſpielig. Heu
zu Betten und als Futter für das Vieh koſtete z. B.
zehn Cents das Pfund, Hafer acht Cents und Kartoffeln
daſſelbe, während Feuerholz nicht unter ſiebenzehn Dollars
die Klafter — ohne das Kleinſchneiden zu rechnen — zu
haben war.
Der Leſer wird mit Recht über die Größe dieſer be—
rühmten Goldſtadt erſtaunen. Die Bedeutung einer Minen—
ſtadt wird aber nicht durch die Zahl iher Häuſer repräſen—
tirt. Die Goldgräber, welche Claims beſitzen, wohnen
meiſtens in Bretterhütten oder Zelten in der Nähe ihrer
Mine und kommen nur gelegentlich in die Stadt, um Ein—
käufe zu beſorgen oder um ſich zu amüſiren. Sonntags ver—
ſammelte ſich eine bedeutende Menſchenmenge, oft aus einer
Umgebung von zehn bis zwanzig Meilen, in einer concentriſch
gelegenen Minenſtadt, welche alsdann ſo lebendig iſt wie
eine Handelsſtadt von zwanzigfacher Größe.
293
Als die Jahreszeit vorrückte und der Schnee von den
niedrigeren Hügeln und aus den Thalſchluchten verſchwand,
beſuchte ich öfters die Goldgräber bei ihrer Arbeit, wo ſie
fleißig beſchäftigt waren, Goldwaſchrinnen zu legen und mit
Picke und Schaufel den Grund zum Auswaſchen goldhaltigen
Bodens handgerecht zu machen, um keine Zeit zu verlieren,
wenn das Waſſer kommen würde. Leider mußte nach
Anſicht aller Wohlunterrichteten der Waſſervorrath zum Be—
arbeiten der Minen in dieſem Jahre ein ſehr geringer ſein.
Zwei Minengräben, die man aus einer Entfernung von
15 und 20 engliſchen Meilen vom Gebirge her bis in die
Nähe der Stadt geleitet hatte, waren und blieben bis zur
Stunde meiner Abreiſe trocken, obgleich man jeden Tag
ſagte, daß das Waſſer morgen oder übermorgen kommen
würde. Man munkelte ſogar, daß der eine Graben in der
Richtung, welche das Waſſer nehmen ſollte, bergauf ge—
graben ſei, was der Herr Grabenbeſitzer entrüſtet für ſchänd—
liche Verläumdung erklärte.
Mittlerweile vergrößerte ſich die Stadt langſam. Neue
Trinkſalons, Hötels und Stores entſtanden; eine Geſell—
ſchaft von Negro-Minſtrels (Neger-Minneſänger) machte
ihr Debut in Eldorado und man erwartete nächſtens vier
deutſche Hurdy-Gurdy⸗Tanzmädchen.
Als ich nach einem Aufenthalte von vier Wochen der
jungen Goldſtadt ein Lebewohl ſagte, zählte ſie bereits acht
und zwanzig Häuſer.
Der Morgen des 15. April 1868, an dem ich Eldo—
rado City wieder verließ, um über die öſtlichen Ausläufer
der Blauen Gebirge zunächſt die nordwärts liegende Haupt—
landſtraße, welche von Idaho nach dem Columbia führt,
zu erreichen, verſprach einen ausnahmsweiſe ſchönen Tag.
Die ſchneegekrönten Gebirge, welche Eldorado umkränzen,
294
lagen fo heiter da im goldenen Sonnenſchein, daß ich bald
den grundloſen Schmutz und das naßkalte Wetter, Regen,
Sturm und Schneegeſtöber, und wieder Regen und Hagel,
Froſt, Glatteis, Wirbelwinde, Stoßwinde und alle Sorten
von pöbelhaften Sturmwinden vergaß, welche mir das Leben
in jenem wüſten Goldhafen ſo verbittert hatten. Freundlich
warf ich der Bretterbude, worin ich in der berühmten Gold—
ſtadt gewohnt, und allen anderen Bretterhäuſern in Eldo—
rado City einen Abſchiedsgruß zu und ſetzte mich in einen
„Käfig“, eine Art von ſehr primitiver Poſtkutſche, welche
mich nach dem Burntfluſſe bringen ſollte.
Dreißig engliſche Meilen vor uns erhob ſich der ſchnee—
gekrönte eiſengepanzerte Berg (Ironside Butte), der höchſte
Berg in der Umgegend, welcher wegen der außerordentlich
klaren Luft aber kaum ein paar Stunden entfernt zu ſein ſchien.
Die Quellen des Willow Creek und des Malheur
(ein Nebenfluß des Snake, des ſüdlichen Hauptarmes des
Columbia) liegen an ſeinen waldigen mit Eiſengeſtein
bedeckten Abhängen. Die niedrigeren Hügel, über welche
die Straße hinführte, waren mit aſchfarbigem Salbei—
Geſtrüpp bedeckt; zwiſchen demſelben zerſtreut ſtand junges
in Büſcheln wachſendes Gras (bunch grass), welches für
das Vieh ein außerordentlich nahrhaftes Futter giebt, weß—
halb dieſe auf den erſten Anblick ſo troſtlos ſcheinende Ge—
gend als Weidegrund ſehr geſchätzt wird.
Mein Sitz im „Käfig“ war höchſt unbequem. Der
vielfach zerriſſene Grund war hart gefroren, und ich, als
einziger Paſſagier in dem federloſen Wagen, der ſich faſt
fortwährend in lebhaften Sprüngen bewegte, ward in ihm
hin⸗ und hergeworfen, daß mir beinahe Hören und Sehen
verging.
Wir fuhren zunächſt am goldhaltigen Shaſtabach hin
und kehrten dem „eiſengepanzerten Berge“ bald den Rücken
295
zu. Ab und zu kamen wir an Minerhütten vorbei, wo die
Goldwäſcher eben ihre Morgentoilette vollendeten. Mancher
derſelben warnte uns vor Indianern, welche die Gegend
unſicher machten, und die ſich erſt in der vergangenen
Nacht in der Nähe gezeigt hätten. Dieſe unwillkommene
Nachricht veranlaßte mich bei der erſten Halteſtation, wo
ein zweiter Paſſagier einſtieg, dieſem das Coupé freund—
ſchaftlich zu überlaſſen, und mit meiner Hinterladungs—
büchſe bei dem Kutſcher auf dem Bock Platz zu nehmen,
wo ich eine freie Umſchau hatte und, im Fall eines Ren—
contre's mit den „edlen Rothhäuten“ (noble red men, wie
man in Amerika die Indianer gerne nennt), meine Waffe
mit mehr Präciſion als im „Käfig“ anwenden konnte.
Auch ſtieß der Wagen hier wenigſtens erträglich.
Unſere nächſte Station war Amelia City, auch die
„neuen Diggings“ genannt, eine Minenſtadt von ſieben
Häuſern, die zwölf engliſche Meilen von Eldorado entfernt
liegt. Nach kurzem Aufenthalte ſagten wir der auf eine
glänzende Zukunft pochenden Goldſtadt Amelia Lebewohl,
und fuhren durch eine wilde Gebirgslandſchaft zunächſt
dem nur vier engliſche Meilen entfernten älteren Minen—
lager Mormon Baſin zu. Es war ein nagelneuer und
außerordentlich rauher Weg auf dem wir hinfuhren, und
unſer Poſtwagen das erſte Fuhrwerk irgend welcher Art in
dem Reiſende auf dieſer Straße von Eldorado City nach
dem Burntfluſſe befördert wurden.
Als wir höher ins Gebirge hinaufſtiegen, kamen wir
durch ſtattliche Fichten- und Kiefernwaldungen, und der faſt
überall noch tief liegende Schnee gab der Landſchaft ein
recht winterliches Anſehen. Am wildbrauſenden Mormon—
bach, deſſen Lauf wir entgegenfuhren, trafen wir hier und
da Goldwäſcher, die mit Picke und Schaufel fleißig bei der
Arbeit waren. Hohe Waſſerleitungen und lange Gold—
296
waſchrinnen und die zwiſchen loſen Felsblöcken und um—
geſtürzten Nadelhölzern in Gräben und Holzrinnen wild
daher rauſchenden Minenwaſſer, der unterſt zu oberſt ge—
wühlte Boden, die wüſten Sand- und Schutthaufen und
die Berge von loſen reingewaſchenen Steinen gaben un—
verkennbare Zeichen, daß der blanke Mammon in dieſen
Thalſchluchten verborgen lag. |
Die aus etwa zwanzig Bretterhäuſern beſtehende alte
Minenſtadt „Mormon Baſin City“, welche ſich uns durch
den Tannenwald flüchtig zeigte, eine halbe engliſche Meile
zur Linken laſſend, durchkreuzten wir, über Schneefelder
und im Schatten ſtattlicher Nadelhölzer hinfahrend, den
romantiſchen Thalkeſſel gleichen Namens, welcher durch ſeinen
Goldreichthum berühmt geworden iſt.
Die Goldlager von Mormon Baſin wurden im Jahre
1864 entdeckt, und haben unter den Goldjägern im öſt—
lichen Oregon noch immer einen guten Ruf. Das dortige
Gold iſt meiſtens grobkörnig und hat einen Werth von
164 Dollars die Unze. Man hat Stücke Gold dort ge—
funden, die einen Werth von 400 bis zu 600 Dollars
hatten; kleinere Stücke von 5 bis zu 10 Dollars an Werth
ſind etwas ſehr Gewöhnliches. Einzelne ſogenannte „Neſter“
(pockets) haben ihre glücklichen Beſitzer ſchnell reich ge—
macht. Leider finden die Goldwäſcher in Mormon Baſin
(es ſind etwa hundert dort) nur auf zwei Monate im
Frühjahr Beſchäftigung, da der zum Goldauswaſchen
nöthige Waſſervorrath ſich auf das Schneewaſſer beſchränkt,
und der Thalkeſſel zu hoch liegt, um einen Waſſerlauf, wie
den Burntfluß, vermittelſt Gräben herleiten zu können.
Einzelne Minenbeſitzer im Mormon Baſin reiſen jedes Jahr,
ſobald das Waſſer verſiegt, nach San Francisco und ſogar
nach den öſtlichen Staaten Amerika's, und kehren im Frühjahr
nach Oregon zurück, um hier ihre Finanzen aufzubeſſern.
297
Sobald wir Mormon Baſin verließen, kamen wir
wieder in eine öde, von allem Baumwuchs entblößte Ge—
birgsgegend, der jeglicher landſchaftlicher Reiz fehlte, bis
wir das zehn engliſche Meilen von Amelia City liegende
Rye Valley (Roggenthal) erreichten. Daſſelbe führt ſeinen
Namen nach dem hier in Menge wild wachſenden ſoge—
nannten „Roggengras“ (Lolium perenne), eine für das
Vieh beſonders nahrhafte Grasart mit roggenähnlichen Hal—
men. Roggen oder ſonſtiges Getreide wird dort nicht gebaut.
In Rye Valley liegt eine nicht unanſehnliche Minen—
ſtadt gleichen Namens, die ſehr zerſtreut gebaut iſt, eine
Schweſterſtadt von der in Mormon Baſin. Die Häuſer
ſahen aus, als ob ſie hintereinander herliefen, um möglichſt
ſchnell aus dem goldenen Roggenthale herauszukommen, wobei
einige von ihnen offenbar das Gleichgewicht verloren hatten.
Die Minen in Rye Valley find meiſtens „Hill Dig—
gings“, d. h. das Gold wird aus dem Innern der Berge
gewonnen, die voll find von Tunnels und Schachten.
Helle Schutthaufen lagen vor den ſchwarzen Oeffnungen
der Goldminen an den Bergen, und meilenlange Gräben,
in denen das zum Auswaſchen der goldhaltigen Erde nöthige
Waſſer nach den Minen geleitet wird, zogen ſich wie dunkle
Linien über einander an den Abhängen hin. Viele der
Rye Valley-Goldminen werden mit hydrauliſchen Preß—
ſtrömen bearbeitet, von denen es zweiundvierzig in dieſem
Minendiſtricte giebt. Das in Rye Valley gefundene Gold
ſteht an Feine, in Folge einer Beimiſchung von Silber dem
von Mormon Baſin bedeutend nach, und hat einen Werth
von nur 14 Dollars die Unze.
Wir verließen Rye Valley in einem heftigen Schnee—
geſtöber, und fuhren mühſam die jenſeits deſſelben liegende
ſteile Höhe hinan, die Waſſerſcheide zwiſchen den Gewäſſern
des Willow Creek und des Burntfluffes,
298
Auf der Höhe überraſchte uns ein prächtiges Gebirgs—
panorama. Die Sonne kam wieder hell zum Vorſchein,
und beleuchtete herrlich das uns jetzt im Rücken und tief
unter uns liegende Rye Valley. Vor uns im Norden
hoben ſich die ſchneegekrönten Gipfel der goldreichen Hoch—
gebirge am Adlerbach (eagle creek mountains), über vier—
zig engliſche Meilen entfernt, jenſeits des Burntfluſſes in
den wolkenſchwangeren Aether; zwiſchen uns und ihnen lag
eine wilde Gebirgslandſchaft von wimmelnden, über ein—
ander gethürmten Bergkuppen, hier und da mit ſchwarzen
Waldungen an den Abhängen und mit ſchneegekrönten
Scheiteln. Ein Schneeſturm, der unter wechſelnder Be—
leuchtung über die urwilde Gebirgslandſchaft zog, belebte
gleichſam das großartig romantiſche Gemälde.
Schnell fuhren wir jetzt bergab und entgegen dem Burnt—
fluſſe, durch lange und eng gewundene Caſüons, welche dicht auf
einander folgten. Eine dieſer Bergſchluchten, wo die nackten
Felſen rechts nahe am Wege mehrere hundert Fuß hoch
emporragten, ſchien für einen Hinterhalt wie gemacht, und
wir hatten an dieſer Stelle ein beſonders wachſames Auge
auf unſere Todfeinde, die Indianer, welche die Gegend nicht
ſelten durchſtreifen.
Bei den meiſten Indianerüberfällen können die Rei—
ſenden von Glück ſagen, wenn ſie mit dem Leben davon
kommen. In der Regel ſchießen die „edlen Rothhäute“,
wo man es am allerwenigſten erwartet, aus unangenehmer
Nähe hinter einem Felſen hervor auf die unbeſorgt vor—
beiziehenden Goldtouriſten. Eine Vertheidigung iſt in ſol—
chem Falle ſelten möglich. Wen eine Büchſenkugel oder ein
leicht geflügelter Pfeil trifft und hinſtreckt, der iſt ver—
loren. Seine glücklicheren Kameraden können ſich um ſeine
Rettung nicht bekümmern; ſie werden ſich auf das erſte
beſte Pferd werfen, das ſie aus dem Geſchirr loszuſchnei—
—
299
den vermögen, und ſofort das Weite ſuchen. Viele der
Packthier-Karavanen, welche von und nach den Minen
ziehen, reiſen bei Nacht, da alsdann von den Indianern
weniger zu befürchten iſt. Die gefährlichſte Stunde iſt für
den Reiſenden in dieſen Gegenden allemal die beim erſten
Morgengrauen, und neun Zehntheile aller Indianerüber—
fälle finden ſtatt, wenn die Goldtouriſten eben ihre Morgen—
toilette beginnen.
Kurz zuvor, ehe ich dieſe Reiſe unternahm, langte die
Kunde in Eldorado City an, daß eine Bande von Schlangen—
Indianern 25 Pferde am Payettefluß geſtohlen und ſich in
der Richtung nach dem Burntfluſſe mit ihrer Beute aus
dem Staube gemacht hätte. Da die Möglichkeit nahe lag,
daß uns dieſe Bande in die Quere kommen könnte, ſo
waren wir doppelt wachſam und gerüſtet, jeden Augenblick
das Haſenpanier zu ergreifen. Mit nur zwei Pferden und
drei Mann im Wagen, fühlte ich mich beim Kutſcher auf
dem Bock ungleich ſicherer als im Coupé des „Käfigs“,
deſſen Inhaber bei einem Ueberfall der Indianer wohl zu
Fuß hätte retiriren müſſen, da der Kutſcher und meine
Wenigkeit für einen ſolchen Caſus die beiden Gäule bereits
für uns appropriirt hatten.
Die Gegend behielt bis zum Burntfluß ihren wilden
Anſtrich. Ein paarmal lag der Fahrweg auf längeren
Strecken der Caſions inmitten eines rauſchenden Wald—
bachs, in deſſen Bette wir uns einen Weg ſuchen mußten,
da am Ufer nicht Raum genug für eine Straße war. Oefters
begegneten wir langen Zügen von Schlachtvieh und Pack—
thieren und von Goldjägern zu Fuß und zu Roß, jeder
mit einer Wollendecke und Büchſe auf der Schulter, die
alle nach den Goldminen von Willow Creek unterwegs
waren. Die felſigen Caſions hallten wieder von Peitſchen—
knallen, Singen, Hurrah und Flüchen, wozu das Gebrüll
300
der bunten Rinder die Begleitung gab; nur ein Angriff
der Rothhäute und ihr dem Hundegebell ähnliches Kriegs—
geſchrei fehlte in dem betäubenden Wirrwarr thieriſcher und
menſchlicher Laute, um die Situation eminent intereſſant
gemacht zu haben.
Endlich lagen die fatalen Cafions hinter uns und wir
hatten den Burntfluß erreicht, der hier in einer breiten
Niederung unter Weidengebüſch hinfloß. Dreißig engliſche
Meilen weiter oberhalb liegen an ihm reiche Goldminen,
wo bereits dreißig Dollars werth Goldſtaub aus einer Gold—
waſchſchale gewonnen wurde. Jenſeits des Burntfluſſes
lagen ein paar Ranchos (Gehöfte), ſonſt war die Gegend
öde und von allem Baumwuchs oder Anzeichen von Cultur
entblößt.
Nach einer luſtigen Fahrt von etwa drei engliſchen
Meilen, immer im geſtreckten Galopp am Ufer des Burnt—
fluſſes herjagend, wobei ſich der „Käfig“ auf dem ſteinigen
Wege dermaßen in halsbrechenden Sätzen und Seiten—
ſchwenkungen erging, daß ich mich nur mit größter Mühe
am Kutſcherbock feſtzuklammern vermochte, überſchritten wir
den nicht unanſehnlichen ſchnell ſtrömenden Burntfluß auf
einer wackeligen Holzbrücke, und langten gegen Mittag, 35
engliſche Meilen von Eldorado City, bei der ſogenannten
Expreß Ranch an, einem Wirthshauſe, das an der großen
Poſtſtraße liegt, welche von Idaho nach der Stadt Umatilla
am Columbia führt.
Mein Ausflug nach Willow Creek fand hier ſeinen Ab—
ſchluß, da ich zunächſt über die Blauen Gebirge nach meiner
alten oregoniſchen Heimath The Dalles am Columbia
reiſen wollte. Möge es den Eldoradoern recht nach Wunſch
ergangen und Jeder von ihnen mindeſtens ein Billionär
geworden ſein!
3. Ein Capitel über die Hurdy⸗Gurdys
(ein Vermächtniß deutſcher Kleinſtaaterei).
In den vorherſtehenden Skizzen iſt öfters der Name
„Hurdy-Gurdys“ vorgekommen, der wohl einer etwas näheren
Auseinanderſetzung bedarf. Als der Verfaſſer um die Mitte
der ſechsziger Jahre ſein Domicil in den Minenlagern von
Idaho und Oregon aufgeſchlagen, kam ihm eine in der
„Gartenlaube“ veröffentlichte Erklärung der naſſauiſchen Poli—
zeibehörde über die Hurdy-Gurdys zu Geſicht, welche ihn ver—
anlaßte, einen längeren Artikel für jenes Blatt zu ſchreiben,
worin das ſchmachvolle Treiben dieſer den deutſchen Namen
auf das Aergſte compromittirenden deutſchen Tanzmädchen
öffentlich an den Pranger geſtellt wurde. Ich laſſe jenen
in Nr. 20 des Jahrgangs 1865 der Gartenlaube ver—
öffentlichten Aufſatz unverändert wieder zum Abdruck kommen,
da derſelbe ein klares Bild über die Hurdy-Gurdys vor
Augen ſtellt und zugleich einen Rückblick in die Zeit der
deutſchen nationalen Zerriſſenheit giebt, welche der Haupt—
grund zu einem ſchmählichen Menſchenhandel war, den alle
Beſchönigungen deutſcher kleinſtaatlicher Polizeidirectionen
nicht wegzuläugnen vermochten.
„In Nr. 48 des Jahrgangs 1864 der Gartenlaube
ſteht eine Erklärung der herzoglich naſſauiſchen Polizei—
direction, als Antwort auf einen in früheren Nummern der
Gartenlaube unter dem Titel: „Deutſcher Menſchenhandel
der Neuzeit“ abgedruckten Artikel.
302
Ohne auf den Inhalt dieſer polizeilichen Erklärung
näher einzugehen, erlaubt ſich Unterzeichneter, der Redaction
der auch in dieſem entlegenen Erdenwinkel vielfach geleſenen
Gartenlaube ebenfalls eine Erklärung über beſtehende ſociale
Verhältniſſe, und zwar aus dem nordamerikaniſchen Unions—
ſtaate Oregon, zur Benutzung zuzuſenden. Die darin an—
geführten unwiderleglichen Thatſachen werden der Polizei—
direction des Herzogthums Naſſau den Standpunkt eines
Theils ihrer Landeskinder im Auslande hoffentlich ſonnen—
klar machen — nicht nur, wie er „in einer ſeit Decennien
hinter uns liegenden Vergangenheit geweſen“, ſondern noch
heutzutage, anno Domini 1865, factiſch iſt.
Um nun zunächſt dieſe Facta etwas näher zu beleuch—
ten, ſo muß ich wohl vor Allem erklären, was der Name
Hurdy⸗Gurdys eigentlich bedeutet. Jahr aus Jahr ein
möchte ich dies Wort über den halben Erdball hinüberrufen,
damit Deutſchland zur vollen Erkenntniß dieſes argen Brand—
mals am deutſchen Namen gelange und die Stimme des
Volkes wach werde, um die Miſſethäter, wer ſie auch im—
mer ſein mögen, zur Verantwortung zu zwingen; denn nur
ſo kann dieſem Schandfleck am deutſchen Namen gründlich
abgeholfen werden. Ich will es Euch, deutſche Mütter,
Euch, Töchter des großen, gebildeten Deutſchlands, ganz
leiſe in's Ohr raunen — wenn auch die Scham ob der
Entehrung des deutſchen Namens Euch beim Anhören des
ungern Geſagten die Wangen blutroth färbt — ganz leiſe,
damit die hochlöbliche Polizei es ja nicht höre und mir
ſtracks verbiete, den Mund weiter zu öffnen und mehr da—
von zu reden: Hurdy-Gurdys iſt der verächtliche Name für
deutſche Tanzmädchen in den zahlreichen Minenſtädten
von Californien, Nevada, Oregon, Idaho, Waſhington und
Britiſh Columbia, die wie Waare von grundſatzloſen Menſchen—
händlern an den Meiſtbietenden verdingt werden, um den
303
„biederen Goldgräbern“ das Herz und den Geldbeutel
leichter zu machen; die jegliches Schamgefühl verlernt zu
haben ſcheinen und doch mit der Tugend kokettiren und die
Haupturſache der in beſagten Minenſtädten faſt tagtäglich
vorfallenden blutigen Schlägereien, Stech- und Schießaffairen
ſind, welche nicht ſelten Mord und Todtſchlag im Gefolge
haben, — deutſche Tanzmädchen „aus Naſſau krom the
Rhine““, wie ich's mit eigenen Augen, ohne Brille, in den
hieſigen Hötelregiftern in eleganter Originalhandſchrift mehr—
fach geleſen habe. Was ſagen die Herren von der Naſſauer
Polizei dazu? Iſt auch das unwahr?
Wenn nun allerdings das Herzogthum Naſſau auch
den Löwenantheil an der Ausfuhr von Hurdy-Gurdys beſitzt,
ſo muß ich zur Beruhigung der dortigen Polizeibehörde doch
noch erwähnen und der Wahrheit die Ehre geben, daß Darm—
ſtadt namentlich in letzten Jahren gleichfalls manche ſchmucke
Hurdys geliefert hat — daß eine Darmſtädter Hurdy-Gurdy—
Geſellſchaft z. B. gegenwärtig in Dalles in Oregon Gaſt—
rollen giebt — und der ganze an den Mittelrhein grenzende
deutſche Kleinſtaatencomplex mehr oder weniger Hurdy—
Gurdy-Delegaten nach Amerika ſendet. Weder der Ober—
noch Unterrhein, weder Süd- noch Norddeutſchland liefern
Hurdy-Gurdys, alle kommen dieſe vom Mittelrhein dem
geſegnetſten Theile, dem Paradieſe Deutſchlands.
Das Hauptquartier und Centraldepot ſämmtlicher Hurdy—
Gurdys iſt in San Francisco, wohin gelegentlich durch ge—
wiſſenloſe Menſchenhändler neue Recruten, direct „from the
Rhine““, importirt werden. Den jungen, lebensluſtigen Dir-
nen am alten Vater Rhein werden von dieſen Seelenverkäufern
höchſt verführeriſche Bilder von dem freien und ungebundenen
Leben und den leicht zu erwerbenden Schätzen in den herrlichen
Goldlanden am ſtillen Meer vorgeſpiegelt, um fie zum Aus—
wandern zu bewegen, und das Reſultat der Unterhandlung iſt,
304
daß beſagte Menſchenhändler es übernehmen, die verführten
Mädchen frei bis nach San Francisco zu befördern, wogegen
dieſe ſich contractlich verpflichten, das ihnen vorgeſchoſſene
Reiſegeld nach Ankunft an den goldenen Geſtaden zurück—
zuzahlen, d. h. abzutanzen. Dieſe Contracte haben nun
allerdings weder in Deutſchland noch in Amerika geſetzliche
Gültigkeit, werden aber trotzdem ohne Ausnahme von den
in der Fremde ganz verlaſſen daſtehenden Mädchen erfüllt.
Vom Hauptquartier in San Francisco aus werden die
Mädchen, welche je nach ihrer Schönheit verſchiedene Preiſe
haben, an die Hurdy-Gurdys-Salonbeſitzer vermiethet und
bleiben ſo lange an das Centraldepot gebunden, bis ſie die
ihnen vorgeſchoſſenen Summen, welche ſich durch Bekleidung,
Beköſtigung ꝛc. fortwährend vermehren, abverdient, d. h.
abgetanzt haben. Wenn ſie endlich auf freien Füßen tanzen
können, ſo reiſen ſie auch wohl in kleinen Tanzgeſchwadern
von je drei bis ſechs tanzenden Mitgliedern unter dem
Commando einer im Handwerk ergrauten älteren Hurdy
— von den Goldgräbern mit dem Namen bell mare be—
zeichnet, d. h. Glockenſtute, die einen Zug Pferde anführt
— auf eigene Speculation durch's Land. Zu dieſer Claſſe
gehören meiſtens die in Oregon und Idaho Gaſtrollen ge—
benden Hurdy-Gurdys, welche ſich vom Centraldepot in
San Francisco emancipirt haben.
Ich habe blutjunge Hurdys geſehen, die kaum zwölf
Sommer zählten, und andere in der Blüthe der Jung—
frauenjahre, welche die Roſenzeit ihres Lebens buchſtäblich
vertanzen und ſpäterhin, wenn die Blüthen verwelken und
abfallen, auf den Stufen des Laſters ſchnell hinunterſteigen
in ein Land, von wo keine Rückkehr in ehrliche Geſellſchaft
mehr iſt, falls es ihnen nicht gelingt, durch Extrakniffe
ſo einen halbblinden Goldvogel noch bei Zeiten im Ehe—
netze einzufangen.
305
Die Bellmares und Salonbeſitzer holen ab und zu
friſche Zufuhr von San Francisco, wenn den Goldgräbern
die veraltete Waare nicht mehr gefällt, wogegen das Haupt-
depot in San Francisco ſich wieder von Deutſchland aus
ergänzt, und ſo pflanzt ſich dieſer ſchmachvolle Menſchen—
handel ungeſtört fort. In San Francisco iſt es den dort
anſäſſigen zahlreichen Deutſchen gelungen, ein Verbot gegen
die Hurdy⸗Gurdy⸗Salons in der Stadt — nicht im Staate
Californien — zu bewirken. Gleichzeitig wurde das Spielen
mit Tambourins auf den Straßen, welches früher von den
Mädchen bei Tage als Nebengeſchäft betrieben ward, ſtrenge
unterſagt und ein Verbot gegen die öffentlichen Spielhöllen
im Staate Californien durchgeſetzt. Die Folge davon iſt
geweſen, daß ſich die Hurdys in San Francisco in ſoge—
nannte „Pretty Waiter Girls“ — hübſche Kellnermädchen,
wie ſie ſich öffentlich annonciren — verwandelt haben, was
faſt ſo ſchlimm iſt als ihr früherer Beruf, oder daß die
vom Geſetze grauſam verfolgten Hurdys nach den angren—
zenden Staaten ausgewandert ſind, wo öffentliche Spiel—
höllen und Hurdy-Gurdy-Salons geſetzlich nicht unter—
ſagt ſind.
Hier in Oregon bemüht man ſich jetzt, dem Beiſpiele
San Francisco's zu folgen, namentlich um den Gold—
gräbern die Gelegenheit zu nehmen, ihr ſchwer erworbenes
Gold gleichſam zum Fenſter hinauszuwerfen. Ein directes
Verbot gegen die Hurdy-Gurdy-Salons iſt jedoch bis jetzt
noch nicht erlaſſen worden, was auch nach hieſigen Ge—
ſetzen, die gänzliche Gewerbefreiheit garantiren, nicht gut
möglich iſt.
Daß das Hurdy-Geſchäft ein ſehr einträgliches ſein
muß, iſt ſchon aus der enormen Steuer erſichtlich, welche
die Salonbeſitzer, die ſich natürlich durch die Mädchen wie—
der ſchadlos halten, ohne beſondere Mühe zu zahlen im
20
306
Stande ſind. Wer jedoch die Extravaganz der hieſigen
Minenbevölkerung kennt, den wird es ſicherlich nicht wun—
dern, daß das Hurdy-Geſchäft eine Steuer von hundert
Dollars und auch wohl die dreifache Summe im Monat
ſo leicht aufzutreiben vermag, ohne Bankerott machen zu
müſſen.
Tauſende von Bergleuten arbeiten jahraus, jahrein
jede Woche ſechs Tage lang vom frühen Morgen bis zum
Abend in den Minen, um allnächtlich und namentlich am
Sonntag ihr ſchwer erworbenes Gold in den Hurdy-Gurdy—
Häuſern wieder fortzuſchleudern. Die Folge davon iſt,
daß, obwohl die meiſten dieſer Minenarbeiter verhältniß—
mäßig reich ſein ſollten, es doch zu einer großen Selten—
heit gehört, einen unter ihnen zu finden, der ſich eine nur
einigermaßen anſehnliche Summe erübrigt; eben weil ſie
ihr Geld in den Hurdy-Gurdy-⸗Salons ſo ſchnell verjubeln,
wie ſie es verdient haben.
In enger Verbindung mit den Hurdy-Gurdy-Salons
ſind Trinkſtände, an denen die Tänzer ihre Schönen nach
jedem Tanze mit einer Herzſtärkung tractiren, zu einem
viertel oder halben Dollar den Schluck, wovon das Mäd—
chen die Hälfte und der Salonbeſitzer die andere Hälfte
bekommt. Von den Mädchen erhält alſo jede einen viertel
oder halben Dollar für den Tanz, und außerdem machen ſie
es ſich zur Regel, den in Glückſeligkeit ſchwimmenden Gold—
gräbern Ringe, Schmuckſachen und, wo's geht, baares
Geld abzukoſen, ſo daß ſich das Geſchäft im Allgemeinen
recht gut lohnt.
Dann ſind öffentliche Spiellocale in nächſter Nähe,
wo mit falſchen Würfeln und ſonſtigen ſcharfſinnigen Schwin⸗
deleien den vom Tanz und ſchlechten Getränken erhitzten
Miners der Reſt ihres Klein- und Großgeldes in der Ge—
ſchwindigkeit abgenommen wird.
307
Das Merkwürdigſte bei dieſer Hurdy-Gurdy-Wirth⸗
ſchaft iſt, daß ſämmtliche Hurdys „from the Rhine“ find,
und daß die leichtfertigen Schönen anderer Nationalitäten
den Naſſauerinnen und Heſſinnen bei dieſem profitablen Ge—
ſchäftchen nicht in's Handwerk greifen. Aber ſo iſt es in
der That; und die Töchter von Frankreich, von Irland,
England, Spanien, Amerika und Mexico und andern Län—
dern treten beſcheiden zur Seite und bedanken ſich ganz ge—
horſam für dieſen Ehrenpoſten.
Man trete einmal hinein in ſolch einen Hurdy-Gurdy⸗
Salon und man wird zugeben, daß es dem Nationalſtolze
anderer Völker zur Ehre gereicht, den Deutſchen in dieſem
Geſchäfte den Rang nicht ſtreitig zu machen! Halbange—
trunkene, rohe Goldgräber, theilweiſe in Hemdärmeln und
mit dem Hute auf dem Kopfe, mit geladenen Revolvern
und langen Meſſern im Gürtel und die Hoſen meiſt in die
Stiefelſchäfte geſteckt, zerren die Mädchen im Tanze umher
und ſtoßen ſich dieſelben mitunter gegenſeitig zu, trinken
mit ihnen vergiftete Getränke, führen ſchmutzige Reden und
erlauben ſich alle möglichen handgreiflichen Freiheiten und
Frechheiten, wofür ſie ja zahlen — zahlen, mit blankem
Golde! Goldene Schätze rollen ſo den Hurdys in den
Schooß — ſelbſtverſtändlich zum größten Theil zum Nutzen
der Seelenverkäufer und Salonbeſitzer.
Man wird an dieſer ganzen Küſte kaum eine Minen⸗
ſtadt — a mining eamp — finden, in der es nicht ein
oder zwei, oft drei bis vier ſolcher Hurdy-Gurdy-Häuſer
giebt, — hier in Dalles gegenwärtig drei — was der
Verfaſſer dieſer wahrheitsgetreuen Schilderung nicht blos
von Hörenſagen weiß, ſondern mit eigenen Augen geſehen
hat, da er nicht nur in Oregon, ſondern auch in Califor⸗
nien und Nevada ziemlich weit herumgekommen iſt. Wie
groß die Zahl ſolcher verwahrloſten Mädchen an dieſer
20 *
308
Küſte iſt, läßt ſich ſchwer ermitteln; doch würden die naſſaui⸗
ſchen und heſſiſchen Polizeibehörden höchſt wahrſcheinlich
die Augen vor Erſtaunen weit aufthun, wenn ſie die nackte
Wahrheit zu hören bekämen!
Die einzige Möglichkeit, dieſer den deutſchen Namen
ſchändenden Hurdy-Gurdy-Wirthſchaft zu ſteuern, iſt, die
neue Zufuhr von Mädchen aus Deutſchland zu
verhindern. Den Mädchen, die, leider Gottes, einmal hier
ſind, kann nicht geholfen werden. Man hat es wiederholt
verſucht, dieſelben als Hausmädchen mit einem Monats—
lohn von dreißig bis vierzig Dollars zu engagiren; das
wilde Leben iſt ihnen aber ſo zur andern Natur geworden,
daß ſie alle derartige Anerbieten rundweg abgeſchlagen haben.
Die Mitglieder eines Comités in San Francisco,
welches dieſes zu bezwecken ſuchte, ſind zum Dank für ihre
menſchenfreundlichen Bemühungen ſogar wiederholt von den
Seelenverkäufern nächtlicher Weile verfolgt, niedergeſchlagen
und mißhandelt worden, fo daß man zuletzt alle ferneren
Schritte zum Wohl der Mädchen, als gänzlich nutzlos, ein—
geſtellt hat und die Menſchenhändler ihre Schandwirthſchaft
nach wie vor ungeſtört treiben, mit der ſchon gedachten
alleinigen Ausnahme, daß die Hurdy-Gurdy-Häuſer in San
Francisco ſelbſt unterdrückt ſind.
Da die Tanzmädchen jedoch ſämmtlich in kurzer Friſt
durch Alter und das allnächtliche Schwärmen abgenutzt ſein
werden, ſo müßte die ganze Hurdy-Gurdy-Wirthſchaft all⸗
mählich von ſelber aufhören, wenn nur der ferneren Zu—
fuhr von Deutſchland Schloß und Riegel vorgeſchoben wer—
den könnte. Und dieſes iſt es eben, worauf der Verfaſſer
dieſer ungeſchminkten Enthüllungen die betreffenden deutſchen
Regierungen und das deutſche Volk ſelber hinleiten möchte, daß
ſie nicht die Hände in den Schooß legen und über die Schlech—
tigkeit der Welt lamentiren, ſondern zur That ſchreiten.
309
Hier im goldenen Oregon würde man einen ſolchen
Seelenhändler, der von hier aus amerikaniſche Mädchen als
Tanzwaare exportiren wollte, wegen beleidigter Nationalehre
ganz einfach „lynchen“, theeren und federn, todtſchießen,
todtſtechen, aufhängen, todtprügeln — je nachdem. Wenn
dieſe bewährten Mittel nun allerdings für Deutſchland
nicht zu empfehlen ſind, ſo giebt es doch wohl noch andere,
um dergleichen Schurken unſchädlich zu machen.
Genug aber von dieſer Schmach des deutſchen Namens,
die jedem ehrlichen Deutſchen, den ſein Lebensloos auf dieſe
Scholle fremder Erde geworfen, die Schamröthe in's Ge—
ſicht treibt! Möge dieſe wahrheitsgetreue Darſtellung von
Thatſachen, die wahr bleiben, trotz aller ihnen widerſprechen—
den „Erklärungen“, endlich den ſie betreffenden deutſchen
Regierungen die Augen öffnen, damit ſie energiſche Schritte
thun, dieſem Menſchen- und Seelenhandel ein Ende zu
machen; denn aufhören wird er und aufhören muß er, oder
Deutſchland wird die Achtung im Auslande, mit der es
leider einmal nicht eben glänzend beſtellt iſt — Dank ſei
es der inneren Zerriſſenheit und der ungenügenden natio—
nalen Vertretung in fremden Ländern — mit der Zeit noch
gänzlich verlieren.
Dalles im Staate Oregon, Ende Februar 1865.
Theodor Kirchhoff.“
+ 5 +
Soweit jener mein Erftlings-Artifel in der „Garten⸗
laube“, der ſeiner Zeit eine gewaltge Aufregung unter den
Polizeidirectionen deutſcher Kleinſtaaten verurſachte. Für
mich hatte derſelbe, außer dem zufrieden ſtellenden Bewußt—
ſein, jenen Ehrenmännern einmal ein recht helles Licht der
Selbſterkenntniß angeſteckt zu haben, noch das Angenehme
310
im Gefolge, daß ich — auf Anregen der verehrlichen Re—
daction der Gartenlaube — mich bewogen fühlte, auf dem
einmal eingeſchlagenen Wege zu beharren, meine Muße—
ſtunden mit literariſchen Arbeiten auszufüllen. Manche Freude
iſt mir dadurch zu Theil geworden, die mir mein Leben
in Amerika verſchönert hat! Daß ich dieſes in erſter
Linie den von mir ſo grauſam verfolgten Hurdy-Gurdys zu
verdanken habe, iſt einer jener ſeltſamen Zufälle, welche
oft das Leben und Thun eines Menſchen in ganz neue
Bahnen lenken.
Was nun die Hurdy-Gurdys anbelangt, ſo hat die
neuere Zeit den früher offen getriebenen Menſchenhandel
durch das erwachte deutſche Nationalbewußtſein von ſelbſt
unmöglich gemacht. Von einer ſyſtematiſchen Importation
deutſcher Mädchen nach San Francisco zu den in obigem
Artikel geſchilderten Zwecken, iſt heute nicht mehr die Rede.
Allerdings findet man noch in den meiſten Minenlagern an
dieſer Küſte Hurdy⸗Gurdy⸗Häuſer, und in San Francisco
trifft man mehr rheinländiſche Polkamädchen in den Keller—
höhlen, als einem guten Deutſchen lieb iſt — aber die
meiſten jener Tanzmädchen ſind „veraltete Waare“, ſo zu
ſagen ein Vermächtniß deutſcher Kleinſtaaterei.
Bilder aus dem Süden,
(1866 — 1870.)
1. Der Nicaragua Tranſit.
Ehe die Pacifiecbahn gebaut war, gab es drei Reiſe—
routen von San Francisco nach den „Staaten“: die eine
Ueberland mit der Stagekutſche und die beiden andern zur
See, über Panama oder Nicaragua. Als ich im November
1865 von Californien nach Texas reiſen wollte, wohin
dringende Geſchäftsangelegenheiten mich riefen, wählte ich,
da ich oft ſchon von der wundervollen Scenerie von Nica—
ragua gehört hatte, die Linie der (jetzt eingegangenen) „Nica—
ragua Tranſit Compagnie“, die ſogenannte „Oppoſitions⸗
linie“. Die Agenten der regulären „Panama-Linie“ warn⸗
ten allerdings vor den Beſchwerlichkeiten des koſtſpieligen
Nicaragua Tranſits, auf dem die Paſſagiere ſich ſelbſt be—
köſtigen müßten, und oft ſchon hatte ich gehört, daß Rei—
ſende wochenlang dort aufgehalten worden und vielerlei
Unannehmlichkeiten ausgeſetzt geweſen waren, ehe ſie den
Tranſit hätten bewerkſtelligen können; — aber ich las in
den San Francisco Zeitungen, die Compagnie würde für's
Wohl der Paſſagiere muſterhaft ſorgen, und der San Juan
Fluß ſei voll von Waſſer, ſo daß unterwegs durchaus gar
kein Aufenthalt zu befürchten wäre. Innerhalb vierund—
zwanzig Stunden würde der Tranſit gemacht und — „no
extra charge for board on the Isthmus (keine Extra—
Vergütung für Lebensunterhalt auf dem Iſthmus)“.
Genug, ich dachte, ich könnte die Reiſe über Nicaragua
ſo gut wie die andern ſiebenhundert Paſſagiere, welche dieſe
314
Linie gewählt, riskiren, zahlte der „Central American
Tranſit⸗Compagnie“ Einhundert und fünfzig Dollars in
Gold für den beſten Platz auf ihrem beſten Dampfer, der
„Amerika“, und machte mich reiſefertig.
Es war am 13. November 1865, als unſer gutes
Schiff „Amerika“, welches vor der Abfahrt noch von eini—
gen geldgierigen Gläubigern der ſich faſt fortwährend in
pecuniären Verlegenheiten befindenden Tranſit-Compagnie
mit Beſchlag belegt war und nur mit Mühe eine Kleinig—
keit von neunzehn Tauſend Dollars gezahlt hatte, um freien
Abzug zu erhalten, — der Goldſtadt ein Lebewohl ſagte
und unter dem Zuruf der am Miſſion Street Wharf dicht
gedrängten Zuſchauer langſam in die offene Bai hinaus-
fuhr. Nachdem ſämmtliche Paſſagiere noch einer genauen
Billet⸗Reviſion unterworfen worden, bei welcher Gelegen—
heit, wie dieſes auf den California-Dampfern nichts Sel—
tenes iſt, mehrere billetloſe Subjecte, welche die Reiſe nach
den „Staaten“ umſonſt zu machen beabſichtigten, per Schub
in eines der uns begleitenden Boote transportirt wurden;
nachdem mehrere an Bord befindliche Poliziſten ſämmtliche
Paſſagier⸗Phyſiognomieen einer kritiſchen Examination unter-
worfen hatten, um zu ſehen, ob ſich nicht Galgenkandidaten
unter uns befänden, welche ſich der ſpeciellen Fürſorge von
Oncle Sam zu entziehen wünſchten, und nachdem der
Lootſe uns glücklich durch das ganz in Nebel gehüllte gol—
dene Thor geleitet; — verließen uns die billetloſen Paſſa⸗
giere und Lootſe, und wir brauſ'ten, uns ſelbſt überlaſſen,
luſtig gen Süden, dem Tropenkreiſe entgegeneilend.
Da es nicht der Zweck dieſer Skizze iſt, eine Be—
ſchreibung meiner Reiſe von San Francisco nach Central—
Amerika zu geben, ſo will ich nur kurz erwähnen, daß dieſelbe
im Allgemeinen eine recht angenehme, wenn auch ſehr langſame
war. Letzteres hatte ſeine Urſache darin, daß unſere Dampf⸗
315
keſſel von Altersſchwäche litten und nicht viel Dampfdruck
aushalten konnten, weshalb wir z. B. gezwungen waren,
auf der Höhe des Caps Corrientes einen halben Tag ſtille
zu liegen, damit eine ſchadhafte Stelle an einem der Dampf—
keſſel ausgebeſſert werden könne.
Sonſt ſtörte Nichts das Angenehme der Reiſe, deren
Gemüthlichkeit auf den Poſtdampfern des Stillen Meeres
ſprichwörtlich geworden iſt. Eine Schauſpielergeſellſchaft,
die ſich an Bord befand, unterhielt uns mit mimiſchen Vor—
ſtellungen und Concerten; bei Tage hatten wir das immer
wechſelnde Schauſpiel der wolkengekrönten Bergkette der
Cordilleren, welche ſich majeſtätiſch zu unſerer Linken in
den blauen Aether thürmte; auf dem Hurrican-Deck wurde,
als wir in wärmere Breiten kamen, faſt jeden Abend beim
hellen Lichte des Vollmondes getanzt; die lauen Tropen—
nächte waren himmliſch — Luna ſegelte in ſilberner Pracht
in den blauen Tiefen des unbewölkten Himmels, und malte
leuchtende Pfade über die dunklen Fluthen des friedlichen
Stillen Meeres, das die Flanken unſeres feuerſchnaubenden
Renners mit goldenen Funken umſpielte, indeß unterirdiſche
Feuer blitzende Lichter an den fernſten Gipfeln des in
Dunkel gehüllten mexikaniſchen Hochgebirgs anzündeten.
Am frühen Morgen des 27. Novembers liefen wir,
nach einer Fahrt von 2500 Seemeilen, in die kleine und
offene, von waldgekrönten Felſen umgebene Bucht von
San Juan (Huan) del Sur ein, und ankerten inmitten
derſelben. Jedermann an Bord war vor Allem begierig,
zu erfahren, ob der an der Oſtſeite des Iſthmus erwartete
Dampfer, der uns von Greytown nach New-York bringen
ſollte, bereits angelangt ſei; es war jedoch unmöglich, ir—
gend eine genaue Auskunft hierüber zu erhalten.
Um das Schiff ſchwärmte eine Menge von Ruderboten,
worin halb entkleidete Eingeborne uns mit Geſchrei und
316
lebhaften Pantominen zu überreden ſuchten, uns für einen
halben Dollar die Perſon ans Land rudern zu laſſen. Der
Wunſch, bald einmal wieder den Fuß auf feſten Boden zu
ſetzen, war zu ſtark, als daß wir den Aufforderungen der
Eingebornen hätten lange widerſtehen können, obwohl unſer
Capitän verſicherte, daß die Leichter des Dampfers uns
binnen Kurzem unentgeltlich an's Land bringen würden.
Es währte daher nicht lange, bis ein großer Theil der
Paſſagiere, worunter auch ich, ſich mit ihrem Handgepäck
an's Ufer rudern ließ, um den unbekannten Hafenort etwas
näher in Augenſchein zu nehmen.
San Juan del Sur verdiente kaum den Namen einer
Stadt, und war weiter nichts als ein Landungs-Depot der
Tranfit-Compagnie, in deſſen Nähe die Eingebornen eine
Anzahl von offenen, mit Ochſenfellen bedeckten Buden und
Baracken, für welche der Name Häuſer zu gut wäre, er-
richtet hatten, um daſelbſt von den Durchreiſenden für
Leckereien, Getränke, Cigarren, Kurioſitäten und dergleichen
mehr möglichſt viele Zehn-Cents-⸗ und Halbdollarſtücke zu
erhaſchen. Von Amerikanern und Deutſchen waren mehrere
Höteld und „Stores“ erbaut worden, welche recht gute
Geſchäfte machten. Wie es möglich ſein kann, in einem
ſolchen Platze, der nur einmal im Monat eine Verbindung
mit der äußeren civiliſirten Welt hatte, eine zufriedene
Exiſtenz zu führen, war mir ein Räthſel. Da den in
San Juan del Sur wohnenden Yankees und Deutſchen der
Platz jedoch zu gefallen ſchien und ſie Niemandem etwas
zu Leide thaten, ſo hatte natürlich auch Niemand ein Recht,
etwas gegen ihr Hierſein einzuwenden.
Zur Zeit unſerer Ankunft in San Juan befanden ſich
nur wenige Eingeborne im Ort. Die Mehrzahl derſelben
waren mit ihren Mauleſeln und Fuhrwerken nach der zwölf
engliſche Meilen von San Juan entfernten Stadt Virgin
317
Bay gezogen, wo fie auf die Paſſagiere des Nem-Morfer
Dampfers warteten, um dieſelben über Land nach San
Juan del Sur zu bringen.
Die Zeit bis zur Ankunft der Karavane von Virgin
Bay, welche unſer Capitän per Telegraph nach San Juan
beordert, verbrachte ich zum größten Theil auf der Veranda
des „California Houſe“, an deſſen Giebel ein Schild mit
den Worten „Deutſches Gaſthaus“ paradirte. Unſer Wirth,
Mr. Green, wie er ſich ſchrieb — wahrſcheinlich ein Herr
Grün — ſchien ein Univerſalgenie und ein ächter Welt—
bürger und keineswegs ein Grüner zu ſein. Seit geraumer
Zeit war er hier anſäſſig, und führte ein einträgliches Ge—
ſchäft. Zur Zeit der Flibuſtier-Expedition hatte ihm Herr
Walter faſt all ſein bewegliches Hab und Gut abgenommen
und dafür Schatzſcheine auf den neu etablirten Nicaragua—
Sclaven-Staat gegeben. Unſer Landsmann, der Gott
dankte, damals das nackte Leben gerettet zu haben, ſcheint
ſeine Flibuſtier-Verluſte durch doppelte Energie ſo ziemlich
wieder erſetzt zu haben und macht Geld, wie er mir er—
zählte. Seine Familie lebte zur Zeit in New-York. Er
hat den Bibelſpruch: „Es iſt nicht gut, daß man allein
ſei“, jedoch wohl beherzigt, indem er eine pompös aus—
ſehende Gelbe, mit kohlſchwarzem Haar, hohem Buſen und
Gluth ſchießenden Augen als Haushälterin genommen,
welche mit ihm die Einſamkeit theilt und ihm die Trennung
von ſeiner Familie weniger bitter erſcheinen läßt.
Die Ausſicht von der Veranda meines Hötels war
recht romantiſch. Gerade vor mir lag die halbmondförmige
Bucht von San Juan mit ihren felſigen, waldgekrönten
Ufern, hinter ihr das Stille Meer, zum tief-blauen Himmel
gleichſam emporſteigend; inmitten der Bucht unſer gutes
Schiff „Amerika“ mit dem Sternenbanner am hohen Maſt.
Leichte Ruderboote fuhren zwiſchen Schiff und Ufer hin und
318
her, welches die vom offenen Meer hereinrollenden lang—
ſchwellenden Wogen jede halbe Minute mit einem Schaum—
kranze wie mit Silber umgürteten, während das Donnerr
der Brandung durch die ſtille Luft erzitterte. Am Strande
hin und her wogte das Getriebe der Paſſagiere und Ein—
gebornen, und miſchten ſich die Töne fröhlichen Geſanges
mit dem Donnern der nahen Brandung.
Während ich, eine Havanna-Cigarre dampfend, au‘
der Veranda des Hötels meine Sieſta hielt, ward es an
Ufer immer lebendiger. Die meiſten unſerer Pafjagier:
befanden ſich am Lande, und auch unſer Gepäck war au:
gelangt und in den Schuppen der Compagnie untergebracht
Bereits ſprengte die Avantgarde der Mauleſel-Karavane
von Virgin Bay kommend, im geſtreckten Galopp in die
Stadt und wurde von den Paſſagieren mit jubelnden
Hurrah begrüßt.
Auf dem Schiffe waren wir vor dieſen gelblich-brauner
Mauleſeltreibern gewarnt worden, welche auf alle nur er—
denkliche Weiſe von den Paſſagieren Geld erpreſſen würden
Es wurde vor unſerer Abfahrt vom Schiffe bekannt ge
macht, daß man jedem Paſſagier am Lande ein „Ticket“
(Billet) geben würde, welches ihn je nach ſeiner Wahl zi
einem Platz in einem der Fuhrwerke oder zu einem Rit
per Eſel oder Roß nach Virgin Bay berechtige. Jede Extra
Geldforderung ſei Schwindel und dem Vertrage der Tranſit—
Compagnie mit den Eingebornen zuwider.
Um mir möglichſt ſchnell einen guten Platz zu ver—
ſchaffen, begab ich mich nach der „Ticket-Office“, gerade
als das Gros der Muleteers und Fuhrleute mit dei
Roß⸗ und Mauleſelarmee in die Stadt rückte. Paſſagiere
welche bereits von der „Office“ zurückkamen, ſuchten ſich
die beſten Thiere aus und boten ihre „Tickets“ den Ein:
geborenen als Zahlung an, welche dieſe mit Verachtung
319
zurückwieſen, und einen oder zwei Dollars oder noch mehr
Zuzahlung verlangten. Der Lärm, das Geſchrei und
die zornigen Geſtikulationen ſowohl von Muleteers als
den erboſten Californiern waren ſehr erheiternd. Hin
und wieder ſprengten Paſſagiere durch's Gedränge, welche
ſich einen Eſel erobert hatten, der hinten und vorn aus—
ſchlug, rechts und links nach den Fußgängern ſchnappte
und mit flach an's Haupt gelegten Ohren äußerſt feind—
ſelig ausſah.
Die Eß- und Trinkbuden machten brillante Geſchäfte.
Neger und Eingeborne beiderlei Geſchlechts — ſowohl Damen
als Herren, Alle Cigarren rauchend — waren die Beſitzer
dieſer Reſtaurationen, wo den Paſſagieren für hartes Geld
die Delicateſſen Central-Amerikas verabreicht wurden, meiſtens
unnennbare Confitüren, Kaffee, Chocolade, Eier und braune
Kuchen. Wer Kurioſitäten als Andenken an San Juan zu
kaufen wünſchte, der hatte die Wahl zwiſchen Kalabaſchen,
welche mit blumigem Schnitzwerk verziert waren, worauf
ſich die Induſtrie der Eingebornen zu beſchränken ſchien,
und bunten Muſcheln.
Mit großer Mühe arbeitete ich mich durch's Gedränge
an die „Office“ der Tranſit-Compagnie und verſchaffte mir
das ziemlich nutzloſe „Ticket“, worauf ich mich nach dem
Waaren⸗Schuppen begab, um nachzuſehen, ob mein Gepäck
glücklich angelangt ſei. Da die Compagnie ſich nur für Koffer
verantwortlich erklärt hatte, bei denen fünfzig Pfund Ge—
wicht frei befördert wurden, da zehn Cents in klingender
Münze für jedes Pfund Uebergewicht gezahlt werden muß—
ten, und Handkoffer, Mantelſäcke und ähnliche kleinere
Packete ohne Aufſicht im wilden Durcheinander an's Land
transportirt wurden, ſo war ich begierig, zunächſt das
Schickſal meines herrenlos umherwandernden Valiſe
(Handkoffer) zu erfahren.
320
Am Waaren-⸗Schuppen ſtand eine Abtheilung von Ni:
caragua⸗Linientruppen aufmarſchirt, von denen der Flügel-
mann, eine impoſante Erſcheinung in ſchmutzigen, bis über
die Kniee aufgerollten Leinwandhoſen, welche die chocolade—
farbenen Beine in Natura zeigten, in Schwalbenfrack, Hickory—
hemd und Strohhut und mit dampfender Cigarre im Munde,
mir mit kühnem Griff das Bayonnet ſeines alten Feuer—
ſchloßgewehrs entgegenhielt und mich grimmigen Blicks in
mir unverſtändlichem Spaniſch zurückbeorderte. Die meiſten
dieſer barfuß wandernden Grenadiere waren ähnlich wie
mein Flügelmann uniformirt, Jeder nach ſeinem Geſchmack,
und ein Jeder von ihnen mit der unvermeidlichen langen
ſchwarzen Nicaragua-Cigarre im Munde.
Möglichſt ſchnell vor meinem grimmigen Flügel—
mann retirirend, begab ich mich zwiſchen die Packwagen, in
deren Nähe ich meines Gepäckes zu meiner Beruhigung
anſichtig ward. Die in Nicaragua, wie in allen ſpaniſch—
amerikaniſchen Ländern, gebräuchlichen Packwagen haben
meiſtentheils Räder von ungeheuren Dimenſionen, an denen
alles Eiſenwerk fehlt. Das Kreiſchen der Räder auf ihren
Achſen, wenn ſich die Stiere in Bewegung ſetzten, welche
von nacktbeinigen, vor den Thieren marſchierenden, laut
ſchreienden Treibern vermittelſt eiſenbeſchlagener Piken ge—
leitet wurden, war wahrhaft ohrenzerreißend und gab die
höheren Discantnoten zu dem uns umrauſchenden Gemenge
thieriſcher und menſchlicher Töne. Die Langſamkeit, mit
der das Aufladen des Gepäcks betrieben ward, überſtieg
alle Begriffe.
Nicht weit von den Packwagen ſtanden in langer Reihe
die Paſſagierwagen, ſchwere, unbeholfene Fuhrwerke, mit
den ſchändlichſten Schindmähren beſpannt, welche je die Rolle
von Kutſchpferden geſpielt haben. Faſt ein jeder dieſer
Wagen war gedrängt voll von Paſſagieren, Männern,
321
Frauen und Kindern, von denen die Damen nebſt der Ju⸗
gend bereits von vier bis zu ſechs Stunden lang dort ge-
ſeſſen hatten und geduldig auf die Abfahrt warteten.
Da mir die Eſel und Reitpferde noch weniger als die
Wagen als Transportmittel zuſagten, jo beſchloß ich zu-
vörderſt, mein Heil in einem der letzteren zu verſuchen.
In einem wie mir deuchte ziemlich leichten Fuhrwerk er—
oberte ich mir einen Platz auf dem Kutſcherbock und war
froh, als unſer Wagen bereits um drei Uhr Nachmittags
reiſefertig war. 0
Mein Kutſcher, deſſen eines Bein um mehrere Zoll
kürzer als ſein anderes war und der wie alle Nicaraguer
ein drittehalb Fuß langes, in einer mit Kupferknöpfen
beſchlagenen Lederſcheide ſteckendes wuchtiges Haumeſſer
(Machete) am Gürtel hängen hatte, hinkte, eine Cigarre
dampfend und eine aus dem Urwald geſchnittene Peitſche
ſchwingend, ein paar Mal um unſere Equipage herum, ſein
Geſpann mit kritiſchen Blicken muſternd, ehe er auf dem Kut⸗
ſcherbock neben mir Platz nahm. Dann ging's, indem er mit
einem lauten Halloh die Thiere aufmunterte, endlich vorwärts.
Langſam manöverirte er unſere Karoſſe durch's Ge—
dränge, und ich ſchätzte mich glücklich, nachdem er in den
erſten zehn Minuten verſucht, wenigſtens ein halbes Dutzend
Bäume umzufahren, endlich aus dem Gewirr der Wagen
und der unter lautem Hurrah auf und ab reitenden Eſel—
reiter mit heilen Knochen herauszukommen.
Wir hatten ein Zweigeſpann vor dem Wagen, Eſel
und Roß, die beide äußerſt niedergeſchlagen ausſahen und
weder durch Schläge, noch Zureden aus dem Schritt zu
bringen waren. Auch war es ein abſolutes Ding der Un—
möglichkeit, die Thiere zu bewegen, gleichzeitig anzuziehen.
Der Schimmel namentlich zeichnete ſich durch ſeine Störrig—
keit aus und weigerte ſich entſchieden, anzuziehen, wenn der
21
322
Eſel fein Beſtes that. Ein zweiter Eſel, der hinten am
Wagen angebunden war, that ſein Möglichſtes, das Fuhr⸗
werk mit ſteifem Nacken rückwärts zu ziehen.
Meine Reiſegeſellſchaft beſtand aus einer Amerikaner⸗
Familie, welche aus den Goldlanden nach dem Oſten heim—
kehrte. Die Frau, eine ſchmächtige Südländerin mit halb
durchſichtigem Teint, wie er von Amerikanern ſo ſehr be—
wundert wird, war in tiefe Trauer gekleidet. Zwei Brüder
waren ihr in den ſüdlichen Armeen in Virginien gefallen.
Ihr Gemahl, ein Yankee von ächtem Schrot und Korn,
fragte bereits in den zehn Minuten unſerer Bekanntſchaft
meine ganze Lebensgeſchichte von mir aus. Meine Schick⸗
ſale und Wanderzüge in beiden Hemiſphären ſchienen ihm
bedeutenden Reſpekt vor mir einzuflößen, und es währte
keine weitere zehn Minuten, bis auch ich über ſeine Erleb—
niſſe ziemlich gut unterrichtet war. Er hatte einen Feldzug
auf der „Peninſula“ unter MecClellan mitgemacht, war
ſodann Stiefel⸗Lieferant in Waſhington geweſen, ſpeculirte
in Gold, wobei all ſein mit Stiefeln erworbener Reichthum
wieder verſchwand, wanderte nach Californien und Waſhoe
aus, wo er glücklich in claims und Füßen machte und
ging jetzt wieder heim nach den Staaten. Die beiden
Buben, Lee und Sherman, aßen Nicaragua-Candy und
freuten ſich über den Schimmel und Eſel. Bob Sherman
titulirte ſeinen jüngeren Bruder, der den Schimmel bean—
ſpruchte, mit Rebell und wollte ihm Candy wegnehmen,
worauf die Mutter mit dem durchſichtigen Teint den kleinen
Lee zu ſich auf den Schoß nahm und der Papa dem Bob
auf die Schultern klopfte. Ich machte den ſtillen Beob-
achter, wie ſich ſo ein Stückchen Weltgeſchichte neben mir
abſpann.
Langſam fuhren wir durch die etwas rückwärts gelegene
Hauptſtraße von San Juan, wo ſich viele unſerer Paſſa⸗
323
giere verſammelt hatten und ſich theils mit Speiſe und
Trank zu der bevorſtehenden Reiſe ſtärkten, theils, im
Schatten eines Cocusbaumes lagernd, den Tönen der Man⸗
dolinen lauſchten, welche nebſt heiterm Geſange aus dem
Innern einer Adobe-Wohnung hervorklangen. Mehrere der
Häuſer an dieſer Hauptſtraße, wenn eine Reihe von Bretter
buden mit Blätterdächern und „Adobes“ dieſen Namen ver—
dient, waren unbewohnt. Thüren und Fenſter waren ver—
nagelt, und die Straße hatte trotz des Getümmels der
California-Paſſagiere ein ſehr troſtloſes Ausſehen. Im
gewöhnlichen Alltagsleben, wenn kein Dampfer im Hafen
liegt, möchte San Juan del Sur ein beneidenswerthes Afyl
für einen menſchenfeindlichen Einſiedler abgeben!
Sobald wir die letzten Häuſer der Stadt hinter uns
hatten, bog unſer Dreigeſpann in den dunklen Tropenwald
ein, durch welchen ſich die Tranſit-Straße wie ein heller
Faden hinſchlängelte. Hin und wieder ſtanden Rohr- und
Maisfelder am Wege, die von kreuz und quer über ein-
ander geworfenen rieſigen Baumſtämmen eingefenzt waren,
und alle paar hundert Schritt kamen wir an Eß- und Trink⸗
ſtänden vorbei, wo von den Eingebornen oder von Negern
den Reiſenden Delicateſſen und Getränke zum Verkauf an⸗
geboten wurden.
Unſer Fuhrmann, der bald rechts, bald links in die
Büſche hineinfuhr, faſt an jeder der zahlreichen Brücken
Viertelſtunden lang ſtecken blieb und uns alle Augenblicke
der Gefahr des Umwerfens ausſetzte, würde einen Waſhoe—
Stagekutſcher, der ſein ſchnaubendes Sechsgeſpann im ge—
ſtreckten Galopp über die Sierra peitſcht, zur Verzweiflung
gebracht haben. Der langſamen Reife herzlich ſatt, ſchlu—
gen der Yankee und meine Wenigkeit ſich ſeitwärts in die
Büſche, wo wir uns ein paar tüchtige Dornenknittel als
Peitſchen abſchnitten, indeß der Gelbe, der neben den Thie—
*
324
ren auf und ab hinkte, dieſelben mit freundlichen Worten
zum Weitergehen zu überreden ſuchte.
Ich hatte einen beſonderen Groll auf den Schimmel, der
bereits in der Stadt, als ich neben ihm ſtand, wiederholt
nach mir gebiſſen, und der Yankee nahm den Eſel in Arbeit
— und ehe wir es uns verſahen, ging's in ſchlankem Trab
vorwärts, indeß unſere Dornenknittel ſchnell in Fetzen zer—
ſprangen. Ein halbes Dutzend Californier, die wie toll an
uns vorbei galoppirten, hieben gleichfalls auf unſere Thiere
ein. Dieſen ſchien jedoch der Spaß ſchlecht zu gefallen.
Plötzlich bogen ſie, über die ſchändliche Behandlung ent—
rüſtet, ſcharf in den Wald ein, wo unſer Wagen in ſchiefer
Stellung an einem Bananabaume Halt machte, während
der Eſel, welcher hinten am Fuhrwerk angebunden war,
ſeinen Strick zerriß und langſam zur Stadt zurücktrabte.
Da die Sonne bereits ſtark im Niedergehen begriffen
war, und ich befürchtete, falls ich mich länger auf unſere
Extrapoſt verließe, ſpät in der Nacht nach Virgin Bay zu
kommen, ſo beſchloß ich, die Strecke nach dem nur noch ein
paar Meilen entfernten „half way house“ zu Fuß zu=
rückzulegen und mir dort wo möglich ein gutes Reitpferd
zu verſchaffen. Das Wetter war herrlich und durchaus
nicht übermäßig warm. Die Regenzeit, welche erſt ſeit ei—
nigen Wochen vorüber war, ließ die Vegetation noch im
herrlichſten Grün prangen, und ein kühler Seewind rauſchte
durch den dunklen Wald. Die Landſtraße war beſſer als
ich erwartet, und an Unterhaltung unterwegs fehlte es
nicht, da ſowohl Eingeborne als Paſſagiere faſt fortwährend
im wilden Durcheinander bei mir vorbeiſprengten.
Wie ich, rüſtig vorwärts marſchirend, die Wafler-
ſcheide zwiſchen dem Stillen Meere und dem See Nicara—
gua erſtiegen hatte, gewahrte ich plötzlich die gewaltige
Kegelkuppe des Vulcans Omotepec, der, von der Abend—
|
/
325
ſonne beleuchtet, majeſtätiſch über die grünen Baummipfel
in den blauen Aether ragte. Es war ein herrliches Schau—
ſpiel, einzig in ſeiner Art, und kam ſo unerwartet, daß ich,
in Verwunderung verſunken, wohl eine Viertelſtunde lang
wie angemauert ſtehen blieb.
Im „Halbweghauſe“ miethete ich mir, nachdem ich
mich daſelbſt zuvor mit einer Taſſe vorzüglicher Chocolade
geſtärkt, für anderthalb Dollars eine feurige Rozinante,
auf der ich bald wohlgemuth weiter ritt. Ganz unerwartet
überraſchte mich bereits nach einer guten halben Stunde die
Nacht, welche in dieſem Breitengrade ſehr ſchnell hereinbricht.
Der Ritt nach Virgin Bay, ganz allein und unbe—
waffnet wie ich war, in dunkler Nacht und in einem frem—
den, nur halb civiliſirten Lande, war einer der unklugſten
Streiche, welche ich mir je in meinem Leben habe zu Schul—
den kommen laſſen. Oefters begegneten mir Eingeborne,
die halb betrunken waren und mit ihren drittehalb Fuß
langen Meſſern ſehr verdächtig ausſahen. Einer derſelben
machte den Verſuch, meinem Pferde in den Zügel fallen,
und zog, als ich mit einem gewichtigen Strick, den ich als
Peitſche benutzte, nach ihm ausholte, drohend ſein Meſſer.
Doch kam ich mit dem bloßen Schrecken davon, da mein
Schlachtroß bald im Galopp von meinem Widerſacher fort—
ſprengte. Zwiſchen den dunklen Büſchen glänzten öfters
die Lichter von Trinkſtänden, bei denen ich mich jedoch nicht
aufhielt, ſondern mein Roß unbarmherzig antrieb, um wo
möglich eine mir etwa vorangegangene Reiſegeſellſchaft ein—
zuholen.
Bald darauf traf ich mit einer Geſellſchaft von ſechs
Californiern zuſammen, welche an einem der Trinkſtände
Halt gemacht hatten, gewahrte jedoch zu meinem nicht ge—
ringen Aerger, daß dieſelben in keineswegs nüchternem Zu⸗
ſtande waren und alſo ſehr ſchlechte Reiſebegleiter ſein
326
würden. Ich ließ mir ein Glas aguardiente reichen und wollte
allein weiter reiten, als ein von mir nicht bemerkter, drei—
viertel angetrunkener Meſtize plötzlich dicht vor mir im Graſe
einen Kriegsgeſang anſtimmte, der meine Rozinante ſo ſehr
außer Faſſung brachte, daß ſie mit beiden Hinterbeinen auf
einmal ausſchlug — gerade in den Trinkſtand hinein. Nach
rechts und nach links, durcheinander hin flogen Gläſer und
Flaſchen, Orangen, Backwerk, Cocusnüſſe und Bananen,
und fort ſprengte mein Gaul, von den carachos der ihre
Meſſer ſchwingenden Eingebornen verfolgt. Von Barm—
herzigkeit meinerſeits gegen meine Rozinante war natürlich
keine Rede und ich wundere mich nur, daß ich ſie nicht zu
Tode geprügelt.
Bald war ich wieder allein im Finſtern und begegnete
von jetzt an nur noch einigen Zügen von Muleteers, die
mit ihren Thieren von Virgin Bay nach San Juan zu—
rückkehrten.
Meine Phantaſie bevölkerte die dunklen Büſche rechts
und links an der Landſtraße mit den Schatten kämpfender
Flibuſtier, und mancher ſchwankende, nackte Aſt nahm die
Geſtalt eines rieſigen Reiters an, der ſich mir drohend ent—
gegenſtellte. Ich ſprengte hier über geſchichtlichen Boden,
den Walker mit ſeinen wilden Flibuſtiern, Nicaraguer,
Guatemaler und Coſta Ricaner, ſich wieder und wieder
ſtreitig gemacht hatten. Dort hinter jener Anhöhe lagen
vielleicht die verwegenen Scharfſchützen, welche mit ſicherem
Auge und mit feſter Hand den Tod aus ihren langen
Büchſen in die Reihen des zehnfach überlegenen Feindes
ſandten, welche den Krieg aus Luſt zum Abenteuerlichen
trieben, jenem Manne blindlings gehorchend, der ein neues
Sclavenreich in Central-Amerika gründen wollte.
Froh war ich, als ich die Lichter von Virgin Bay vor
mir erblickte und die Brandung des nahen Sees durch die ſtille
327
Nacht zu mir herübertönte. Nachdem ich mein treues Roß
an den erften beften Baum gebunden und dort feinem Schid-
ſal überlaſſen, wanderte ich zunächſt durch die mit hell er⸗
leuchteten Buden, Stores und Hotels beſetzte und mit lär—
menden Paſſagieren und Eingebornen angefüllte lange Haupt—
ſtraße des Orts nach dem See, um mich an Bord des
Dampfers zu begeben und die Stunde feiner Abfahrt aus—
zukundſchaften. Am untern Ende eines langen und ftatt-
lichen Holzquais, an dem der See mit mächtigen Wellen
hinbrauſ'te, fand ich unſern Dampfer, der jedoch durchaus
keine Anſtalten zur baldigen Abreiſe zeigte. Vor Tages⸗
anbruch war auch offenbar hieran gar nicht zu denken,
da noch manche Stunde vergehen mußte, bis das zahlreiche
Gepäck der Paſſagiere anlangen würde.
Ich begab mich daher bald wieder in die Stadt, um
die Ankunft der Gepäckwagen abzuwarten. Das lebhafte Ge⸗
treibe daſelbſt während der Nacht war ſehr unterhaltend.
Alle zehn Minuten langte eine neue Geſellſchaft von Paſſa⸗
gieren von San Juan an, deren Erſcheinen jedesmal mit
dem Klingeln unzähliger Glocken und dem betäubenden
Getöſe der Gongs begrüßt wurde, womit die hungerigen
Gäſte von den Bewohnern des „Jungfrauen-Hafens“ zum
Abendmahl eingeladen wurden. An verſchiedenen Plätzen
hatten ſich Geſellſchaften im Freien gelagert, welche heitere
Geſänge vortrugen. Eine Abtheilung Deutſcher marſchirte
die Hauptſtraße des Orts ſingend auf und ab und erntete
ungemeſſenen Beifall durch ihren kräftigen, vierſtimmigen
Männergeſang, welcher von dem dumpfen Rauſchen der
nahen Brandung begleitet wurde.
An einem Tiſche, wo von dunkeläugigen Nicaragua⸗
Schönen Chocolade ausgeſchenkt ward, nahm ich Platz und
beobachtete das mich umgebende fremdartige Treiben. Die
feurigen Augen, die regelmäßigen Geſichtszüge und der
2328
ſchöne Wuchs der Töchter Nicaraguas, welche faſt ohne
Ausnahme etwas ſehr Einnehmendes ſowohl in Benehmen
als Kleidung hatten, intereſſirten mich faſt noch mehr als
die romantiſch-wilde Umgebung des Ortes. Die ſchönſte
der Schönen von Virgin Bay verſah an meinem Tiſche ihr
Amt als Mundſchenk mit ſo viel natürlicher Grazie, daß
ich mich bewogen fühlte, mehrere Taſſen ganz vorzüglicher
Chocolade zu trinken, um nur etwas länger in ihrer Nähe
verweilen zu können.
Ein infernaliſcher Lärm, der plötzlich aus einer der
nahen Buden erſcholl, wohin von allen Seiten wie auf ein
gegebenes Signal eine dichte Menſchenmenge ſtrömte, bewog
mich jedoch, meine Chocoladen-Spenderin zu verlaſſen und
mich nach der Urſache deſſelben zu erkundigen. Er kam
aus einer der vielen Spielbuden, wo) den Paſſagieren mit
genialem Hazardſpiel ihr überflüſſiges Reiſe-Kleingeld ab-
genommen wurde. Cin Californier, der ſoeben achthundert
Dollars verloren hatte, klagte den Bankhalter des Schwin—
dels an und fluchte wie nur ein biederer Goldgräber zu
fluchen verſteht, obgleich ſeine Lungenanſtrengung ihm offen—
bar zu nichts nützte.
Die auf dem Iſthmus üblichen Hazardſpiele werden
theils mit Karten, theils mit Fingerhüten geſpielt.
Zum Kartenſpiel werden drei Karten gebraucht. Der
Bankhalter legt ſie zuerſt alle drei offen vor ſich hin, miſcht ſie
alsdann und legt ſie zuletzt verdeckt vor ſich auf den Tiſch,
und wer Luſt hat, mag wetten, ob er eine der drei Karten
nennen kann. Der Bankhalter macht mit Vorbedacht wie
zufällig Merkmale an den Karten, biegt die Ecken um, be—
zeichnet ſie mit Flecken oder dergleichen, ſo daß die Zu—
ſchauer, welche dieſe Zeichen bemerkt haben, ſchwören, ſie
wiſſen ganz genau die Karte, welche ſie nennen ſollen.
Aber gerade dieſe Zeichen, welche der Spieler geſchickt und
329
unbemerkt verändert, find das Verführeriſche beim Spiel,
und der Bankhalter, der ſo wie ſo immer auf zwei gegen
eine Karte wettet, gewinnt faſt immer.
Das Fingerhutſpiel wird nach derſelben Theorie mit
drei Fingerhüten geſpielt, meiſtens auf einem der Kniee des
mit der ehrlichſten Miene von der Welt da ſitzenden Finger—
hut⸗Bankiers. Dieſer rollt ein kleines Kügelchen mit fabel—
hafter Geſchwindigkeit bald unter den einen, bald unter den
andern Fingerhut und läßt es zuletzt unter einem derſelben
liegen. Die meiſten der Zuſchauer nun glauben ganz be—
ſtimmt, den Fingerhut nennen zu können, unter dem das
Kügelchen verſchwunden iſt. Es gewinnt aber Niemand,
außer der Fingerhut-Spieler läßt Jemanden mit Willen ein
paar Mal den richtigen Fingerhut treffen, um ihn hitzig zu
machen, auf daß er hoch ſpiele. Es iſt für den Spieler
ein Leichtes, die Kugel beim Aufheben des Fingerhuts ver-
ſchwinden zu laſſen, und der Betrug dabei iſt ſo offenbar,
daß es Wunder nimmt, wie ſich Jemand verleiten laſſen
kann, ſein Geld ſo fortzuwerfen. Unſer californiſcher Freund,
der ſeine achthundert Dollars unter dem Fingerhut verloren,
fuhr fort, ſolch einen Höllenlärm zu machen und dabei einen
geladenen Revolver, den Finger am Drücker und die Mün-
dung gegen den Fingerhut-Künſtler gerichtet, fo unvorſichtig
in der Hand zu halten, daß dieſer es für rathſam fand,
mit ſeinem Naube auf kurze Zeit vom Schauplatz ſeiner
Induſtrie in der Dunkelheit zu verſchwinden. Er war je—
doch bald wieder da, und muß, nach dem Gedränge und
den Verwünſchungen der Umſtehenden zu urtheilen, noch
manchen Dollar bis Mitternacht mit ſeinen Fingerhüten ver—
dient haben.
Gegen Mitternacht meldeten ſich endlich die Gepäck—
wagen mit ihren kreiſchenden Rädern, und fuhren langſam
durch die Stadt nach dem Dampfer. Ich folgte ihnen als—
330
bald, um meines Handgepäcks nicht verluftig zu werden.
Dieſes wurde von den Wagen in wildem Durcheinander auf
den Quai geworfen, und Jeder mußte für das ſeinige
ſorgen und Acht geben, daß ihm nichts abhanden komme.
Da die Tranſit-Compagnie, wie bereits früher bemerkt, ſich
nicht für kleinere Packete verantwortlich hielt und an Spig-
buben eben kein Mangel war, ſo hatte ich begründete Ur—
ſache, für mein herrenlos gewordenes „Valiſe“ beſorgt zu
ſein. Ich war jedoch ſo glücklich, daſſelbe bald im Ge—
dränge zu erhaſchen, und war froh, als ich es unverletzt
an Bord gebracht, wo mehrere meiner Mitreiſenden, denen
ihre Mantelſäcke entweder aufgeſchnitten oder gar unſichtbar
geworden waren, laut lamentirten.
Da bereits alle Schlafſtellen auf dem Dampfer mit
Beſchlag belegt waren, ſo ſuchte ich mir ein Ruheplätzchen
auf dem Quarterdeck, wo ich es mir auf den harten Brettern
den Umſtänden nach bequem machte, um dort das Signal
zur Abreiſe in Geduld abzuwarten.
Wie herrlich die laue Tropennacht dort auf dem hohen
Verdeck des Nicaragua-Dampfers! Dunkel vor mir hob
ſich die gewaltige Kegelkuppe des Vulcans Omotepec aus
den Wogen des Sees in die blaue Ferne, und das Kreuz
des Südens glänzte in Demantpracht in einem Gewirr
goldener Sterne; aus der Stadt herüber tönten vaterlän—
diſche Geſänge, und unter mir rauſchte der See mir ein
Schlummerlied. Wie ich halb träumend in die lichtdäm—
mernde Ferne hinausblickte, hob ſich im Nordoſt plötzlich eine
blendend⸗glühende Feuerkugel, deren ſcheinbarer Durchmeſſer
dem der untergehenden Sonne gleich kam. Langſam erſtieg
das Meteor den Zenith des ſternenbeſäeten Gewölbes, wo
es plötzlich erloſch. War es eine irrende Welt, welche,
aus den unbeſtimmten Tiefen des Himmels kommend, die
Bahn unſeres Erdballs gekreuzt und, von deſſen Atmoſphäre
331
entzündet, plötzlich einen Feuertod gefunden? oder war es
eine Schöpfung unſerer Erde, eins von jenen unerklärbaren
electriſchen Phänomenen, welche, wie das Nordlicht an den
Grenzen unſeres Luftkreiſes, ein kurzes aber blendendes
Daſein feiern? Mir war es ein leuchtender Himmelsbote,
welcher mir einen Gruß gebracht über Länder und Meere
von den Lieben des fernen Vaterlandes.
Unvermerkt ward ich im Geiſte der Gegenwart ent—
rückt, und Vaterland und Tropenwelt füllten denſelben mit
Zauberbildern, bis plötzlich das ſchrille Signal des Dampfers
mich aus einem kurzen Schlummer aufſchreckte, und als das
Kreuz des Südens in dämmernder Morgenſtunde erbleichte
und ſich die Gebirgsufer des Sees deutlicher zeigten, fingen
die Räder des Dampfers an, ſich brauſend zu drehen;
hinaus ging's in die wogende Ferne, und neue Bilder ent—
rollten ſich vor meinen Blicken.
Der jetzt ausgebrannte Vulcan Omotepec, welchen ich
bereits Tags zuvor von der Landſtraße zwiſchen San Juan
und Virgin Bay bewundert hatte, zog nebſt dem neben ihm
ſtehenden, etwas niedrigeren Madeira mehr als alles An-
dere meine Aufmerkſamkeit auf ſich. Die regelmäßige Kegel-
form dieſer Geſchwiſterberge, welche von faſt allen Punkten
des Iſthmus und ſogar vom Stillen Meere aus deutlich
geſehen werden, und die ſich direct aus dem Schooße des
Sees Nicaragua in den blauen Aether erheben, war einzig
in ihrer Art. Schrecklich ſchön muß das Schauſpiel ge—
weſen ſein, wenn dieſe Berge, mit glühenden Lavabändern
geſchmückt und von wildkochenden Wogen umbrauſ't, ihre
dampfenden Häupter wie zwei zornige Titanenſöhne über
dem feuerfarbenen See hoch in den finſtern Wolken ſchüttel—
ten, und mit hölliſchem Athem Aſche und Gluthmaſſen vom
Stillen Meere bis zur Caraibiſchen See über den zittern—
den Iſthmus ausſchütteten. Aber jene Zeiten des Schreckens
332
liegen in dunkler Vergangenheit. Mit ſeinem Zwillings—
bruder, dem Madeira, auf dieſelbe Inſel gebaut, liegt der
Omotepec jetzt friedlich da im Schooße blauer Wellen,
und nur noch die Wahrzeichen alter Lavaſtröme, welche in
ſchwarzen Furchen die grünen Abhänge dieſer Kegelbergrieſen
durchziehen, mahnen an die hölliſchen Feuer, welche unter
ihren Grundfeſten ſchlummern.
Die zahlreichen Vulcane, welche ſich am Stillen Meere
entlang in faſt gerader Linie von Fonſeca bis zu der von
Nicoya hinziehen, bilden nächſt den großen Inland-Seen
— Managua und Nicaragua — das Hauptcharakteriſticum
der Bodenformation des Staates Nicaragua. Seit der
Zeit der ſpaniſchen Eroberung ſind zahlreiche feuerſpeiende
Berge dort abwechſelnd mehr oder minder in Thätigkeit
geweſen; gegenwärtig ſcheinen ſie jedoch, mit Ausnahme der
Vulcane von Maſaya, Coſeguina, Momotombo und Oroſi,
ſämmtlich erloſchen zu ſein.
Zur Zeit der ſpaniſchen Eroberung war der Vulcan
von Maſaya, damals die Hölle von Maſaya genannt, der
Schrecken des Landes. Im Jahre 1670 fand ein Ausbruch
ſtatt, bei dem ein Lavaſtrom durch den nördlichen Abhang
des Vulcans brach und faſt zwanzig Meilen weit, bis in
die Nähe des Sees Managua, durch's Land wogte. Ge—
genwärtig kreuzt die Landſtraße, welche von Granada nach
Leon führt, dieſes Lavafeld, das mit ſeinen zerriſſenen,
pechſchwarzen Lavamaſſen, die in rieſigen Tafeln und Blöcken
regellos über und durch einander daliegen, einen ſchrecklich
wilden Anblick gewährt, wie die lebhafteſte Phantaſie ihn
ſich kaum ſchreckhafter ausmalen könnte. Solch eine chao—
tiſche Lava-Wüſte, gelegen inmitten der reichſten Tropen—
natur, muß dem Beſchauer ein Bild entſetzlich grauſiger
Verlaſſenheit in die Seele malen. — Seit der Zeit dieſes
Ausbruchs iſt der Vulcan öfters in Thätigkeit geweſen, das
333
letzte Mal im Jahre 1857, als er ungeheure Maſſen von
Sand und Aſche aus ſeinem Krater ſchleuderte. n
Der Ausbruch des Vulans von Coſeguina im Jahre
1863 war einer der ſchrecklichſten in den Annalen vulcani⸗
ſcher Eruptionen. Er begann am 30. Januar und dauerte
ununterbrochen drei Tage und drei Nächte lang. Solch
ungeheure Maſſen von Aſche und Sand wurden aus dem
Krater emporgeſchleudert, der pechſchwarze Rauchwolken
dämoniſch weit und breit durch die Luft rollte, daß die
Sonne bis auf eine Entfernung von hundert Meilen gänz—
lich verfinſtert war. Schauer von Sand fielen auf einem
Durchmeſſer von fünfzehnhundert Meilen, in Jamaica, Santa
Fé de Bogota und Mexico, und ein Schiff ſegelte zur ſel—
ben Zeit eine Strecke von fünfzig Leguas durch ſchwim—
mende Maſſen von Bimsſtein, welche die Oberfläche des
Waſſers buchſtäblich bedeckten. Der Donner der Explo—
ſionen war in einer Entfernung von achthundert Meilen
deutlich zu hören. Am vierten Tage trat die Ruhe ebenſo
plötzlich wieder ein, wie der Ausbruch unerwartet gekommen
war, und ſeit jener Zeit geben nur noch die hin und wie—
der ſeinen Gipfel umflatternden Rauchwolken ein Zeichen,
daß der Rieſe nur ſchlummert. |
Sowohl der Vulcan Momotombo, als der am ſüd—
lichen Ufer des Sees gelegene, 8650 Fuß hohe Vulcan Hue
ſind heutzutage in unausgeſetzter Thätigkeit.
Außer den genannten Vulcanen giebt es Hunderte von
ausgebrannten Kratern in den Bergen, welche, von ver—
brannten Felsmaſſen eingeſchloſſen und öfters mit Waſſer
gefüllt, alsdann kleine Landſeen bilden. Der nicht unbe⸗
deutende See von Maſaya iſt einer dieſer Krater-Seen
Nicaraguas. Kein Land der Erde — die Inſel Island
etwa ausgenommen — zeigt ſo viele Merkmale vulcaniſcher
Thätigkeit, wie der ſchmale Landſtreifen in Nicaragua,
334
welcher ſich zwiſchen ſeinen Binnenſeen und dem Stillen
Meere hinzieht.
Der See Nicaragua, auf dem wir hinfuhren, der
Cocibolca der Ureinwohner, hat eine Länge von 110 und
eine Durchſchnittsbreite von 35 engliſchen Meilen. Die
Waſſer deſſelben nehmen gegen die Ufer hin allmählich an
Tiefe ab, und nur an wenigen Stellen können größere
Schiffe landen. Doch iſt ſeine Durchſchnittstiefe für die
Schifffahrt vollkommen genügend. Vor dem Ausfluß des
San Juan iſt die Tiefe nur von fünf bis zu zehn Fuß,
an andern Stellen dagegen vierzig Faden. Es iſt dieſer
See vielleicht der ſchönſte der Landſeen Amerikas. Die in
regelmäßiger Kegelform ſich aus feinem Schooße empor-
hebenden Vulcane Omotepec und Madeira, die mit Wald
bedeckten Gebirgslande, welche fein ſüdliches Ufer ums
kränzen, ſowie die an ſeine nördliche Küſte ſich lehnenden
wellenförmigen grünen Savannen, die Heimath unzähliger
Rinderheerden, die zahlreichen grünen Inſeln, welche aus
ſeinem klaren Spiegel emportauchen, und die ſich überall
bis hart an's Waſſer drängende reiche tropiſche Vegetation
entzücken das Auge durch ihre mannigfaltigen, maleriſchen
Gruppirungen.
Am ſüdlichen Ufer des Sees die ehemals bedeutende,
von Hernandez de Cordova im 1822 gegründete und auf
Befehl Walkers im October 1856 zerſtörte Stadt Granada,
einſt die Haupthandelsſtadt Nicaraguas. Im ſiebzehnten
Jahrhundert war Granada eine der bedeutendſten Städte des
ſpaniſchen Amerika. Es führte einen directen Handel mit
Guatemala, Honduras und San Salvador, mit Peru, Panama,
Carthagena und Spanien. Ein damals das Land bereiſender
engliſcher Mönch mit Namen Gage erzählt, daß er an
einem Tage achtzehnhundert mit Indigo, Cochenille und
Häuten beladene Mauleſel in die Stadt ziehen ſah, und
335
daß zwei Tage darauf wieder neunhundert Packthiere da⸗
ſelbſt anlangten, von denen der dritte Theil mit Gold und
Silber — Tribut des Königs — beladen war. Als Ge-
neral Henningſen, der unter Walker ein Commando führte,
die Stadt, welche die Flibuſtier nicht zu halten vermochten,
zerſtörte, betrug ihre Bevölkerung noch an fünfzehntauſend
Seelen. Es befanden ſich zu der Zeit unter andern her-
vorragenden Gebäulichkeiten ſieben Kirchen, ein Hoſpital und
eine Univerſität in der Stadt.
An demſelben Ufer mit Granada, aber vierzig Meilen
davon entfernt, liegt die alte Stadt Rivas, eine der be⸗
deutendſten Städte Nicaraguas, welche wie Granada der
Schauplatz mehrerer der heftigſten Flibuſtier-Kämpfe war.
In ihren Mauern wurde das Ende des Flibuſtier⸗-Dramas
geſpielt, als Walker mit dem Reſt ſeiner Mannſchaft an
den Vereinigten Staaten Flottencommandeur H. Davis
capitulirte.
Der Handel Nicaraguas hat ſeit der Vertreibung der
Spanier an Bedeutung ungeheuer verloren. Daſſelbe
Schauſpiel hat ſich hier wie in faſt allen ehemalig ſpaniſch⸗
amerikaniſchen Colonien wiederholt. Die Bevölkerung —
zum größten Theil eine Miſchlingsrace — hat ſich, nach—
dem fie ſich nur einmal im Befreiungskriege ermannt, dar—
auf wieder ganz der ihr angebornen Trägheit ergeben, und
die ehemals ſo blühenden Städte dieſer Länder ſind alle⸗
ſammt mehr oder minder in Verfall gerathen. Die Haupt⸗
ſtadt des Landes, das einſt ſo blühende Leon, zur Zeit
der ſpaniſchen Herrſchaft eine Stadt von Paläſten, iſt ge⸗
genwärtig ein wahres Jammerbild des Verfalls. Revolu⸗
tionen, welche Feuersbrünſte und Plünderungen im Gefolge
hatten, haben den ehemaligen Glanz der Stadt zerſtört.
Ganze Straßen ſind verlaſſen und mit Sträuchen und
Unkraut überwachſen, aus denen die Ueberreſte in Staub
336
ſinkender Prachtgebäude traurig hervorragen. Innerhalb
ſtolzer Marmorhöfe ſtehen elende Rohrhütten, und die
prächtige Kathedrale iſt ringsum von den Ruinen ge
Paläſte umgeben.
Die Ergiebigkeit des Bodens von Nicaragua wird
von keinem Lande der Welt übertroffen und müßte, hätte
jenes eine arbeitſame, intelligente Bevölkerung, demſelben
bald eine geachtete Stellung im Weltverkehr ſichern.
Unter den zahlreichen tropiſchen Landesproducten bringt
der Cacao dem Anbauer des Bodens den meiſten Nutzen,
Es iſt allerdings große Sorgfalt nöthig, um die Schößlinge
und jungen Bäume aufzuziehen, und es erfordert ſowohl
Capital als Arbeit, um eine Cacaopflanzung anzulegen.
Iſt eine ſolche jedoch einmal ſicher gegründet, ſo iſt es ein
Leichtes, dieſelbe durch Anpflanzung neuer Bäume jährlich
zu vergrößern. Ein Mann iſt im Stande, tauſend Bäume
in Obhut zu nehmen und ihre Ernte einzuſammeln, wes—
halb Cacaopflanzungen weit werthvoller ſind als die von
Zucker, Indigo, Baumwolle oder Cochenille. Der jährliche
Ertrag einer guten Cacaopflanzung beträgt etwa zwanzig
Unzen Nüſſe für jeden Baum, was für tauſend Bäume
zwölfhundert Pfund erzielen würde. Da der Marktpreis
fünfundzwanzig Dollars pro Quintal (101 Pfund) beträgt,
ſo beläuft ſich der jährliche Ertrag von tauſend Bäumen
und einem Arbeiter auf dreihundert Dollars. Der Cacao von
Nicaragua iſt nächſt dem von Soconusco,* welcher unter
der ſpaniſchen Herrſchaft ein Monopol der Krone war, der
vorzüglichſte der Welt, und hat hier zu Lande den drei—
und vierfachen Werth des von Guayaquil, welche letztge⸗
nannte Sorte faſt ausſchließlich nach den Vereinigten Staaten
exportirt wird.
* Der ſüdlichſte Staat Mexico's, am Golf von en
und nördlich von Guatemala gelegen.
337
Alle Arten tropiſcher Producte gedeihen in Nicaragua
auf's Ueppigſte. Zuckerrohr bringt zwei, und wenn der
Boden bewäſſert wird, drei Ernten im Jahr, und braucht
nur einmal in zwölf bis vierzehn Jahren friſch gepflanzt zu
werden. Baumwolle, obgleich bis jetzt nur wenig cultivirt,
iſt von ausgezeichneter Güte. Reis, Indigo, Taback, Coche—
nille, Kaffee, ſind werthvolle Landesproducte. Farbehölzer,
Mahagony- und Roſenholz werden in unerſchöpflichen Quan—
titäten gefunden. Mais wird drei Mal im Jahr geerntet,
Gemüſe ſogar ſechsmal. Die Eingebornen verdingen ſich
für zwanzig Cents pro Tag und Verpflegung, und ſind als
Farmarbeiter in genügender Anzahl zu finden. |
Der nördliche, gebirgige Theil des Staates, Nueva
Segovia, der das Klima und den Baumwuchs der gemäßig—
ten Zone hat, iſt reich an Gold, Silber und Kupfer. Viele
der dortigen Ströme führen Gold mit ſich, welches von den
Indianern in bedeutenden Quantitäten ausgewaſchen wird.
Von San Francisco aus, wo man hiervon unterrichtet iſt,
ſind ſchon mehrere Compagnieen von Bergleuten in dieſe
Minendiſtricte gezogen. Auch auf unferm Schiffe befand
ſich eine Geſellſchaft von Deutſchen, welche von Virgin Bay
aus dorthin wandern wollten. Obgleich die Production
edler Metalle ſeit der ſpaniſchen Herrſchaft ſehr abgenommen
hat, ſo iſt dieſelbe, namentlich die des Silbers, immer
noch beträchtlich. Die Bearbeitung der Silberminen wird
jedoch ſehr nachläſſig betrieben, und von neueren Maſchinen,
wie ſie in Californien, Nevada und andern Minenländern
angewendet werden, weiß man hier gar nichts.
Die Eingebornen dringen höchſtens bis zu fünfundvierzig
Fuß tief in die Erzgänge und wühlen, ſo zu ſagen, wie Maul—
würfe darin herum. Auf eingekerbten Baumſtämmen klettern
ſie, Laſten von hundert bis zu hundert und zwanzig Pfund
Erz in einem über die Stirn gehängten Lederſack tragend,
22
338
die Löcher hinauf, welche fie in die Erde gewühlt haben
und die nicht den Namen Schachte verdienen. In den
Minen ſitzen die Arbeiter nackt auf dem ſteinigen Grunde
und hauen das Erz beim Lichte eines über ihnen im Felſen
ſteckenden Talglichts aus der Erde los. Waſſerpumpen,
um die Tiefgänge trocken zu legen, ſind ihnen gänzlich
unbekannt. Das aus den Minen herausgeſchaffte Erz wird
mit ungeheuren, tauſend bis fünfzehnhundert Pfund ſchweren
Steinen, die wie ein Wagenrad im Kreiſe umherlaufen, auf
der bloßen Erde zermahlen. Das Silber wird alsdann ent—
weder durch Feuer aus der zerriebenen Maſſe herausge—
ſchmolzen, oder dieſe nach einer koſtſpieligen Methode mit
Queckſilber amalgamirt, aus dem dann das Silber durch
Verdünſtung gewonnen wird. Welchen Aufſchwung dieſe
Minen, deren Reichthum unerſchöpflich iſt, durch Anwendung
neuerer Maſchinen nehmen könnten, iſt unberechenbar.
Das Klima des Staates Nicaragua iſt an ſeinen Seen
und in den weſtlich gelegenen Landſtrichen, beſonders aber
in ſeinen nördlichen Minendiſtricten, der weißen Race im
Allgemeinen ſehr zuträglich. Dagegen ſollten die dem Ca—
raibiſchen Meere zugewendeten Küſtenſtriche, welche wärmer
und feuchter als die weſtlichen ſind und häufig Fieber ver—
urſachen, von weißen Caloniſten möglichſt vermieden werden.
Die im Oſten gelegenen Landestheile ſind ihres ungeſunden
Klimas halber auch weit ſpärlicher bevölkert, als die im
Innern des Landes und am Stillen Meere liegenden.
Im großen Centralbecken von Nicaragua iſt das Klima
bedeutend gemäßigter als in andern unter demſelben Breiten—
grade liegenden Ländern der tropiſchen Zone. Die ausge—
dehnten Landſeen in ſeinem Innern geben den durch Berg—
ketten ungehindert vom Atlantiſchen Meere über den Iſthmus
ſtreichenden Paſſatwinden freien Spielraum, um die Luft
abzukühlen und von ſchädlichen Dünſten zu reinigen.
339
Die Jahreszeiten zerfallen in die trockene und in die
Regenzeit, von denen die erſte Sommer und die letzte
Winter genannt wird.
Die Regenzeit beginnt im Mai und dauert bis zum
November, während welcher Zeit, namentlich zu Anfang
und Ende derſelben, es häufig Tage lang regnet, oft jedoch
Wochen lang kein Wölkchen am Himmel zu ſehen iſt. Regen—
ſchauer ſind häufig, meiſtens am Nachmittage und während
der Nacht. Wälder und Felder kleiden ſich mit dem üppig—
ſten Grün, und die Temperatur wechſelt zwiſchen 78 und 88
Grad Fahrenheit. Mitunter, aber ſelten, kühlt ſich während
der Nacht die Luft bis zu 70 Grad ab, und erhitzt ſich
Nachmittags bis zu 90 Grad Fahrenheit.
Während der trockenen Jahreszeit, welche vom Decem—
ber bis gegen das Ende des Monats April dauert, iſt die
Temperatur bedeutend kühler. Namentlich des Nachts tritt
ſie alsdann mitunter mit fröſtelnder Kälte auf. Der Him—
mel iſt wolkenleer, und nur ſelten fallen Regenſchauer auf
das ausgedörrte Land. Die Vegetation auf den Feldern
wird von der Sonne verſengt, das Vieh zieht ſich in die
feuchteren Gründe, an die Seen und Flußläufe, und der
umherfliegende Staub iſt in den Städten faſt unerträglich.
Er dringt durch die glasloſen, offenen Fenſter und durch
die Ziegeldächer maſſenweiſe in die Häuſer, findet einen
Eingang durch die kleinſten Spalten in Schränke und Ver—
ſchläge, und zieht wie Höhenrauch durch die Straßen. Dieſe
Jahreszeit, obgleich unangenehm, iſt die geſundeſte und hat
auf die Pflanzennatur den Einfluß eines nordiſchen Winters,
indem ſie die zu üppige Vegetation beſchränkt, welche z. B.
in dem nur wenige Grade weiter ſüdlich gelegenen Panama,
wo die Regenſchauer heftiger und zu allen Jahreszeiten
[häufig find, undurchdringliche Dickichte, die Heimath giftiger
Fieber, bildet.
22 *
340
Die Zukunft dieſes von der Natur ſo außerordentlich
bevorzugten Landes, welches dazu vermittelſt eines Canals
oder durch Schienenwege Ausſicht hat, dereinſt eine der
Hauptverbindungsſtraßen zwiſchen zwei Oceanen durch ſein
Inneres zu führen, berechtigt zu den kühnſten Hoffnungen.
Wenn der Rückſchritt, den daſſelbe in Folge der Flibuſtier—
Expeditionen erlitten hat, überwunden ſein, und vermehrte
Einwanderung einer thatkräftigen Bevölkerung die jetzt das
Land bewohnenden Miſchlingsracen regeneriren und dem
Handel einen neuen Aufſchwung geben wird — was ſicher—
lich nur eine Frage der Zeit iſt — ſo werden wenige
Jahre daſelbſt Wunder bewirken.
Die Perle des Landes, welche ihm eine gütige Vor—
ſehung geſchenkt, iſt ein herrliches, 300 Meilen langes und
150 Meilen breites Centralbecken, ein Thal, das zum
größten Theil in ausgedehnten und überaus fruchtbaren
Ebenen beſteht, in deren Mitte die Seen Managua und
Nicaragua liegen, welche die von allen Seiten ihnen zu—
ſtrömenden Gewäſſer des Staates durch einen einzigen Aus—
fluß, den Rio San Juan, in die Caraibiſche See ergießen
Ein Blick auf die Landkarte genügt, um den Eifer zu er—
klären, mit dem man ſeit Jahrhunderten die Ausführung
eines die beiden Oceane durch das Innere Nicaraguas ver
bindenden Canals als ein der geſammten civiliſirten Wel!
unberechenbare Vortheile bringendes Unternehmen erkannt hat
Verſchiedene Canal-Nivellements find ſeit der Zeit der Er
oberung des Landes durch die Spanier ſowohl von euro—
päiſchen als nordamerikaniſchen Ingenieuren gemacht wor
den, welche ſämmtlich mehr oder minder günſtige Reſultat'
geliefert haben. Zu einer Ausführung eines ſolchen Pro
jects wurde wohl deshalb bis jetzt nicht geſchritten, weil ei
immer noch nicht unbedingt erwieſen worden, daß die Nica
ragua Canalroute die günſtigſte iſt, und der Koſtenpun!
ein ganz enormer ſein würde. — |
341
| Unter dem köſtlichſten Wetter durchkreuzte unſer Dampfer
mit feiner lebendigen Fracht von über ſiebenhundert Paſſa⸗—
gieren den herrlichen See. Von den heftigen Windſtößen,
welche auf dieſen Gewäſſern mitunter mit ſolcher Stärke
auftreten, daß die Dampfer genöthigt ſind, hinter einer der
hohen Berginſeln Schutz zu ſuchen, blieben wir gottlob ver—
ſchont, obſchon unſer Capitän einmal einen ſolchen prophe—
zeihte, der die Waſſer des Sees wie Meereswogen im
Sturm aufrühren ſollte.
Dieſe Windſtöße, Papagayos genannt, ſind die atlan—
tiſchen Paſſatwinde, welche hier, von Bergzügen ungehindert,
über die ganze Breite des Iſthmus ſtreifen und, die ent—
gegengeſetzten Luftſtrömungen vom Stillen Meere treffend,
mitunter äußerſt widerwärtige Wirbelwinde verurſachen.
In der Regel wehen ſie heftig am Abend aus Nordoſt
und legen ſich gegen Morgen, ſo daß die Gewäſſer des
Sees, von ihnen emporgetrieben, ſich an ſeiner Südküſte
abwechſelnd zu heben und zu ſenken ſcheinen, und das
niedrigere Land dort häufig überfließen. In früheren Zeiten
glaubte man, daß der See wie das Meer regelmäßig Ebbe
und Fluth zeige, oder daß ein unterirdiſcher Abzugscanal
ihn mit dem Stillen Meere in Verbindung ſetze, was
Alles jedoch nur auf der von den Papagayos verurſachten
Täuſchung beruhte.
Die Kegelkuppen der Vulcane Omotepec und Madeira
weit hinter uns laſſend, näherten wir uns, als die Sonne
höher ſtieg, allmählig dem öſtlichen Ende des Sees, welchem
der Rio San Juan entſpringt. Die Ufer rechter Hand
wurden niedriger, und Inſeln, mit dunkelgrünen Waldungen
geſchmückt, lagen hier und da traulich in den klaren Fluthen.
Auf mehreren derſelben gewahrte ich Wohnungen und an—
gebautes Land. Faſt beneidete ich die glücklichen Beſitzer
dieſer Eilande, welche in dem herrlichſten Klima der Welt,
—
. ˙ — —— K
3 9
342
umgeben von den Reizen einer tropiſchen Natur, dort in
ſorgenloſer Abgeſchiedenheit lebten und dabei von ihrer
Thürſchwelle die brauſenden Boten der neueren Civiliſation
begrüßen konnten.
Die Paſſagiere unſeres Dampfers befanden ſich in der
beſten Stimmung und bewunderten das herrliche Landſchafts—
gemälde. Jedermann ſchien die ſchlechten Transportmittel
der Tranfit-Compagnie zwiſchen San Juan del Sur und
Virgin Bay vergeſſen zu haben und erwartete die Einfahrt
in den San Juan Fluß. Die ſocialen Genies thaten ihr
Beſtes, die Reiſegeſellſchaft zu erheitern, und Geſang und
Scherz erſchallten aus mancher Gruppe, die im ſüßen Nichts—
thun auf dem Verdeck lagerte.
Gegen Mittag jedoch, als ſich bei der Mehrzahl der
Paſſagiere, welche von der Zeit an, als wir den Dampfer
„Amerika“ verließen, bis jetzt auf eigene Unkoſten gelebt
und ſeit dem frühen Morgen keinen Biſſen zu ſich ge—
nommen hatten, eine Sehnſucht nach leiblicher Speiſe ein—
ſtellte, verlor die romantiſche Scenerie des Sees alle Reize,
und es bemächtigte ſich eine unverkennbare Unruhe aller
Gemüther.
Die Tranſit-Compagnie hatte allerdings in den San
Francisco-Zeitungen bekannt gemacht: „No extra charge
for board on the Isthmus“, aber — wo blieb das
Mittagsmahl? von dem Frühſtück oder Lunch gar nicht zu
reden, welches die Compagnie in dem Wirrwarr der Ein—
ſchiffung wahrſcheinlich aufzutiſchen vergeſſen hatte. Selbſt
die feinſten Riechorgane konnten keine Spur von werdenden
Beefſteaks, Trüffeln, Pfannekuchen, Torten oder dergleichen
Erfriſchungen entdecken.
Endlich erſchien ein Chimborazo der elendeſten „Sand—
wiches“ (belegtes Butterbrot), welche je einen civiliſirten
Menſchen beleidigt, und dazu etwas ſchmutzig⸗gelber Kaffee,
343
der wie ein Abguß von geröfteten Linſen ſchmeckte und ohne
Kaffeelöffel in ohrenloſen Taſſen verabreicht ward, ſo daß
man gezwungen war, Bleiſtifte und Zahnſtocher als Löffel
zu improviſiren, um ein diminutives Quantum von Zucker
in der Kaffee ſein ſollenden Flüſſigkeit aufzulöſen. Dieſes
barbariſche Kaffeegebräu — das mich lebhaft an den texaniſch⸗
conföderirten Kaffee von 1862 erinnerte — hier im Vater⸗
lande des Kaffee's, der vor unſern Augen auf's Ueppigſte
am nahen Ufer wuchs, war ein entſetzlicher Hohn der
tyranniſchen Tranfit-Compagnie auf unſere rebelliſchen Mä-
gen; und wenn ſchon wegen der „Sandwiches“, auf denen
die Butter wie hingehaucht erſchien und der Schinken an
Hungersnoth mahnte, derſelben von ſiebenhundert Paſſagieren
wenigſtens ſiebenhundert Flüche entgegengeſchleudert worden
waren, ſo waren die Verwünſchungen wegen des Kaffees
wahrhaft furchtbar.
Glücklicher Weiſe hatte ich mich in Virgin Bay mit
einem gebratenen Hühnchen und einem halben Schock hart—
geſottener Eier verproviantirt, da ich mich auf die Aus—
legung des Orakelſpruchs der Tranſit-Compagnie nicht gern
verlaſſen wollte. Wo nichts gegeben wird, da wird auch
keine Zahlung verlangt; das ſchien mir jetzt die Meinung
der Zeitungsanzeige der Tranſit-Compagnie zu ſein, welche
uns aus purer Menſchenliebe die famoſen „Sandwiches“
und den Pſeudo-Kaffee verabreichen ließ.
In keineswegs gehobener Stimmung liefen wir um
ein Uhr Mittags in den San Juan Fluß ein, woſelbſt uns
ein kleinerer Dampfer erwartete, der uns zunächſt nach
Caſtillo bringen ſollte. Südlich von dem Ausfluß des San
Juan, dem Fort San Carlos ſchräg gegenüber, ergießt ſich
Rio Frio in den See Nicaragua, ein nicht unbedeutender
Fluß, der an dem 11,400 Fuß hohen Vulcan Cartago in
Coſta Rica entſpringt.
344
Das vom Rio Frio durchſtrömte, ſchwer zugängliche
Thal iſt die Heimath der Guatuſo-Indianer, welche ſowohl
den Spaniern als den heutigen Regierungen Central—
Amerikas gegenüber ihre Unabhängigkeit ſtets bewahrt,
und jegliche Verſuche, ſowohl von Reiſenden als Militär—
abtheilungen, in ihr Gebiet einzudringen und ſich mit ihnen
bekannt zu machen, blutig zurückgewieſen haben. Die Ver—
muthungen über ihren Urſprung, in ſo weit dieſelben durch
Sprachverwandſchaften Wahrſcheinlichkeit erhalten, ſcheinen
ſich dahin zu vereinigen, daß die Guatuſo-Indianer zu der—
ſelben Aztec-Race gehören, welche zur Zeit der ſpaniſchen
Eroberung im Thale von Anahuac in Mexico und im
jetzigen Staate San Salvador wohnte. Wahrſcheinlich be—
wohnte fie, als Gil Gonzalez d' Avila im Jahre 1522 das
jetzige Nicaragua der ſpaniſchen Krone unterwarf, die Ufer
des Sees Cocibolca (Nicaragua), von wo aus ſie vor den
Spaniern die Thalengen des Rio Frio hinauf flüchteten, in
denen ſie, wie bereits erwähnt, bis auf den heutigen Tag
ihre Abgeſchloſſenheit und Unabhängigkeit gegen alle Ein—
dringlinge bewahrt haben.
Linker Hand auf einem hohen Bluff, nahe dem Aus—
fluſſe des Rio San Juan, ſtand das alte Fort San Carlos
mit einigen elenden Strohhütten im Innern deſſelben, welche,
durch eine einzige wohlgezielte Bombe in Brand geſchoſſen,
die Beſatzung ſchnell ausräuchern würden. Ein paar alte
Kanonen, auf maſſiven Lafetten ruhend, beherrſchten die
Flußmündung, und nicht weit davon lagen die Ueberreſte
eines untergegangenen Dampfers, ein Monument der
Flibuſtier⸗Expedition, deren geſetzloſem Treiben von den
Coſta Ricanern unter dem Befehl des braven Spencer im
December 1856 und zu Anfang des Jahres 1857 auf dem
San Juan Fluſſe ein Ziel geſetzt ward. Die ganze Tranſit—
Route iſt übrigens ſo mit Walker identificirt, der ſeinen
345
Namen an derſelben überall mit blutigem Griffel einge-
graben hat, daß man ſich unwillkührlich in jene Zeit zurück
verſetzt, als er mit einer Handvoll Abenteurer in dieſem
Lande ein neues Reich zu gründen verſuchte, und noch heute
ſeinen Kriegszügen mit unvermindertem Intereſſe folgt.
Bald war unſere geſammte Reiſegeſellſchaft auf das mit
zwei Rädern am Stern verſehene Dampfboot „City of Leon“
verſetzt, wo wir es uns auf dem ringsum offenen oberen
Verdeck auf Bänken und Stühlen bequem machten. Ein
über die ganze Länge und Breite des Verdecks geſpanntes
Leindwandtuch gab Schutz gegen die Sonnenſtrahlen, und
die Ausſicht nach allen Seiten war durch nichts gehindert.
Der Rio San Juan, welcher bei einer Breite von
hundert bis abwechſelnd zu vierhundert Yards mit ſeinen
Windungen eine Länge von 128 engliſchen Meilen hat, iſt,
wie bereits früher erwähnt, der einzige Ausfluß der Nica—
ragua Binnenſeen. Die Vortheile, welche er einem zu
ſchaffenden Canal bietet, ſind jedoch ſehr überſchätzt worden,
da ſeine Tiefe zu Zeiten ſehr gering iſt und in der trockenen
Jahreszeit ſtellenweiſe kaum zwei Fuß erreicht. Die zahl—
reichen Stromſchnellen und Untiefen bilden alsdann für
die Schifffahrt faſt unüberſteigliche Barrieren. Während
der Regenzeit oder kurz nach derſelben — wie zur Zeit
meiner Reiſe der Fall war — iſt jedoch die Maſſe des
Waſſers in ihm ſehr bedeutend.
Von dem Dampfer, der uns von Grey Town nach
New⸗York bringen ſollte, war immer noch nichts zu hören.
Auf's Gerathewohl und über das Schickſal des New-Yorker—
Dampfers gänzlich im Dunkeln, fuhren wir den San Juan
Fluß hinunter, mit der unwillkommenen Ausſicht, in dem
ungeſunden Grey Town wenigſtens auf eine Woche Quar—
tier beziehen und dort die Ankunft des erſehnten See—
Steamers abwarten zu müſſen. Da es ſchon öfters vor—
346
gekommen, daß die Paſſagiere auf dieſer Linie wochenlang
auf eigene Unkoſten auf dem Iſthmus verweilen mußten,
ehe die Dampfer von San Francisco oder New-York an—
langten, welche ſie weiter befördern ſollten, ſo verſetzte das
Ausbleiben der Nachrichten vom New-Yorker Steamer uns
Alle in eine keineswegs heitere Stimmung, welche ſich bei
minder reſignirten Geiſtern in ungezählten Verwünſchungen
auf die Tranſit⸗Compagnie Luft machte. Sobald wir je—
doch den San Juan hinabfuhren und ſich rechts und links
vor unſern Blicken die herrlichſte Tropen-Vegetation ent—
faltete, verſchwanden Mißmuth und Feindſeligkeit. Jeder
ſuchte die Gegenwart zu genießen, und überließ es der
Zukunft, für unſer Schickſal zu ſorgen.
Die Ufer, welche zuerſt ſumpfig waren, wurden feſter
je weiter wir kamen. Binſen und Schilfrohr machten den
ſchön geformten Bäumen der Tropennatur Platz, während
das ſaftig⸗dunkelgrüne Laubwerk unzähliger, unſerer nordi—
ſchen Pflanzenwelt verwandter Baumarten den Rahmen des
Gemäldes bildeten. Cocos- und Bananenbäume mit ihren
in dichten Büſcheln von den Kronen hängenden Rieſenblättern,
unter denen ihre Früchte einladend hingen, drängten ſich
abwechſelnd in langen Reihen an die nahen Ufer; wie
Mauern ſtanden die durch unzählige Schlingpflanzen —
Lianen — mit einander verwobenen Bäume und Sträucher
in langen Fagaden auf beiden Ufern da; überall reichte die
üppigſte Vegetation bis hart an's Waſſer und ſogar bis in
daſſelbe hinein, als ob die Mutter Natur kein Fleckchen
Erde unbenutzt laſſen wolle, um den Ausfluß des ſchönſten
der Seen Amerika's mit dem Schmucke tropiſcher Rieſen—
guirlanden zu kränzen.
Je weiter wir kamen, um ſo großartiger zeigte ſich
uns die Tropennatur, ſo daß das Auge zuletzt faſt er—
müdete, die Pracht derſelben zu faſſen. Auch die Thier—
347
welt, die Beſitzerin dieſer herrlichen Wildniſſe, fing an, ſich
hier zu regen, ſchien jedoch das in ihr Heiligthum ein—
dringende, Feuer ſchnaubende, ſchwimmende Ungeheuer des
Menſchen mit keineswegs freundlichen Augen zu betrachten.
Große, langgeſchwänzte Papageyen, mit feuerrothem Ge—
fieder, flogen ſchreiend über den dunklen Wald, oder ſaßen,
unwillig ihre Federn ſpreizend, auf nackten Aeſten da;
ſchneeweiße, langbeinige Reiher und andere, mir unbekannte
Waſſervögel ſtanden am nahen Ufer und ſtreckten ihre lan—
gen Hälſe mißtrauiſch zu uns herüber; mit einem wahren
Freudengeſchrei wurden die erſten Affen begrüßt, die ſich,
an den hohen Aeſten eines mächtigen Cibeba-Baumes mit
ihren Schwänzen hängend, gemüthlich hin und her ſchaukel—
ten und uns Grimaſſen zuſchnitten.
Auf einmal bemächtigte ſich, ob des augenſcheinlichen
Hohns dieſer das menſchliche Antlitz lächerlich machenden
Zweibeinsthiere, kriegeriſche Wuth faſt ſämmtlicher Paſſa—
giere. An fünfhundert Piſtolenkugeln ſauſ'ten mit einer
knatternden Salve den Affen an den Ohren vorbei, und
die Flucht derſelben, wie ſie ſich mit ihren Schwänzen von
Aſt zu Aſt ſchwangen und laut aufſchreiend in's Dickicht
eilten, wurde von uns mit Siegesgejauchze gefeiert und mit
donnerndem Hurrah begleitet, als ob wir ſoeben eine Bri—
gade feindlicher Reiter in die Flucht gejagt hätten.
Von jetzt an war nichts Lebendiges mehr vor unſern
Piſtolenkugeln ſicher. Papageyen, Reiher, Vögel aller Art,
Affen — Alles mußte vor unſern Salven flüchten, welche
öfters wie Pelotonfeuer ein donnerndes Echo in den nahen
Wäldern wachriefen. Alligators jedoch, von welchen der
Fluß wimmeln ſoll, die wir weit lieber als jene friedlichen
Thiere zur Zielſcheibe unſerer Kugeln genommen hätten,
zeigten ſich an dieſem Tage nirgends, da die Luft bedeckt
war und ſie nur im Sonnenſcheine an's Ufer kommen.
348
Hin und wieder ſahen wir Indianerhütten am Strande,
deren ſpitze Dächer mit getrockneten Rieſenblättern gedeckt
waren, und ein paar Mal begegneten uns Bungos, große,
flachgebaute Kähne, welche von Indianern durch lange Ruder
fortbewegt wurden. Mit donnerndem Zuruf wurden die
nackten braunen Geſtalten begrüßt, welche ſich, von unſerm
Hurrah begeiſtert, nach jedem Ruderſchlage ſämmtlich auf—
recht hinſtellten und mit der ganzen Schwere ihrer Körper
auf die Ruder fielen, um uns einen guten Begriff von ihrer
Fertigkeit im Rudern zu geben.
Nachdem wir vor Abend die gefährlichen Toro-Rapids
paſſirt, langten wir nach Dunkelwerden bei dem alten Fort
Caſtillo, vierzig Meilen von San Carlos, an, wo das
Fahrwaſſer abermals durch Stromſchnellen unterbrochen wird,
woran dieſer Fluß ganz beſonders reich iſt und welche in
dieſem Falle zu bedeutend waren, um eine Ueberfahrt mit
unſerm Dampfer wagen zu dürfen. Die Waſſer des Fluſſes
fallen daſelbſt in der trockenen Jahreszeit faſt acht Fuß
über eine Felſenbank in einer Strecke von kaum zehn Ellen;
und ſelbſt bei hohem Waſſer, wie wir es hatten, ſind die
in Stromſchnellen verwandelten Fälle für Dampfer nicht
paſſirbar.
Hier wurden wir auf zwei kleinere, unterhalb der Fälle
liegende Dampfboote verſetzt, wobei ein Jeder gezwungen war,
ſein Handgepäck ein paar hundert Schritt weit von Boot
zu Boot zu ſchleppen, indeß die Koffer auf einem Schienen-
wege in Handwagen transportirt wurden. Da wir an Bord
derſelben bis zum nächſten Morgen verweilen ſollten, ſo
mußten wir die Nacht verbringen ſo gut es ging.
Am Ufer ſtand wieder eine Reihe von Indianerhütten
und Eß⸗ und Trinkbuden — die Stadt Caſtillo —, wo wir
Gelegenheit hatten, uns für den folgenden Tag zu ver—
proviantiren, was die Mehrzahl der Paſſagiere auch ſofort
349
that, da die Ausſicht auf eine Wiederholung der famoſen
„Sandwiches“ und des Tranſit-Kaffees durchaus nicht ein-
ladend war. Kaum waren wir angelangt, ſo hatte ein
wiſſenſchaftlich gebildeter Jünger des Merkur ſeine drei
Fingerhüte ſchon wieder in Bewegung geſetzt, um den ſpiel—
ſüchtigen Californiern die Zeit zu vertreiben. Nach den
häufigen Verwünſchungen der ihn umgebenden Menge zu
urtheilen, muß der Fingerhut-Spieler mit den Geſchäften
in Caſtillo, womit er die ganze Nacht über anhielt, ſehr
zufrieden geweſen ſein.
Da für Schlafſtellen an Bord der Dampfer faſt gar
nicht geſorgt war, ſo ſtreckten ſich die meiſten Paſſagiere,
ſo gut es ging, auf Wolldecken oder Ueberröcken auf's
ringsum offene Verdeck, um ein paar Stunden Schlaf zu
erhaſchen. Mehrere der mitreiſenden Damen kamen dabei
in das Dilemma, an der Seite fremder Männer im trau—
lichen Durcheinander ruhen zu müſſen, was mancher blöden
Schönen keineswegs angenehm zu ſein ſchien. Ich hatte
das beneidenswerthe Loos, einer neuvermählten Jüdin einen
Zipfel meiner Wollendecke als Schutz gegen die feuchte
Tropennacht anbieten zu dürfen. Meine holde Nachbarin,
ein poetiſcher Charakter mit ſchmachtenden, dunklen Augen,
Römernaſe, ſchwarzem, üppigem Haar und milchweißem
Teint, die gern Heine'ſche Verſe recitirte und auf der Reiſe
ihre Flitterwochen feierte, war erſt nach langem Zureden
von ihrem gefühlloſen Gemahl zu bewegen, neben mir
Platz zu nehmen. Sie vertraute mir unter Thränen an,
daß ſie dieſe Nacht zeitlebens nicht vergeſſen werde. Als
Flitterwochen-Tour möchte ich auch die Reiſe über den
Iſthmus von Nicaragua keiner meiner Landsmänninnen —
einerlei weß Glaubens — anempfehlen, da das Poetiſche
derſelben zu ſehr an praktiſche Wirklichkeit ſtößt, um zarten
Naturen beſonders angenehm zu ſein.
350
Trotz des Lärmens und Singens am Lande, wo eine
geräuſchvolle Tanzmuſik die Vergnügungsſüchtigen zu einem
Fandango mit dunkeläugigen Signoritas aufforderte verſank
ich bald in einen tiefen Schlummer, aus dem ich nicht eher
erwachte, als bis ein ſchrilles Dampfſignal den Herumlun-
gerern und Tanz- und Spielſüchtigen am Strande die be—
vorſtehende Weiterreiſe kurz vor Tagesanbruch kundthat. Es
befanden ſich etwa vierhundert Paſſagiere auf unſerm kleinen
Dampfer, welche den Platz ſo ſehr beengten, daß eine freie
Bewegung außer Frage ſtand und man ſich nur langſam
von einer Seite des Boots nach der andern bewegen konnte.
Im Toilettenzimmerchen hatte die Tranſit-Compagnie groß—
müthig für eine zinnerne Waſchſchüſſel und ein etwa zwei
Fuß langes Handtuch geſorgt, damit wir vierhundert Paſſa—
giere uns damit den Schlaf aus den Augen wüſchen, auf
daß wir die großartige Tropennatur mit klaren Blicken be—
trachten könnten. Die delikaten „Sandwiches“ und der
ſuperbe Mocca fehlten zum Frühſtück natürlich auch nicht.
Ich nahm jedoch nicht Theil am Feſtmahl der Tranſit—
Compagnie, ſondern ſpeiſ'te bei einer freundlichen Signorita
in Caſtillo. f
Sobald es Tag geworden, konnte ich die romantiſche
Umgebung unſeres Nachtlagers deutlicher als am Abend
zuvor im Halbdunkel erkennen. Hoch auf einem ſteilen,
mit grünem Raſen bedeckten Berge lag am rechten Strom—
ufer das alte Fort Caſtillo, ein ſteinerner Bau mit runden,
vorſpringenden Eckthürmen, zinnen-gekrönten Baſtionen und
innerer Citadelle, welche den Fluß ſowohl unterhalb als
oberhalb beherrſchte und den Anſchein großer Stärke hatte,
obwohl ein weiter rückwärts gelegener Bergrücken, Nelſon's
Hügel genannt, einer angreifenden Truppenmacht eine
dominirende Stellung zu geben ſchien. Von hier aus war
auch das Fort im Jahre 1780 von Lord Nelſon, damals
351
Flottencapitain an Bord des britiſchen Kriegsſchiffes Hinchin—
broof, mit Sturm genommen worden. Von zweihundert
Mann, mit denen er zum Angriff ausrückte, brachte er nur
zehn wieder nach der Flotte zurück, pflanzte aber das St.
Georgs-Kreuz ſiegreich auf die alte Veſte. Weniger glück—
lich waren Walkers Myrmidonen, welche unter ihrem Führer
Titus — einem gewaltigen Maulhelden, der in Kanſas
Buſchklepper-Commandeur geweſen war — das Fort den
unter dem Befehl des kühnen Spencer es vertheidigenden
Coſta⸗Ricanern wieder zu entreißen ſuchten, vor dem drohen—
den Anblick der Veſte aber ſo ſehr in Furcht geriethen,
daß ſie, ohne den Verſuch zum Sturm zu wagen, ſchimpf-
licher Weiſe wieder nach Grey Town zurückkehrten, wohin
ſie unter Anführung eines gewiſſen Lockridge von New—
Orleans ausgezogen waren, um die Coſta-Ricaner wieder
vom San Juan zu vertreiben.
Ich nahm diesmal meinen Platz auf einer Bank ganz
vorn auf dem Schiffe, um einen beſſeren Ueberblick auf
beide Stromufer zu gewinnen. Bald ſetzte ſich unſer Dampf—
boot, das den ſtolzen Namen „City of Rivas“ führte und
dem ein anderer Dampfer mit dem Reſt der Paſſagiere auf
eine halbe Stunde vorangeeilt war, in Bewegung und fuhr
langſam ſtromabwärts. Eine Abtheilung nacktbeiniger Ein—
gebornen, die am Bug poſtirt waren, ſondirte mit langen
Stangen den Fluß, der hier ſehr viele Untiefen hatte, und
war öfters genöthigt, das Schiff von Sandbänken loszu—
ſtoßen. Bei niedrigem Waſſer ſoll die Schifffahrt auf dem
untern Stromlaufe ſehr gefährlich ſein. Die Tranſit-Com⸗
pagnie hat ſchon manches Boot daſelbſt verloren, trotzdem
dieſe ſehr flach gebaut ſind und kaum zwei Fuß Tiefgang
haben. Sogar bei hohem Waſſer, wie wir es hatten,
war das Anrennen des Schiffes an verborgene Sandbänke
nichts Seltenes.
352
Nachdem wir die Wracks mehrerer Dampfer, Dent-
mäler Walkers, paſſirt hatten, verloren wir bei einer Bie-
gung des Stromes das Fort von Caſtillo aus den Augen
und fuhren, wie am Tage zuvor, zwiſchen den grünen
Waldmauern hin, die ſich majeſtätiſch, in immer wechſelnden
Formen, rechts und links am Ufer hinzogen.
Der Rio San Juan, der ein ſo ſchlammiges Waſſer
wie der Vater der Flüſſe hat, das der unverwöhnteſte
Alligator ſich nicht gemüthlicher wünſchen könnte, ſchlängelte
ſich in einer Breite von etwa vierhundert Ellen durch die
Urwildniß, welche faſt ununterbrochen überraſchend ſchöne
Anſichten zeigte. Ueberall waren die Bäume von einem
undurchdringlichen Gewirr üppig wuchernder Schlingpflanzen
durchflochten, die maleriſch von den hohen Aeſten herabhin—
gen und darunter eine grüne Fläche, einem dicht überrankten
Rieſen-Gitterwerke ähnlich, bildeten, welche hin und wieder
von Portalen, Säulengängen und reizenden Lauben unter—
brochen ward. Mitunter ſtand eine Indianerhütte, mit ge—
trockneten Blättern gedeckt, im Dickicht, und ein paar Mal
begegneten uns Bungos, die am Ufer hinfuhren, und deren
nackte Ruderer jedesmal mit Jubel begrüßt wurden. Die
meiſten Paſſagiere ſtanden ſchußfertig mit ihren Revolvern
an der Brüſtung des Dampfers und ſchoſſen auf jegliches
Lebende, das ſich am Waldesſaum rührte.
Bei den in der trockenen Jahreszeit für die Schifffahrt
ſehr gefährlichen Machuca-Stromſchnellen, auf denen das
Wrack eines untergegangenen Dampfers, von einer dichten
Pflanzenmaſſe überwachſen, eine kleine Inſel mitten im
Strome gebildet, landeten wir, um einen neuen Vorrath
von Holz als Feuerungsmaterial für den Dampfer ein—
zunehmen.
Bald befand ſich die Mehrzahl der Paſſagiere am
Lande und durchſtreifte den Urwald nach allen Richtungen,
353
um Kurioſitäten einzuſammeln, unbeforgt um Taranteln und
Schlangen, rieſige Ameiſen und giftige Kräuter, vor denen der
Capitän uns gewarnt hatte. Um eine mächtige Ceder, auf der
ſich auf einem der höchſten Zweige eine faſt vier Fuß lange,
bläulich ſchimmernde Eidechſe, Iguana genannt, ſonnte, hatte
ſich bald eine Schaar von Scharfſchützen verſammelt, welche
nach mehreren Salven das fremdartige, ganz unſchuldige Ge—
ſchöpf erlegten und im Triumph auf's Schiff brachten. Ich
war ſo glücklich, einer allerliebſten, blau- und weiß-roth ge=
ſtreiften Schlange, barber's pole genannt, zu begegnen
und ihr mit dem Knittel das Garaus zu machen. Unſer
Capitän behauptete, daß ſie eine der giftigſten Schlangen dieſer
Wälder ſei, deren Biß faſt plötzlichen Tod verurſache.
Als der Dampfer das Signal zur Weiterreiſe gab,
eilte die im Walde umherſtreifende Menge, mit rieſigen
Blättern, welche mit dolchartigen, einen halben Fuß langen
Stacheln beſetzt waren, mit Sträuchern und Blumen be—
laden, wie Macbeth's wandelnder Wald, wieder an's Schiff,
wo die Damen ſich während unſerer Abweſenheit damit
unterhalten hatten, eine Legion kleiner und größerer Fiſche,
die das Schiff umſchwärmten, mit Brodkrumen zu füttern.
Um die Mitte des Tages paſſirten wir die Mündungen
der Flüſſe Carlos und Serapiqui, die bedeutendſten Ne—
benflüſſe des Rio San Juan, welche in den Hochgebit⸗
gen von Coſta-Rica entſpringen.
Bald darauf, als das Wetter ſich gänzlich aufgeklärt,
bemerkten wir zum erſten Male einen rieſigen Alligator, der,
von der Sonne warm beſchienen, am nahen Strande ſchlum—
merte. Ein paar hundert Piſtolenkugeln, die ihm ganz un—
erwartet auf den Schuppenpanzer raſſelten, ſtörten den Be-
herrſcher dieſer Gewäſſer aus ſeinem Mittagsſchläfchen und
bewogen ihn, ſo ſchnell ſeine kurzen Beine es erlaubten,
in die feuchte Tiefe zu watſcheln. Von jetzt an mehrten ſich
23
354
dieſe rieſigen Amphibien, welche öfters die Länge von fünf-
zehn Fuß hatten, ſo ſehr, daß wir kaum Zeit fanden, unſere
Piſtolen zu laden, um ihnen beim Vorbeifahren, wenn ſie
ſich wohlbehaglich am nahen Ufer oder auf Sandbänken
im Fluſſe ſonnten, einen Freundſchaftsgruß in Geſtalt
bleierner Kugeln zuzuſenden. Ob wir welchen derſelben
wehe gethan, iſt wohl ſehr fraglich, da nur ein Schuß
in's Auge oder hinter das Schulterblatt, welches meiſtens
unterm Waſſer liegt, ihnen tödtlich ſein ſoll.
Der Jubel der Paſſagiere war grenzenlos und das
Geſchrei: „„Shoot him!“ — „Hit him: — „Give it
to him! ete.‘‘, wenn die rieſigen Thiere unbeholfen vor
unſern Kugeln flüchteten, wollte gar kein Ende nehmen.
Affen, Papageyen und die zahlreich uns umflatternden
großen und kleinen Vögel waren jetzt ſicher vor unſern
Geſchoſſen, welche nur die gehaßten Amphibien ſuchten.
Oefters wurden dieſe von mehreren Kugeln getroffen, ohne
daß ſie ſich nur gerührt hätten; aber ein halbes Dutzend
oder mehr blauer Bohnen, die ihnen an den Schädel raſſel—
ten, bewogen ſie jedesmal zum ſchleunigen Rückzuge. Das
Knallen und Hurrahrufen behandelten ſie mit ſtiller Ver—
achtung, und ſelbſt der nur fünfzig Schritte vor ihnen vor—
beirauſchende Dampfer wurde von ihnen gänzlich ignorirt.
Nachmittags paſſirten wir mehrere niedliche Wohnungen,
welche in reizenden Bananenhainen lagen, mit ſauberen
Gärten dabei, voll von tropiſchen Gewächſen und ſchim—
mernden Blumen. Männer, Frauen und Kinder ſtanden
unter den von Lianen überrankten Verandas und grüßten
uns mit flatternden Tüchern. Dann ſangen Vögel im Wald
fremde Lieder, und die bunten Farben großer Papageien
ſchimmerten im dunklen Grün der Palmenkronen; vom
obern Deck des Dampfers ertönten die frohen Klänge eines
Waldhorns, dem ein Schweizer herrliche Töne entlockte,
355
und welche das Echo jauchzend von fernen Waldmauern
zurückrief. Im Hintergrunde der Landſtraße zeigte ſich
höheres Land, auf dem der Wald fein dunkelgrünes Laub—
dach wellenförmig emporſteigend in den blauen Aether ge—
baut —, und dabei ein himmliſches Wetter, wie es nicht
ſchöner zu denken war, eine Luft, geſchwängert mit dem
erfriſchenden Dufte der vom geſtrigen Regen noch feuchten
tropiſchen Rieſenwaldungen — wahrlich eine Reiſe, die mir
ewig unvergeßlich bleiben wird!
Leider ſollte unſere Feſtfahrt noch kurz vor ihrem
Ende durch einen Schreckensunfall unterbrochen werden,
der alle Heiterkeit hinwegſcheuchte. Als wir gegen Abend
eine Anzahl von Inſeln und Stromverzweigungen, worunter
den rechter Hand abfließenden, den Eldorado, paſſirt
hatten und in der Dämmerſtunde nur noch eine Meile von
Grey Town entfernt waren, erſcholl plötzlich der Schreckens—
ruf: „Ein Mann über Bord!“ — Kaum hatten wir den
Unglücklichen geſehen, wie er mit den dunklen Wogen kämpfte,
als ſchon fein Todesſchrei über die Waſſerfläche tönte.
Ein rieſiger Alligator riß ihn vor unſern Augen in die
finftere Tiefe. Das Opfer des ſchrecklichen Todes war
einer der Zwiſchendecks-Paſſagiere, ein Franzoſe, der aus
Unachtſamkeit dem ganz freien Bootrande zu nahe gekommen
und über Bord gefallen war.
Der Name und die Heimath deſſelben konnten leider
nicht ermittelt werden, da der Capitän es nicht der Mühe werth
erachtete, ſämmtliche Reiſende nach der Paſſagierliſte aufzu—
rufen, blos um einen Zwiſchendeck-Paſſagier, und zwar nur
einen Franzoſen, zu identificiren. Jahre lang vielleicht hatte
dieſer den unzähligen Gefahren und Mühſeligkeiten des Le—
bens in den californiſchen Goldminen getrotzt, um die Noth
der Seinen zu erleichtern, kehrte nun heim nach dem ge—
liebten Frankreich mit ſeinen Erſparniſſen, und reiſ'te, wie
23 *
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ſo viele Andere, im Zwiſchendeck, um möglichſt viel von
ſeinem Erworbenen mit in die Heimath zu bringen. Daheim
erwarteten ihn vielleicht Eltern und Geſchwiſter. Eine Gattin
mit blühenden Kindern zählte vielleicht die Stunden und
Tage, welche noch vergehen mußten, ehe ſie den ſo lange
von ihr Getrennten wieder an die klopfende Bruſt preſſen
konnte. Ach! die Stunden und Tage werden ſich in Monde
und Jahre dehnen; die Gattin wird gramgebrochen ſterben,
und die blonden Locken der Kinder wird der Schnee des
Alters bleichen, wenn die Hoffnung, den lang Erſehnten
wiederzuſchauen, ſchon längſt zu Grabe getragen worden iſt.
Nicht trauernde Liebe weinte an der Stätte, wo die ewige
Nacht ihn ereilte; nur der Tropenſtrom rauſchte zwiſchen
finftern Urwaldsmauern ihm ein Todtenlied.
Etwas nach Dunkelwerden landeten wir, durch den
ſoeben ſtattgehabten Schreckensfall ſämmtlich in nieder—
geſchlagener Stimmung nach einer Fahrt von 83 engliſchen
Meilen, ſeit wir am Morgen Caſtillo verlaſſen, an dem
Quai von Grey Town, auch San Juan de Nicaragua
genannt. Der von New-York erwartete Dampfer war
noch nicht angelangt, und die Tranſit-Compagnie weigerte
ſich, uns in der Stadt Freiquartiere zu geben, was einen
Sturm der Entrüſtung hervorrief. Nach längerem, zornigem
Debattiren gab die Geſellſchaft zuletzt in ſo weit nach, daß
den Paſſagieren der erſten Cajüte Freibillette nach den ver—
ſchiedenen Hötels der Stadt gegeben wurden, während die
der zweiten Cajüte und die Zwiſchendecks-Paſſagiere nach
wie vor auf die delicaten „Sandwiches“ und den Tranſit—
Kaffee angewieſen waren, oder auch ſich ſelbſt in der Stadt
beköſtigen durften, und entweder am Ufer in offenen Scheunen
oder auf dem Verdeck der Fluß-Dampfer auf Unkoſten der
Compagnie, oder auch für's eigene Geld in beliebigen Hötels
ſchlafen durften.
357
Nach einem beſchwerlichen Marſche von faſt einer
Meile, in finſterer Nacht und in einer mir uubekannten
Stadt, in der die faſt häuſerloſen Straßen mitunter durch
Buſchwerk und ſumpfige Wieſen führten, und wobei ich ge—
zwungen war, meinen vierzig Pfund ſchweren Handkoffer
ſelber zu tragen, langte ich endlich tranſit-ſatt in meinem
erſehnten Quartier, dem „Weſtern Hötel“, an, wo mein
Wirth, ein höflicher Africaner, mir ein trauliches Zimmer—
chen von etwa acht Fuß im Geviert als Boudoir anwies,
welches außer einem maſſiven Bett nur noch einen mit
himmelblauem Damaſt überzogenen Lehnſtuhl innerhalb ſeiner
vier Wände als Mobiliar enthielt. An dem himmelblauen
Lehnſtuhl fehlte ein Bein, was ich leider nicht eher entdeckte,
als bis ich arglos in ihm Platz nahm und in einer ſehr
unpoetiſchen Stellung plötzlich ſeitwärts auf den Boden
glitt. Nachdem ich mein keineswegs mit ſchneeiger Lein—
wand überzogenes Bett erſt gehörig recognoscirt und einen
giftigen Tauſendfüßler, der es ſich unter meinem Kopfkiſſen
bequem gemacht, ermordet, begab ich mich zur Ruhe und
entſchlummerte bald, trotz biſſiger Ameiſen und brummen—
der Musquitos, und träumte von Tropenwäldern, Alli—
gatoren und ertrinkenden Franzoſen, bis der neue Tag durch
mein ſcheibenloſes Gitterfenſter dämmerte.
Unſer Aufenthalt in Grey Town hatte wenig An—
ziehendes. Die Stadt, welche ſehr weitläufig gebaut iſt,
liegt in einer ſumpfigen, von Wald umgebenen Niederung,
deren eine Seite an das Meer ſtößt, und ſoll für nicht
Acclimatiſirte ſehr ungeſund ſein. Einem Fremden hat
dieſelbe nichts zu bieten, wodurch ihm ein längerer Aufent—
halt in ihren Mauern angenehm gemacht werden könnte.
Die in ihren Mauern zerſtreut daſtehenden Cocos-, Palm⸗,
Brotfrucht⸗, Bananen- und andere tropiſche Bäume verlieren
das Intereſſe, ſobald die Neuheit vorüber iſt. Das Wetter
358
bei Tage war ſchwül und regneriſch, und Musquitos und
Ameiſen thaten ihr Möglichſtes, Einem die Nächte gründ—
lich zu verleiden.
Etwas Unterhaltung gewährte am zweiten Abende un—
ſeres Aufenthaltes eine blutige Schlägerei zwiſchen Einge—
bornen und Jamaica-Negern, welche letztgenannte, von der
Inſel Jamaica eingewanderte Menſchenklaſſe ſowohl auf
dem Iſthmus von Nicaragua als in Panama ſehr zahlreich
vertreten iſt und durch ihre grenzenloſe Frechheit, Faul—
heit und Unſauberkeit allen Reiſenden den widerwärtigſten
Eindruck hinterläßt. Das Gejammer und Zetergeſchrei
von den mit fliegenden Haaren und händeringend auf und
ab rennenden ſchwarzen und braunen Frauen, das Fluchen
in Spaniſch und Engliſch von den ihre langen Meſſer
ſchwingenden, halb betrunkenen Männern — dieſer Bedlams—
ſkandal in halbdunkler Nacht übertraf an Wildheit und Roh—
heit Alles, was ich noch je in dieſer Art geſehen hatte.
Froh waren wir, als nach zwei Tagen der ſtattliche
Seedampfer „Santiago de Cuba“ auf der Rhede anlangte,
und ſämmtliche Paſſagiere auf kleineren Dampfſchiffen nach
einer vor dem Hafen gelegenen Sandbank, Punta Arenas,
gebracht und von dort in Brandungsbooten zum Ocean—
dampfer gerudert wurden. Die Fahrt durch die Brandung
war der Schlußakt des Tranſits, der in unſerm Fall ohne
Unglück bewerkſtelligt wurde, bei ſtürmiſchem Wetter jedoch
ſehr gefährlich ſein ſoll. Das Waſſer der Bai wimmelt
nämlich von Alligators und Haifiſchen, welche die Rettung
über Bord Fallender ſchlechterdings unmöglich machen, da
dieſe von den Ungeheuern ſchneller fortgeſchnappt werden,
als man eine helfende Hand nach ihnen ausſtrecken kann.
Im Jahre vor meiner Reiſe ſchlug ein mit engliſchen Ma—
troſen bemanntes Boot im Hafen um, deſſen Inhaber ſämmt—
lich, ſo zu ſagen im Handumdrehen, aufgefreſſen wurden.
359
Ich poftirte mich, hiervon unterrichtet, wohlweislich bei der
Ueberfahrt inmitten des ganz bedenklich wackelnden Bran—
dungsboots, und war froh, als ich das ſichere Verdeck des
„Heiligen Jago“ betrat.
Die Zeit des Tranſits, welcher nach dem Verſprechen
der Compagnie in höchſtens vierundzwanzig Stunden be—
werkſtelligt werden ſollte, betrug von der Landung in San
Juan del Sur bis wir an Bord des Dampfers „Santiago“
ſtiegen, gerade fünf Tage und fünf Stunden, könnte je—
doch mit beſſeren Verbindungsmitteln leicht in zwei Mal
vierundzwanzig Stunden bewerkſtelligt werden. Was die
Bekanntmachung von der „freien Beköſtigung auf dem Iſth⸗
mus“ anbelangt, ſo war dieſelbe von der Tranſit-Compagnie
wohl nur als unſchuldiger Scherz gemeint, der Niemandem
beſonders wehe thun würde. Die auf einer ſolchen Reiſe
gehabten Widerwärtigkeiten vergißt man ja ſo wie ſo bald!
Ich meinestheils werde das ſchöne Nicaragua, den Garten
von Central-Amerika, in wohlwollendem Andenken behalten,
und fühle mich durch das Abenteuerliche des Tranſits und
durch die reiche Tropenwelt, welche ich dort geſchaut, tau—
ſendfach für alle Unannehmlichkeiten der Reiſe entſchädigt.
2, Eine Dampferfahrt auf dem Ned- River,
Unter allen zahlreichen Strömen Nordamerika's zeichnet
ſich der Red-River, der Rothe Fluß, von den Indianern
nach feiner Farbe Ke-che-a-que-ho-no, der Strom der
blutigen Waſſer benannt — nicht zu verwechſeln mit dem
in Minneſota entſpringenden und nördlich ſtrömenden, in
den Winipeg-See ſich ergießenden Red-River of The North
— durch ein ganz beſonders gefährliches den Dampfſchiffen
unheilbringendes Fahrwaſſer aus. Gingen doch binnen
10 Monaten ſeit der Wiederaufnahme des Handelsverkehrs
nach dem großen Bürgerkriege auf ſeinem untern Strom—
laufe, zwiſchen Shreveport und ſeiner Mündung in den
Miſſiſſippi, 34 — ſage vierunddreißig — Dampfboote
darauf zu Grunde! Und doch iſt die Dampfſchifffahrt
auf dieſem ſeinem untern Stromlauf im Vergleich zum
obern nur Kinderſpiel.
Auf den ausgedehnten „Salzebenen“ im äußerſten Nord—
weſten des Staates Texas und weſtlich von den Höhenzügen
der Waſhita⸗Berge, in einer Entfernung von 2100 engliſchen
Meilen von feiner Mündung in den Miſſiſſippi, liegen die
Quellen des blutrothen Ke-che-a-que-ho-no. Scheinbar
grenzenloſe Ebenen, blendend weiß, wie mit friſch gefallenem
Schnee bedeckt, lehnen ſich zu beiden Seiten an die Ufer
des jugendlichen Stromes.
Das dieſe Ebenen bedeckende Salz hat ſeinen Urſprung
in unzähligen Salzquellen, die aus dem Boden empor—
361
ſprudelu, deren Waſſer ſich auf der Fläche ausbreitet und
ſchnell in der brennenden Sonne verdunſtet. Das Salz
bildet ſtellenweiſe eine tiefe Kruſte, ſo daß man es buch—
ſtäblich aufſchaufeln kann, und würde, wenn der Transport
deſſelben nicht ſo koſtſpielig wäre und ein Schienenweg
dieſe entlegenen Gegenden mit der civiliſirten Welt ver—
bände, bald einen bedeutenden Ausfuhrartikel des nördlichen
Texas bilden und dem gegenwärtig von Liverpool aus nach
New-Orleans und andern Häfen des Südens in großen
Quantitäten eingeführten Grobſalz eine nicht zu verachtende
Concurrenz machen.
In Folge des Urſprungs des Red-River auf dieſen
Salzebenen hat ſein Waſſer einen eigenthümlich brackigen
Geſchmack. Für die Dampfboote iſt das im Innern der
Dampfkeſſel ſich anſetzende Salz ganz beſonders läſtig. Da
ſie keine Deſtillirapparate, wie die Seedampfer mit ſich
führen — was auch nicht nöthig iſt, weil der Salzgehalt
des Red-River-Waſſers, namentlich im untern Stromlaufe,
nur gering iſt — ſo iſt ein häufiges Reinigen der Dampf—
keſſel nicht zu vermeiden, was dem Red-River ſchon manchen
ungalanten Fluch ſeitens der ihn gelegentlich beſuchenden
Miſſiſſippi⸗Dampfbootfahrer eingetragen hat.
Die Salzebenen hinter ſich laſſend, durchzieht der Red—
River weite Prairien, die Wohnung zahlloſer Biſons, welche,
von der unaufhaltſam nach Weſten vorwärts ſchreitenden
Civiliſation aus ihrer alten Heimath, vom Colorado, Brazos
und Trinity, verdrängt, dort einen zeitweiligen Znfluchts—
ort gefunden haben. Aus der Ebene tretend, ſtrömt er,
bis zu ſeiner Mündung zwiſchen dicht bewaldeten Ufern
hinbrauſend, am ſüdlichen Fuße der Waſhita-Berge hin, bis
er am öſtlichen Endpunkte der Ausläufer derſelben den ihm
an Größe gleichen Waſhita-Fluß aufnimmt, der am nörd—
lichen Fuße der Waſhita-Berge hinfließt und dieſe mit
dem Rothen Fluſſe gleichſam eingekeilt hat.
362
Die Waſſermenge des Red-River ift an dieſem Punkt,
etwa 500 engliſche Meilen von feinen Ouellen, wo das
Städtchen Preſton ſteht, nur unbedeutend. Die von ihm
durchſtrömten Prairien find ſehr waſſerarm und die Waſhita—
Berge nicht bedeutend genug, um einen Fluß von der Länge
des Red-River das ganze Jahr hindurch gleichmäßig mit
Waſſer zu ſpeiſen, was ſich bis nach Shreveport hinunter be—
merklich macht. Durch plötzliche Regengüſſe und das gleich—
zeitige Schmelzen des Schnees auf den Waſhita-Bergen
nimmt ſein Waſſergehalt jedoch mitunter dermaßen zu, daß
er für Dampfboote bis auf eine Entfernung von 1200
engliſchen Meilen von ſeiner Mündung, bis an den Einfluß
des Kiamitia (Kei⸗a⸗miſch), namentlich in den Frühlings-
monaten, zugänglich wird. Einzelne Dampfer haben bei
beſonders hohem Waſſerſtand ſogar ſchon das Städtchen
Preſton erreicht.
Durch das plötzliche Schwellen ſeiner Gewäſſer richtet
der Red⸗River mitunter ungeheure Verheerungen an. Am
gefürchtetſten iſt das ſogenannte Juni-Hochwaſſer, welches
durch das Schmelzen der auf den Waſhita-Bergen lagern—
den Schneemaſſen verurſacht wird. Oft iſt das obere Strom—
bett halbe Jahre lang ſo waſſerarm, daß Mann und Roß
mit Leichtigkeit hinüber paſſiren können; die Dampfſchifffahrt
iſt gänzlich unterbrochen, und der Handel leidet großen Scha—
den. Plötzlich jedoch kommen gewaltige Waſſermaſſen das
gewundene Thalbett herabgebrauſ't. Die Gewäſſer ſcheinen
gleichſam lebendig zu ſein von ſchwimmenden Baumſtämmen,
die ſich oft ineinander feſtklemmen und natürliche Flöße oder
halbverwitterte, unbeſchreiblich wüſt ausſehende Baumſtamm⸗
barricaden, namentlich an den Uferſtrömungen, bilden.
Man male ſich ein Bild von ſolch einer verheerenden
Fluth, wie z. B. die vom Jahre 1843, der ſchrecklichſten
der Ueberſchwemmungen, welche ſeit Menſchengedenken das
363
Red⸗River⸗Thal verwüſtet haben, als der Fluß 40 Fuß in
dreizehn Stunden ſtieg, das Land und die reichen Pflan—
zungen auf beiden Ufern meilenweit überfluthend, Baum⸗
ſtämme wie Mauerbrecher durch die Häuſer ſchleudernd,
Zäune und alles nicht Niet- und Nagelfeſte mit ſich fort-
führend, und denke ſich dabei Dutzende von Dampfern,
welche, das hohe Waſſer benutzend, ſich durch die ſchwim—
menden Baumſtamm-Maſſen ſtromaufwärts arbeiten und
ſchwarze Rauchwolken über die Wälder rollen; man ſtelle
ſich vor das dumpfe Brauſen der ſeitwärts durch die Wal—
dungen hinſtürzenden Gewäſſer, untermiſcht mit dem klagen
den Gebrüll ertrinkender Rinder, und man wird mit mir
übereinſtimmen, daß der blutige nordamerikaniſche Südweſt—
ſtrom in entfeſſelter Kraft ein recht unbändiger Sohn der
Wildniß iſt.
Glücklicherweiſe ſind ſolche Fluthen, wie ſie beſonders
in den Jahren 1843, 1844 und 1849 ſich ereigneten, eine
Seltenheit, und nur in ſolchen Ausnahmefällen werden die
Pflanzungen überſchwemmt, da die Ufer an 30 Fuß überm
niedrigen Waſſerſtand erhaben ſind; aber Fluthen von 15
bis zu 25 Fuß Höhe gibt's in jedem Jahre, die, ſtatt
Schrecken einzuflößen, mit Freuden begrüßt werden. Das
Hochwaſſer giebt nämlich den Dampfern die Möglichkeit,
den Fluß hinaufzufahren und die an ſeinen Ufern auf Trans⸗
port wartenden Baumwollenballen ſtromabwärts nach New-
Orleans zu bringen.
Da das Hochwaſſer jedoch faſt eben ſo ſchnell wieder
fällt als es geſtiegen iſt, ſo iſt es keine Seltenheit, daß
einer oder der andere Dampfer, ehe er wieder ſtromab—
fahren kann, auf einer Sandbank feſtſitzen bleibt und dort mit
ſeiner reichen Ladung auf das nächſte Hochwaſſer warten muß.
Seinen Namen verdankt der Fluß, wie ſchon bemerkt,
ſeiner braun⸗rothen Farbe, die er vom Boden, welchen er
364
durchſtrömt, einer röthlichen Thonerde, annimmt, die für
den Ackerbau ganz beſonders ergiebig iſt. Fruchtbareren
Alluvialboden, als den am Red-River, gibt es wohl nirgends
in der Welt, ſelbſt die Niederungen des Nil und die
Miſſiſſippi⸗Bottoms nicht ausgenommen. Dreiviertel bis
zu einem Ballen Baumwolle (der Ballen zu 500 Pfund,
gereinigt, gerechnet = 1750 Pfund gepflückt) auf den Acker
iſt der gewöhnliche Ertrag des Bodens, der ſich in einzel—
nen Fällen bis auf 3000 Pfund geſteigert hat.
Wegen ſeiner beſtändigen Krümmungen gleicht der Red—
River dem Mäander der Alten. Wer je auf ſeinen Ge—
wäſſern eine Vergnügungs- oder Geſchäftsreiſe gemacht hat,
der hat ſich ſicherlich darüber geärgert, daß es ein Ding
der Unmöglichkeit iſt, bei Tag auch nur ein halbes Stünd—
chen gemüthlich auf dem Dampferdeck oder in ſeiner Koje
im Schatten zu ſchlummern. Bald ſcheint die Sonne von
rechts her, bald von links, bald brennt ſie einem den Rücken
und bald blendet ſie die Augen, gerade als ob ſie um einen
herumliefe. Auf einer Stelle macht der Strom eine Bie—
gung von 27 Meilen* und kommt dem Halſe der Krümmung
wieder auf anderthalb Meilen nahe, ehe er in gänzlich plan—
loſer Weiſe weiter fließt. Doch ſind die Krümmungen
meiſtens nur kurz. Die Entfernung von Shreveport nach
Rowland am obern Red-River, die in gerader Linie etwa
hundert Meilen beträgt, iſt auf dem Fluß über ſechshundert
Meilen lang.
Alle jene Widerwärtigkeiten der Schifffahrt auf dem
Red⸗River kommen jedoch nicht in Betracht gegen die—
jenigen, welche durch die unzähligen ſchwimmenden oder
im Strombett feſtſitzenden Baumſtämme verurſacht werden.
*) Unter Meilen ſind allemal engliſche Meilen zu verſtehen.
Eine engliſche Meile = 1760 Yards. 8100 Pards find 1 deutſche
Meile. 1
365
An den vielen kurzen Biegungen ſetzen ſich dieſe nament—
lich leicht feſt. Oft ſieht man ſie im wildeſten Chaos dort
aufgethürmt und in großen Strecken in einander verflochten,
oder auch vereinzelt ſtromab treiben. Bei niedrigem Waſſer—
ſtand rennen ſich viele dieſer ſchwimmenden Stämme mit
ihren das Waſſer einſaugenden und ſchwereren Wurzeln
im Grunde feſt. Der Stamm, von dem Aeſte und Rinde
bald von andern vorbeiſchwimmenden Baumkoloſſen abge—
riſſen werden, wendet ſich mit der oberen Spitze ſtromab
und ſteht wie eine Palliſade im Waſſer da. Steigt das
Waſſer, ſo wird der Stamm von demſelben ganz oder theil—
weiſe verdeckt, und der „Snag“ iſt fertig, der Todfeind
aller, insbeſondere der Red-River-Dampfer.
Ein nur ſchwach vom Waſſer bedeckter Snag, der ſich
mitunter leiſe aus der dunklen Fluth hebt, die ſein Haupt
kräuſelnd umſpielt, iſt ein ſehr ungemüthliches Schauſpiel
für den Reiſenden, namentlich wenn der Dampfer ſcheinbar
gerade auf ihn losjagt, und der Pilot zum Spaß verſucht,
wie nahe er wohl an ihm vorbeifahren könne, ohne das
Schiff aufzuſpießen. Bei einer Schnelligkeit von zehn oder
zwölf Meilen in der Stunde auf einen Snag zu rennen,
kann einem Red⸗River-⸗Dampfer jede Minute widerfahren.
Den Erfolg, wenn jener durch die Planken in den untern
Raum des Dampfers bricht, kann ſich der Leſer wohl leicht
vorſtellen.
Oberhalb Shreveport, wo der Fluß nur wenig Gefäll
hat, haben ſich Millionen von Stämmen in einander ge—
ſchoben, und eine feſte Maſſe, das weit bekannte und be—
rüchtigte ſogenannte „Red-River-Raft“, gebildet. Die Ober-
fläche des Fluſſes iſt dort von feſt in einander geſchobenen
Baumſtämmen überdacht. Büſche und große Cotton-Wood⸗
Bäume (Populus Canadensis) wachſen mitten auf dem
Raft; Rehe gehen wie auf einer Brücke hinüber.
366
Ehedem erftredte ſich daſſelbe 150 Meilen bis nach
Loggy Bayou, 110 Meilen unterhalb Shreveport. Ein ge⸗
wiſſer Shreve, der Gründer der Stadt Shreveport, ſchaffte
den größten Theil des Raft im Jahre 1841 fort, indem
er die Stämme einzeln in Stücke ſägen und vom untern
Ende deſſelben ſtromab ſchwimmen ließ. Der obere Theil
des Raft wurde nie ganz fortgeſchafft. Shreve that es
nur theilweiſe, indem er einen Canal, der Mitte entlang,
hindurchſägen ließ, der aber bald wieder von neuem Treib—
holz verſchloſſen ward. Im Jahre 1856 unternahm es ein
gewiſſer Fullner, ein Kentuckier, dem die Staaten Louiſiana,
Arkanſas und Texas dazu die Summe von 150,000 Dollars
vorſchoſſen, zum zweitenmal. Er hatte nur eine kurze
Strecke des Raft fortgeſchafft, als ein Hochwaſſer die ge—
öffnete Stelle wieder mit loſen Stämmen füllte, worauf
er, mehr auf den Vortheil ſeiner Taſche als auf den
Nutzen des Landes bedacht, mit dem Unternehmen auf—
hörte, das ihm, beiläufig ſei's bemerkt, die Kleinigkeit von
140,000 Dollars eingetragen haben ſoll — alſo ein gutes
Geſchäft war. Vor einigen Jahren, als bei außer—
gewöhnlich trockenem Sommer der Waſſerſtand im obern
Red-River ganz beſonders niedrig war, ſprach man in
Texas allen Ernſtes davon, das einer Brücke ähnliche Raft
auszubrennen; aber es blieb beim Wollen, da der Krieg
dort zu Lande die Gemüther zu ſehr beſchäftigte, als daß
das Volk ſich hätte entſchließen können, dieſes Werk frei—
willig zu unternehmen.
Daß das Raft weggeſchafft werden kann, unterliegt
keinem Zweifel. Der Vortheil, welchen die Schifffahrt auf
dem obern Red-River dadurch gewinnen würde, wäre ein
ungeheurer. Die aller Berechnung ſpottenden Ueberſchwem—
mungen würden aufhören, oder ſich doch bedeutend ver—
ringern, da das Waſſer alsdann einen regelmäßigen Abfluß
367
hätte, und Damfboote könnten faſt das ganze Jahr hin-
durch den Fluß bis auf eine Entfernung von etwa 1200
Meilen von ſeiner Mündung hinauf befahren. Auch würde
ein bedeutender Landſtrich außerordentlich fruchtbaren Bo—
dens, der gegenwärtig von flachen Seen bedeckt iſt, durch
Wegſchaffung des Raft trocken gelegt und dem Anbau zu-
gänglich gemacht, was allein ſchon alle Koſten des Unter-
nehmens zehnfach einbringen würde. Gegenwärtig exiſtiren
noch etwa 30 Meilen vom Raft. Es ſind aber viele Stellen
offenen Waſſers darin, und die längſte feſte Strecke beträgt
nur ſieben und eine halbe Meile, das Hauptquartier der
unzähligen Alligators vom Red-River.
Die Dampfboote, welche den obern Fluß befahren,
umgehen das Raft vermittelſt einer Kette von Seen und
Bayous, welche man durch Canalbauten der Schifffahrt
mehr zugänglich gemacht hat. Sie bedecken das Land an
dieſer Stelle meilenweit, und ohne ſie wäre der obere Red—
River durch das Raft gegen die Schifffahrt ſtreng ver—
ſchloſſen. Nach rechts hin dehnen ſich die in einander ver—
ſchlungenen Seen und Bayous 50 Meilen weit bis nach
der Stadt Jefferſon aus, dem Stapelplatz der reichen Counties
am obern Red-River, welche, wenn die Schifffahrt auf dem
obern Fluß unterbrochen iſt, von hier aus mit Shreveport
und New⸗Orleans in Verbindung treten.
Von Shreveport aus, das ſich zu einer blühenden
Handelsſtadt emporgeſchwungen hat,“ der bedeutendſten am
* Die Stadt Shreveport hat als der öſtliche Terminus der gegen-
wärtig im Bau begriffenen Texas Pacific-Eiſenbahn, deren weſtlicher
Ausgangspunkt der Seehafen St. Diego im ſüdlichen Californien
werden ſoll, erhöhte Bedeutung erlangt. Durch die furchtbare
Gelbesfieber-Epidemie, welche die Stadt im Jahre 1873 heim—
ſuchte, iſt ihr Aufſchwung nur zeitweilig gehemmt worden und eine
bedeutende Zukunft ſteht ihr ohne Frage in Ausſicht.
368
Red⸗River, mit der nach ſüdlichen Begriffen nicht unbedeu—
tenden Einwohnerzahl von 5000 Seelen, welche jedoch
den Handel einer deutſchen Binnenſtadt von wenigſtens
ſechsfacher Bevölkerung vertreten, iſt die Schifffahrt bis zur
Mündung des Fluſſes, eine Strecke von 500 Meilen, das
ganze Jahr hindurch offen. Nur die Jahre 1853 — 1855
bildeten eine Ausnahme, in denen das Waſſer ſo niedrig
war, daß Dampfer nur bis nach Alexandria gelangen
konnten.
Unter den Stromſchnellen ſind die ſogenannten Falls
(Fälle), eine Meile oberhalb der Stadt Alexandria und
150 Meilen von der Strommündung gelegen, die bedeu—
tendſten, und erſchweren bei niedrigem Waſſerſtande die
Dampfſchifffahrt ganz außerordentlich. Bei hohem Waſſer
dagegen ſind dieſe Fälle kaum bemerkbar. Dort ſtehen
die Ueberreſte des vom Admiral Porter im April des Jahres
1864 gebauten Damms, durch den er das Waſſer des
Fluſſes künſtlich aufſtaute, um ſeiner Kanonenboot-Flottille
nach General Banks’ unglücklichem Feldzuge gegen Shreve—
port einen Ausweg nach dem Miſſiſſippi zu verſchaffen.
Das Waſſer im Red-River war nämlich plötzlich dermaßen
gefallen, daß die Kriegsſchiffe auf Sandbänken feſtſaßen und
nicht mehr über die Fälle, auf denen nur anderthalb Fuß
Waſſer ſtand, zurück konnten. In wenigen Tagen wurde
dieſes Rieſenwerk, wozu das Material von den aus Ziegeln
erbauten in der Nähe liegenden Zuckerſiedereien genommen
wurde, ein Denkmal der Energie der Yankees, geſchaffen;
und als das Waſſer genügend geſtiegen war, ſchoſſen die
von den Rebellen bereits als gute Beute angeſehenen
Panzerboote, vom aufgeſtauten Waſſer emporgehoben, durch
die am einen Ende des Damms nahe am Lande geöffnete
Schleuſe auf wildſchäumenden Wogen ſtromab und waren
gerettet.
369
Im Januar 1867, als ich bei ſehr niedrigem Waſſer—
ſtande den Red-River nach Shreveport hinaufreiſ'te, ver—
brachte ich einen ſehr intereſſanten Tag an dieſer Stelle.
Es nahm unſerm Dampfer zehn Stunden Zeit in Anſpruch,
um ſich über die Fälle und durch Porter's Damm zu
arbeiten. An gewaltigen, oberhalb der Fälle am Ufer be—
feſtigten Stricken zog der Dampfer unſer Schiff langſam
mit Titanenkraft gegen die wilden Waſſerſtröme aufwärts.
Zoll um Zoll eroberte der Dampf ſich das ihm von der
Strömung ſtreitig gemachte Terrain. Die in der Ferne
liegenden Ruinen von Alexandria, welche Stadt von Ge—
neral Banks auf ſeinem eilfertigen Rückzug im Frühjahr
1864 zerſtört ward, ein vor unſern Augen und ganz in
der Nähe ſo eben verſunkener Dampfer, der ſeine Baum—
wollenladung auf eine Sandbank zu retten verſuchte, zwei
Sandforts am Strande, aus deren Schießſcharten ein paar
Kanonenmündungen finſter zu uns herüberſchauten, und unſer
gegen die blutrothen Waſſer mühevoll ankämpfender Dampfer
gewährten ein mir unvergeßliches wild-romantiſches Bild.
Um dem Leſer eine Fahrt auf dem oberen Red-River,
ſowohl bei niedrigem als bei hohem Waſſerſtand, recht zu
veranſchaulichen, laſſe ich jetzt die getreue Darſtellung einer
Reiſe folgen, welche ich in den Monaten April und Mai
1867 von Rowlaud nach Shreveport zurücklegte.
Es war am Scheidetag des Monats März, als die
willkommene Nachricht in Clarksville, meinem zeitweiligen
Aufenthaltsort im nordöſtlichen Texas, anlangte, daß ein Hoch—
waſſer den ſeit mehr als acht Monaten faſt ausgetrockneten
Red⸗River anſchwelle und daß mehrere Dampfer, denſelben
benutzend auf ihm ſtromaufwärts nach Rowland fahren.
Ein jeder, der ſich im Beſitz von Baumwolle wußte,
worunter auch ich, hörte dieſe Nachricht mit Freuden, und
ich war keiner der letzten, die ſich hoch zu Roß von Clarks—
24
870
ville nach dem etwa 15 Meilen entfernten Rowland in
Bewegung ſetzten.
Daſelbſt angelangt fand ich den zwerghaften Dampfer
„George“ an dem etwa 30 Fuß ſteil abfallenden Ufer
liegen, ſo daß kaum die Kronen ſeiner Schornſteine vom
Lande aus zu ſehen waren. Das Hochwaſſer war alſo
keineswegs ein bedeutendes zu nennen. Da der George
jedoch nur zwei und einen halben Fuß Tiefgang hatte, ſo
wagte ich es doch ihm eine Partie meiner Baumwolle an—
zuvertrauen, in der Hoffnung, daß ein friſcher Waſſerzufluß
ihn über die zahlloſen Sandbänke und Untiefen hinüber—
tragen werde.
Der Morgen des 1. April dämmerte kaum, als das
ſchrille Signal unſers Dampfers das Echo in den finſtern
Wäldern am jenſeitigen Ufer, der Heimath der halb civi—
liſirten indianiſchen Nationen wachrief. Die Aprilſonne be—
mühte ſich ſcheinbar vergebens, die graue Nebeldecke von
den blutrothen Wellen des Fluſſes zu lüften, auf dem wir
langſam ſtromabwärts fuhren. Es war ſehr unangenehm
kühl, ſo daß ich froh war, mich in meine warme Decke
hüllen zu können. Die friſche Temperatur am heutigen
Morgen erinnerte an ein nördliches Klima, das mancher,
dem die Witterungsverhältniſſe dieſes Landes fremd ſind,
in dieſem Breitengrade wohl nicht erwarten möchte.
Allmählich gewannen die Sonnenſtrahlen über die mit
ihnen ſtreitenden Nebelbänke die Herrſchaft. Dieſe hoben
ſich von den Wellen und glitten von beiden Seiten des
Fluſſes über die Waldungen und Plantage-Felder nach den
nächſten Hügeln, wo ſie ſich lagerten und nach und nach
verſchwanden. Dieſe Nebel ſind die Urſache giftiger Wechſel—
fieber, welche an den Ufern des Red-River zu Hauſe ſind.
Alte Pflanzer, die mit der Natur dieſer Fieber vertraut
ſind, bauen ihre Wohnungen am liebſten in der Nähe des
371
Flußufers, wo vom Fieber weniger zu befürchten iſt
als weiter landeinwärts, wo die Nebel ſich bei Tage
ablagern.
Als es der Sonne gelungen war, die Nebel vom Fluſſe
zu verjagen, begann ich dieſen mit kritiſchen Augen zu be—
trachten, um etwaige verborgene Sandbänke und Snags zu
entdecken. Die waldgekrönten Uferbänke ragten zu beiden
Seiten 25 bis 30 Fuß über den Waſſerſpiegel empor,
weßhalb ich, um eine Ausſicht in die Landſchaft zu ge—
winnen, in dem nach Bauart aller amerikaniſchen Fluß—
dampfer ganz oben überm obern Cajütendeck des Dampfers
angebrachten Steuerhauſe Platz nahm. Dort hatte ich
Gelegenheit, mit dem Piloten eine Bekanntſchaft anzu—
knüpfen und von ihm manche intereſſante Aufſchlüſſe über
den Red-River und deſſen Umgebung zu erhalten.
Der Pilot eines amerikaniſchen Flußdampfers iſt ſo zu
ſagen die Seele des Schiffs, und hat unter allen Officieren,
den Capitain nicht ausgenommen, die verantwortlichſte
Stellung auf demſelben. Auf dem Fluſſe gleichſam geboren,
iſt er mit allen Tücken deſſelben vertraut, ſo daß ſeine
Dienſte, auf einem Strom mit ſo gefährlichem Fahrwaſſer
wie der Red-River es iſt, gleichſam mit Gold aufgewogen
werden.
Nach dem Schluſſe des Bürgerkrieges und der Wieder—
aufnahme des Handelsverkehrs im Süden hatten die Lootſen
des Red-Rivers goldene Tage. In den erſten ſechs Mo—
naten belief ſich ihr Monatsgehalt auf 1500 Dollars,
wurde aber alsdann etwas heruntergeſetzt; der unſrige er—
hielt nur noch 1000 Dollars, worüber er ſich bitter be—
klagte. Der Gehalt der Lootſen, welcher ſich vor dem Kriege
nur auf ein paar 100 Dollars monatlich belief, ſtieg ſo
hoch, einestheils, weil zuverläſſige Piloten nur noch ſelten zu
finden waren, anderntheils, weil die ſo lange unterbrochene
24 *
372
Dampfſchifffahrt durch unzählige neue Snags und Sand—
bänke außerordentlich erſchwert wurde und von Seiten des
Piloten verdoppelte Aufmerkſamkeit verlangte.
Ein ungewöhnliches Schwanken des Dampfers und ein
ſeltſam knarrendes und ſchabendes Geräuſch unter uns er—
regte plötzlich meine Aufmerkſamkeit. Der Pilot trieb das
Fahrzeug mit einigen energiſchen Glockenzügen ſofort zu
verdoppelter Eile an, und erwiederte auf meine Frage: was
es gebe? „only a bar“ (nur eine Sandbank), über welche
der flach gebaute Dampfer mit dem Boden hinkratzte.
Der Dampf war jedoch nicht im Stande, unſer Schiff ſo
leicht über die Barre hinüberzutreiben wie der Pilot es er—
wartet hatte; die Strömung faßte den Dampfer ſeitwärts,
der plötzlich eine Schwenkung machte und ſich quer über
den Fluß legte.
Ein Boot auszuſetzen, — ein Kabel an einem feſten
Baum am Ufer zu befeſtigen, womit der Dampf unſer
Schiff vermittelſt der auf dem Vordertheil des Fahrzeugs
angebrachten Dampfwinde wieder herumzog, — ſich mit
dem Rad rückwärts von der Sandbank loszuarbeiten, das
war die Sorge des Capitains, der Officiere und der ganzen
Negermannſchaft, wobei es an grimmigen Redensarten und
ſataniſchen Flüchen, namentlich ſeitens des Mate (der erſte
Officier, welcher die Mannſchaft commandirt), gegen die
Schwarzen nicht fehlte.
Sobald das Schiff wieder flott war, übernahm der Pilot
das Commando auf's Neue, leitete den Dampfer rückwärts
eine Strecke ſtromauf und nahm alsdann einen tüchtigen
Anlauf mit aller disponiblen Dampfkraft, vermittelſt deſſen
der Dampfer ſo zu ſagen über die Sandbank hinüberſetzte.
Dieſes Manöver bezeichnete der Pilot mit dem Kunſtaus—
druck „jumping a bar“ (über eine Sandbank ſpringen); doch
kann ich nicht ſagen, daß dieſer Kraftſprung des Dampfers,
373
der dabei in allen Fugen knackte, indeß Gläſer, Teller und
Flaſchen in der Küche, und Tiſche und Stühle in der Cajüte
klirrten und umhertanzten, mir beſonders behagte.
Der Red-River bildete hier die Grenze zwiſchen dem
Staate Texas und der „Nation“, wie das verſchiedenen
halb civiliſirten Indianerſtämmen von den Vereinigten
Staaten angewieſene Gebiet genannt wird. Die an den
Red⸗River grenzenden Counties des nördlichen Texas find
ganz beſonders productiv, ſowohl an Baumwolle, als an
den verſchiedenen Kornarten, beſonders Mais und Weizen,
und die Viehzucht, namentlich von Schafen und Rindern,
in ihnen iſt bedeutend. 1500 Pfund gepflückter Baumwolle,
40 Buſhels Mais und 20 Buſhels Weizen ſind der Durch—
ſchnittsertrag auf den Acker. Saftigere Melonen und Pfir—
ſiche giebt's nirgends in der Welt. Ich habe Melonen
geſehen, die 60 Pfund wogen. Die einheimiſche Rebe
wächſt hier auf's üppigſte wild.
Ein reicher ſchwarzer Boden durchzieht dieſe Counties
in ausgedehnten Flächen, „the black lands““, das ſchwarze
Land, benannt, zum Unterſchiede von den meiſtens am Red—
River belegenen „red lands“ (rother Alluvialboden) und
den „sandy lands“ (mit Sand gemiſchter Boden) der Pine—
und Poſt⸗Oak⸗Landſtriche — und ruht auf einer von zwei
bis zu zehn Fuß unter ihm lagernden Kalkſteinformation,
die öfters zu Tage tritt.
Das ſchwarze Land, welches ſo reich iſt, daß es bei dem
in den Wintermonaten häufigen Regenwetter ſich fettartig
anfaßt und in ſchweren Klumpen an die ſich darüber hin-
bewegenden Wagenräder hängt, dehnt ſich von Red-River⸗
County incl. in einer Länge von etwa 130 Meilen von
Oſt nach Weſt aus. Seine Durchſchnittsbreite, die im öſt—
lichen Theile von 10 bis zu 15 Meilen ſchwankt, erweitert
ſich mit vielen Ausläufern im Weſten bis auf 100 Meilen.
374
In den Sommermonaten bildet dieſer ſchwarze Boden,
namentlich in den Prairien, die beſten Landſtraßen, die
man ſich nur denken kann. Es iſt eine Freude, in den
Monaten Mai und Juui, wenn die Prairie ihr buntes Feſt—
kleid angelegt, im leichten Wagen über den glatten Boden
hinzurollen, rechts und links ſanft wogende, von Wal—
dungen begrenzte Savanen, die mit ſchmucken Pflanzungen
und hin und wieder mit Gehölzen wie überſäet ſind
Trotz aller natürlichen Bevorzugung dieſes Landes
leben die Leute hier ſchlechter als ich es irgend ſonſtwo in
Amerika gefunden habe. Allerdings giebt es Ausnahmen;
doch ſind dieſe ſelten. Farmers, die Hunderte von Stücken
Vieh beſitzen, haben oft kaum Milch genug für ihren Kaffee;
Obſt und Gemüſegärten find fromme Wünſche; an Wein-
bau denkt Niemand. Jedermann iſt auf den Anbau von
Baumwolle bedacht, obgleich auch bei dieſem auf jedem
Acker etliche 100 Pfund von der Ernte verloren gehen,
die aus Nachläſſigkeit nicht ausgepflückt werden.
Vor dem Kriege legten die Pflanzer den größten Theil
ihres Erwerbs in Negern und Mauleſeln an; ihre Frauen
und Töchter kauften allenfalls Hundert-Dollars-Seidenroben
und Fünfhundert⸗Dollars⸗Pianos auf Credit. Die Pflanzer
borgten was ſie brauchten von den Kaufleuten auf zwölf
Monate Zahlungszeit und liquidirten in der Regel erſt nach
vierundzwanzig oder dreißig Monaten.
Die Folgen des Krieges, namentlich die Emancipation
der Schwarzen haben jedoch in allen bürgerlichen Verhält—
niſſen eine gänzliche Umwälzung hervorgebracht. Das Cre—
ditſyſtem iſt verpönt, und die Pflanzer, die, nachdem die
alten Schulden abbezahlt ſind, nicht mehr Neger kaufen
können wie ehedem, und nicht wiſſen, was ſie mit ihrem
Geldüberſchuß anfangen ſollen, beginnen nach und nach ſich
das Leben bequem zu machen — to live like white folks
375
(leben wie es Weißen geziemt) wie man ſich hier zu Lande
auszudrücken pflegt.“
Das Klima des nördlichen Texas iſt ein eigenthümliches
und ganz außerordentlich veränderliches. Die Luft erhitzt
ſich in den Sommermonaten durchſchnittlich bis auf 90 Grad
Fahrenheit. Im Sommer 1860 ſtieg die Hitze während
mehrerer Wochen bis auf 110 Grad; in anderen Jahren
erreicht ſie kaum die mittlere Höhe. Im Winter ſteht der
Thermometer durchſchnittlich auf 60 Grad, mitunter jedoch
fällt er bis unter den Gefrierpunkt; der Schnee liegt bis
zu 6 Zoll tief und Eis bildet ſich 5 bis 6 Zoll dick.
Dieß ſind aber Ausnahmsfälle. Die Jahre wechſeln faſt
regelmäßig mit naſſen und trockenen; der Boden verträgt
aber ſowohl anhaltende Dürre als große Feuchtigkeit in
ungewöhnlichem Maße, ſo daß die Ernten nicht ſehr dar—
unter leiden.
Nicht zu verwechſeln mit den aus dem Norden über
die großen Prairien aus den untern Luftchichten kommenden
Schneeniederſchlägen ſind die mit Recht berüchtigten
„Northers“, Sendboten der oberen eifigen Luftregionen
unſers Planeten, die auf Texas und das öſtliche Mexiko
beſchränkt ſind. Sie ſind meiſtens trockene Winde, nur
ſelten von Regenſchauern begleitet.
* Durch die Vollendung der Eiſenbahnen, welche das nördliche
Texas ſowohl mit St. Louis, als mit Galveſton und Shreveport
in directe Verbindung gebracht haben, entwickeln ſich jetzt jene Ge—
genden rieſig ſchnell. Eine maſſenhafte Immigration beſiedelt das
Land und bringt ſeine reichen Hülfsquellen zur vollen Geltung.
Wer nach einer Abweſenheit von nur zehn Jahren das nördliche
Texas wieder beſucht, der wird in allen Verhältniſſen dort einen
Unterſchied finden, als ſähe er ſich aus dem Zeitalter der Diligencen
von Großvaters Zeit plötzlich in das der Eiſenbahnen und Tele—
graphen verſetzt.
376
Einige Stunden vor dem Erſcheinen eines Norther
lullt der Südweſtwind, und die Luft iſt ſchwül und
drückend. Von Norden herauf ſteigt eine finſtere Wolke und
ſobald dieſe den Zenith erreicht hat, bricht der Norther
los. Mitunter iſt er anfangs von Regengüſſen begleitet.
Dieſe ſind aber nur von kurzer Dauer, da der aus den
oberen Luftſchichten kommende kalt⸗trockene Wind ſchnell
alle Feuchtigkeit aufſaugt, die er findet.
Wenn der Norther beginnt, ſtellt ſich bei Menſchen
und Thieren heftiger Durſt ein, und die Haut, welche ſich
ſchnell ihrer Feuchtigkeit entledigt, brennt und kitzelt. Der
Fall der Temperatur iſt tief und außerordentlich plötzlich,
oft von 75 bis zu 40 und 30 Grad F. innerhalb weniger
Minuten, und iſt wegen der ihn begleitenden Trockenheit
für die Haut um ſo empfindlicher. An den Grenzen des
Territoriums Waſhington habe ich bei mehr als 20 Grad F.
unter Null nicht halb ſo gefroren als bei manchem Nor—
ther auf den Prairien von Texas.
Wehe dem unbeſchützten Wanderer, den ein Norther
auf offener Prairie überraſcht! Bei dem erſten kalten Luft—
hauche wird der mit den klimatiſchen Verhältniſſen des
Landes Vertraute ſeinem Roſſe ſofort die Sporen in die
Weichen drücken und nach dem nächſtgelegenen Hauſe
galoppiren. Sich von dort entfernen, ehe der Norther
vorübergezogen, wäre Tollheit und wird auch Niemandem
ſo leicht in den Sinn kommen. Alle Bewohner hocken mit
klappernden Zähnen vor rieſigen Kaminfeuern, indeß draußen
der Sturm heult. Sobald der Norther ſich empfohlen,
giebt's vielleicht wieder das herrlichſte Wetter, als ob man
urplötzlich von Labrador nach Nicaragua verſetzt wäre; Alt
und Jung wirft Mäntel und Decken beiſeite und begiebt
ſich luftathmend in's Freie; das Feuer in den Kaminen
erliſcht und der Winter iſt vergeſſen.
377
Wenden wir jetzt unſere Blicke zum linken Stromufer,
nach der „Nation“. Dort wohnt der Stamm der Choc-
taws, der vor dem Kriege über 12,000 Köpfe zählte,
welche jetzt auf weniger als 8000 geſunken ſind. Die
Choctaws ſind gute Nachbarn der Texaner. Im letzten
Kriege ſtanden ſie dem Süden ohne Ausnahme zur Seite.
Sie treiben Ackerbau und Viehzucht und es giebt unter
den 4 = oder 3 — Weißen in der Nation viele reiche
Pflanzer, welche vor dem Kriege Hunderte von Negerſclaven
beſaßen. Von den Pflanzern am gegenüber liegenden Texas—
Ufer des Red-River werden die Choctaws im Herbſt und
Winter mit großem Nutzen beim Auspflücken der Baum—
wolle verwendet, worin ſie die Neger bei weitem an Sau—
berkeit übertreffen. Den erworbenen Lohn vertrinken ſie
ſofort in „Feuerwaſſer“, deſſen Einfuhr in die Nation bei
ſtrenger Strafe unterſagt iſt. Von den Vereinigten Staa—
ten werden den verſchiedenen Stämmen jährliche Subſidien
gezahlt; auch ſind Agenten unter ihnen angeſtellt um „den
großen Vater“, nämlich den Präſidenten in Waſhington,
würdig zu vertreten. Ihre innern Angelegenheiten leiten
ſie ſelber durch eigens erwählte Häuptlinge.
Mit gierigen Augen betrachten die Bewohner der an—
gränzenden Staaten Arkanſas und Texas die Nation, deren
Gebiet einen außerordentlich fruchtbaren Boden beſitzt, Me—
talle, Petroleum und Kohlen enthält und von zahlreichen,
immer gefüllten Bächen durchzogen wird, welche Fabriken
eine unerſchöpfliche Waſſerkraft zur Bewegung von Ma—
ſchinen geben würden. Aber es iſt den Weißen ſtreng
unterſagt, ſich dort niederzulaſſen, und nur Indianern und
Miſchlingen und ſolchen die, wenn auch nur ein paar Tropfen,
indianiſches Blut in ihren Adern haben, oder ſich mit
Squaws verheirathen, oder auch beſondere Erlaubniß vom
Häuptling erlangen, iſt der Eintritt geſtattet, und erlaubt,
Handel und Ackerbau dort zu betreiben.
378
Nach dieſer kleinen Abſchweifung, die ich machen mußte
um den Leſer mit unſerer Umgebung etwas vertraut zu
machen, wollen wir uns wieder mit dem „George“ auf die
Reiſe begeben.
Schon wieder höre ich das ſchabende Geräuſch unter
uns! Zwei der weißen Matroſen werfen alle Viertel—
Minuten, jeder an einer Seite des Schiffs, das Loth aus
und rufen die Tiefe ab, die von 33 bis zu 22 Fuß ſchwankt,
und ihre ſchwarzen Collegen ſtehen mit langen Stangen
bereit, um den Bug des Dampfers, ſabald e er eine Sand—
bank berührt, ſeitwärts zu ſchieben.
Da ſitzt der „George“ ſchon wieder feſt und macht
dieſelbe Querſchwenkung wie früher. Trotz eines zweimaligen
verzweifelten Anlaufs will es ihm nicht gelingen, über die
Sandbank hinüberzukommen, da das Waſſer auf derſelben
nur 28 Zoll tief iſt. Man muß alſo zu andern Mitteln
greifen. Das Kabel wird nach vorne gebracht und an einer
ſtarken Sycamore am Strand befeſtigt, der Dampf wird
angeſpannt und zieht das Schiff langſam mit dem Capſtan
über die Barre. Rechter Hand liegt eine ſtattliche Pflanzung,
auf der etliche 30 Neger eifrig beim Pflügen beſchäftigt ſind;
links ſitzt eine Geſellſchaft liederlich gekleideter Choctaws am
hohen Ufer und blickt mitleidig auf uns herab. Endlich,
nach Verlauf von anderthalb Stunden und nachdem das
Kabel zweimal geriſſen, ſind wir glücklich über die Bank und
reiſen weiter.
Die nahen Ufer ſind meiſtens öde und wild und mit
dichten Waldungen bewachſen. Unter den Bäumen ſind die
Cotton⸗Wood⸗Bäume, eine Pappelart, vorherrſchend. Den
Namen führen ſie nach ihren der Baumwolle ähnlichen
Blüthen⸗Capſeln, deren ſchneeweiße Faſerchen im Frühjahr
in ſolcher Menge vom leiſeſten Winde fortgeführt werden,
daß die Luft oft ganz lebendig von ihnen zu ſein ſcheint.
379
Mitunter erfreuen ftattlihe Pflanzungen das Auge, ſowohl
am Texasufer als an dem der Nation; weniger in letzterer,
wo ſie mehr landeinwärts liegen.
Durchſchnittlich ſitzt der „George“ in jeder Stunde
einmal feſt und muß alsdann die gewöhnlichen Tanzmanöver
ausführen, welche jedoch mit der Zeit für den Reiſenden
ſehr langweilig werden. Mitunter tanzt der Dampfer einen
förmlichen Walzer im Fluß. Mit dem Bug an eine Sand—
bank ſtoßend, ſchwingt er den Stern ganz herum, treibt
eine Strecke ſtromab, und führt, einer geſchickten Steuer—
bewegung des Lootſen gehorchend, nochmals eine Halbſchwen—
kung aus, worauf er wieder reglementmäßig weiter fährt.
Bei ſehr ſcharfen Uferbiegungen und reißender Strömung
führt der Pilot dieſes Manöver mitunter mit Willen aus,
und ſchwingt den Dampfer mit graziöſer Schwenkung um
die Ecke. Fuhr der Dampfer mitunter auf längere Strecken,
ohne daß Sandbänke und Snags ſeinen Lauf gefährdeten,
gemüthlich ſtromab, ſo ergaben ſich die Neger ſofort ganz
ihrer ihnen angeborenen Heiterkeit. Es war eine Freude,
ihren Capriolen zuzuſchauen, wenn ſie ſich balgten und mit
den eiſenharten Köpfen wie Ziegenböcke zum Spaß gegen
einander rannten. Andere ſangen im Chor ihre monotonen
Geſänge oder ein luſtiges Liedlein, z. B.: „Molly is a
good girl and a bad girl too!“ — um deſſen originelle
Melodieen ſie ein Schubert ſchwerlich beneidet hätte.
Am folgenden Tage kamen wir an eine Sandbank, auf
der das Waſſer kaum zwei Fuß tief war. Hier nutzten
ſowohl Springübungen, als Dampfwinde nichts; die
Baumwolle mußte ausgeladen werden, um das Schiff zu
erleichtern, ein paar hundert Schritt am Ufer entlang
gerollt und alsdann wieder eingeladen werden. Zu meiner
Freude lag am untern Ende der Sandbank ein anderer
Dampfer „Hoyle“, dem es nach zweitägiger Arbeit gelun-
380
gen war, ſich über die Barre hinüberzuarbeiten, und der
gerade ſeine Baumwolle wieder eingeladen hatte, und im
Begriff ſtand, weiter ſtromab zu fahren. Da ich keine Luſt
verſpürte, zwei Tage lang an dieſer Stelle zu verweilen
und dem Aus- und Einladen der Baunwollenballen zuzu—
ſehen, ſo ſagte ich dem „George“ Lebewohl, und begab
mich an Bord des „Hoyle“, um auf ihm meine Reiſe fort—
zuſetzen.
Auf dem „Hoyle“ wiederholten ſich die Einzelheiten
der Fahrt des „George“ in erhöhtem Maßſtabe. Der Fluß
war fortwährend im Fallen begriffen, ſo daß wir in der
nächſten Woche kaum 150 Meilen vorwärts kamen, mitunter
keine 15 Meilen in 24 Stunden. Das Flußbett war ftellen-
weiſe fo voll von Snags, daß ſich unſer Dampfer nur mit
großer Mühe und äußerſter Vorſicht zwiſchen denſelben hin—
durcharbeiten konnte.
Endlich langten wir an den ſogenannten „White-Oak—
Shoals“ (Silbereichen-Untiefen) an, auf denen wir zu unſerm
Schrecken nur 18 Zoll Waſſer fanden. Hier mußte alle
Baumwolle ausgeladen werden, und alsdann koſtete es der
Dampfwinde noch einen vollen Tag unausgeſetzter Arbeit,
um den leeren Dampfer über die an 200 Yards ſich aus—
dehnenden Untiefen hinüber zu bugſiren.
Wir waren bis in die Nähe des Städtchens Fulton in
Arkanſas gelangt. Die Sonne ſenkte ſich hinter die Cotton—
Wood⸗Wälder am hohen Ufer, welche bereits lange Schatten
über die bräunlichen Fluthen warfen. Der Tag war
außerordentlich ſchwül geweſen, und Jedermann freute ſich
auf die Kühle der Nacht. Plötzlich leuchtete es im Nord—
weſt über den dunkelnden Wäldern, und ein heller Licht—
ſtreifen zog ſich ſcharf in derſelben Himmelsgegend über
dem Horizont hin. Das Schiff unter Schutz an die nächſte
von Bäumen freie nördliche Uferbank zu legen und mit
381
mächtigen Kabeln an entfernter ſtehenden dicken Bäumen
zu befeſtigen, war die nächſte Sorge unſers Capitäns, indeß
der Dampfer den Koch zur Eile antrieb, die Oefen in der
Cajüte mit Kohlen vollzupacken und dieſe ſofort in Brand
zu ſetzen.
Kaum waren wir ſo gerüſtet, den Feind zu empfangen,
als der electriſche Nordſturm, in dieſem Fall ein Ver—
wandter vom „Norther“, ſchon grimmig über die rau—
ſchenden Waldwipfel von Arkanſas herüberbrauſ'te, und
als erſte Begrüßung einen wahren Sündfluthregen, kalt
wie Eiswaſſer, über das Verdeck ſchüttete. Ich habe früher
ſchon in den Tropen Regengüſſe erlebt, die ſich ſehen laſſen
konnten; aber im Vergleich mit dieſem konnte ich jene nur
als plätſchernde Frühlingsſchauer bezeichnen. Die ganze
Nacht hindurch leerte Jupiter Pluvius nicht Eimer, ſondern
Tonnen voll Waſſer über uns arme Menſchenkinder aus,
ſo daß bald kein trockenes Plätzchen mehr in unſerer
ſchwimmenden Behauſung zu finden war. Dabei blitzte es
unabläſſig, als ob der ganze Himmel in Brand ſtände.
Der Donner rollte und krachte in den nahen Wäldern,
Schloſſen wie zackige Eisſtücke raſſelten auf's Cajütendeck,
und der Sturm heulte durch den ächzenden Urwald, als ob
er ihn mit den Wurzeln aus ſeinen Grundveſten heraus—
reißen wolle.
Glücklicherweiſe blieb es beim Regen und Hagel, und
die Kälte war erträglich; bei dem glühenden Ofen in der
Cajüte fühlten wir uns ſogar ſehr behaglich. Der Sturm
(Storm, wie dieſe Naturerſcheinungen hier zu Lande
kurzweg genannt werden) war augenſcheinlich eine Art
Zwitterding zwiſchen einem Snowſtorm und einem
Norther. Ueber die Oſtgrenze der letztern waren wir
hinaus und für einen regulären Schneeſturm war die
Jahreszeit zu weit vorgerückt. Ich kam zu der Ueber—
382
zeugung, daß es eben gar keine Regeln für das Klima in
dieſer Gegend giebt.
Eine traurige Nacht war es, die ich verbrachte! Durch
das Cajütendeck drang der kalte Regen wie durch ein Sieb
in meine Coje, und ſammelte ſich zutraulich in kleinen
Lachen auf meiner Decke, die ich vorſichtshalber über mein
Bett gelegt hatte. In nichts weniger als liebenswürdiger
Stimmung verließ ich mein feuchtes Nachtquartier und
ſetzte mich in der Cajüte in der Nähe des glühend rothen
Ofens nieder, wo ich zu meinem goldgelben Meerſchaum
als Sorgentröſter Zuflucht nahm.
Am folgenden Morgen hatte ſich gottlob die Wuth
des Wetters gelegt, und die Sonne ſchmückte das ſaftige
Laub der hohen Cedern und Cotton-Wood-Bäume mit
Millionen diamantener Tropfen. Strichweiſe ſchwammen
ſchmutzig-weißer Schaum, halb verwitterte Baumſtämme,
Aeſte und vegetabiliſche Ueberreſte des Urwalds auf der
Oberfläche des Stroms; ein untrügliches Zeichen, daß ein
Hochwaſſer den Fluß anſchwelle, was mit allſeitigem Jubel
begrüßt wurde, da wir fortan weniger von Sandbänken
zu befürchten hatten. An vielen Stellen lagen entwurzelte
Bäume im Fluſſe, die der Sturm vom hohen Ufer herab—
geſchleudert hatte. An einer Stelle ſperrte eine rieſige
Lebenseiche, die quer über den Fluß gefallen war, das
Fahrwaſſer, ſo daß dieſelbe erſt mit Aexten auseinander
geſchlagen werden mußte, ehe wir weiter fahren konnten.
Jetzt begriff ich, warum unſer Capitän das Schiff Nachts
zuvor ſo ſorgſam an eine baumloſe Uferbank gelegt hatte.
Wie leicht hätte der Sturm ſonſt einen der Baumkoloſſe
auf unſer Schiff ſchleudern und argen Schaden anrichten
können. f
Ohne weitern Aufenthalt durchkreuzten wir die ſüd—
weſtliche Ecke des Staats Arkanſas, der hier beide Fluß—
383
ufer bildet, und befanden uns bereits am folgenden Mor—
gen an der Grenze des Staats Louiſiana. Das allein
Sehenswerthe in Arkanſas war eine Familie ſchwarzer
Bären, die gemüthlich am hohen Ufer umher wandelten.
Ein paar wohlgezielte Piſtolenkugeln veranlaßten den Papa
Braun zum ſchleunigen Rückzug in den dichten Wald,
indeß die Mama ihre beiden Jungen, denen das Schießen
Spaß zu machen ſchien, in derſelben Richtung die der
Gemahl genommen, ängſtlich zur Eile antrieb.
An der Grenze des Staats Louiſiana begrüßten uns
die Vorläufer des Raft in großen wüſten Baumſtamm—
feldern, die ſich hie und da dem Ufer entlang gelagert
hatten, und bald darauf, 150 Meilen unterhalb des
Städtchens Fulton, liefen wir links in den ſogenannten
Moores⸗-Canal ein, um das den Red-River ſperrende Raft
zu umgehen.
Die Umſchiffung des Raft vermittelſt der bereits an
einem früheren Ort in dieſer Skizze erwähnten Kette von
Seen und Bayous war im höchſten Grad intereſſant; der
Canal durch den wir fuhren jedoch weiter nichts als eine
künſtliche Verbindung derſelben. Für die Benutzung des
Canals iſt eine geringe Abgabe von 25 Cents auf jeden
durchpaſſirenden Ballen Baumwolle und eine ähnliche auf
Waarengüter gelegt worden.
Bald befanden wir uns in einem Landſee oder, beſſer
geſagt, mitten in einem überſchwemmten offenen Walde,
wo wir mühſam zwiſchen den Bäumen uns durchwanden,
und bald mit dem Stern bald mit dem Bug des Schiffs
an Baumſtumpfen anrannten. Als Wegweiſer durch dieſes
Baum⸗Labyrinth, und um die Waſſerſtraße zu bezeichnen,
hatte man hie und da etwas loſe Baumwolle zwiſchen die
Zweige geſteckt oder an den Baumſtämmen befeſtigt.
r
r ere
384
Dann ging es durch krumme Bayous weiter, in denen
die Strömung außerordentlich ſtark war, ſo daß wir uns
nur mit äußerſter Vorſicht vorwärts bewegten, um nicht
bei einer der vielen Biegungen ſeitwärts in den Wald zu
laufen. Fortwährend fuhr uns ein leichtes Ruderboot
voran, deſſen Mannſchaft den Bug des Dampfers jeden
Augenblick mit einem Kabel an einen Baum binden mußte,
damit das Schiff eine kurze Schwenkung ausführen konnte.
Büſche und Baumzweige guckten in die Cajüte, drängten
ſich zwiſchen die Schornſteine und praſſelten über das Ca—
jütendeck, als ob alles am Dampfer kurz und klein brechen
müſſe. Dies war jedoch nur der Anfang. Bald ſollte
es beſſer kommen!
Nachdem wir bereits mehrfach Seitenblicke auf das
Raft gehabt, wie wir, zwiſchen den Bäumen hin, den
Fluß zur Rechten, uns durch dieſe reizende Landſchaft
bewegten, machte unſer Dampfer plötzlich eine ſcharfe
Schwenkung nach rechts und durchkreuzte langſam den Red—
River an einer vom Raft offenen Stelle nach der gegen—
überliegenden Red-Bayou. Uns zu beiden Seiten lag das
Raft, ein Chaos wild durcheinander geſchüttelter nackter
Baumſtämme, hie und da mit großen Bäumen und Büſchen
bewachſen, eine doppelte Brücke auf dem Red-River bildend.
Viel hätte ich um eine gute photographiſche Darſtellung
des Raft gegeben, um dem Leſer ein treues Bild von
dieſem Naturwunder vorzuführen. Wenn man ſich vor—
ſtellt, daß ein ganzer durch Millionen von Blitzſtrahlen
verdorrter und zerſchmetterter Urwald plötzlich vom Himmel
herabgefallen ſei, gerade in den Red-River, und dort ſtecken
geblieben, ſo würde das Bild nicht übertrieben ſein.
Sobald wir die Red-Bayou erreicht, ging's wieder
munter vorwärts. Die Strömung war ſehr ſtark und die
Bayou nichts weniger als nach dem Lineal ausgelegt, und
385
jo enge, daß der Dampfer zu beiden Seiten faſt die Büſche
berührte. An dieſen hingen mehr oder weniger weiße
Baumwollenflocken, welche aus den Cottonballen vorüber—
fahrender Dampfboote von den Zweigen herausgeriſſen
worden waren. Ein leichtes Ruderboot fuhr wie früher
uns fortwährend voran, um dem Dampfer mit einem Tau
um die Ecken zu helfen.
Ich begab mich aufs obere Deck und beobachtete die
intereſſante Fahrt. Oft ging es mit Blitzesſchnelle eine
lange, ſo zu ſagen mit Waſſer gefüllte, Baum Allee hinab;
rechts und links krachten, kratzten und klapperten Büſche
und Zweige zwiſchen den Gallerien, die theilweiſe ganz zer—
ſchlagen wurden, ſtießen die Fenſter entzwei, zerbrachen
an den Schornſteinen und raſchelten über das Cajütendeck.
Auf die größeren Aeſte, welche gelegentlich mit Donnerge—
polter über das Deck fegten, hatte ich ein ganz beſonderes
Augenmerk, und mehrfach mußte ich hinter das Pilot—
haus flüchten, wenn mir ein dicker Aſt zwiſchen die Beine
fahren wollte.
An einer Stelle waren die Bäume zu beiden Seiten
der Bayou abgebrannt und theilweiſe verkohlt. Hier ver—
brannte im vorigen Sommer der Dampfer „Stare“ mit
einer Ladung von 500 Ballen Baumwolle. Die Paſſa—
giere, worunter mehrere Damen, retteten ſich in die Bäume,
wo ſie ſo lange ſitzen blieben, bis der nächſte vorüber:
fahrende Dampfer ſie erlöſ'te. Das brennende Wrack trieb
eine Strecke von faſt zwei Meilen ſtromab, wo es ſank,
und die Bayou fo verengte, daß die Dampfboote jetzt kaum
vorbeifahren können.
Die Nacht überraſchte uns, ehe wir noch aus der Red
Bayou heraus waren. Da es Tollheit geweſen wäre, in
einem ſo gefährlichen Waſſer bei Nacht zu fahren, ſo
legten wir bei und erwarteten das Tageslicht.
25
386
Am nächſten Tage hatten wir eine verbeſſerte Auflage
der geſtrigen Fahrt, dießmal durch die ſogenannte „Black
Bayou,“ die gefährlichſte aller dieſer verſchlungenen Waſſer—
ſtraßen. Freilich war ſie etwas breiter als die Red Bayou,
dafür aber auch doppelt ſo reißend und hier und dort mit
Snags gewürzt. Seitwärts rauſchte das Waſſer zwiſchen
den Büſchen und durch den Wald wie ein Mühlſtrom in
allen nur möglichen Richtungen; wirbelnde Wellen drehten
den „Hoyle“ mitunter ganz herum, ſo daß er bald rückwärts,
bald vorwärts fuhr und an beſonders gefährlichen Stellen
ſicherheitshalber an Seilen, die an ſtarken Bäumen befeſtigt
wurden, ſtromabwärts gelaſſen werden mußte.
An einer Stelle, wo die Bayou ſehr enge war, rannte
das Schiff, das die Strömung plötzlich von der Seite packte,
gegen einen ſtarken Eichenaſt, der einen Schornftein in der
Mitte abbrach, was einen unbeſchreiblichen Wirrwarr ver—
urſachte. Ich wähnte, der Dampfer ſei auf einen Snag
gerannt, und wußte, daß er in dieſem Falle binnen wenigen
Minuten ſinken würde; doch kamen wir mit dem bloßen
Schrecken davon!
Endlich hatten wir die Black Bayou hinter uns und
begrüßten froh den romantiſchen „Clear Lake“ mit ſeinen
im Frühlingsſchmuck prangenden hellgrünen Waldufern und
zahlreichen Cypreſſenbäumen, deren maleriſche Gruppen
ſich in ſeinem klaren Waſſer abſpiegeln.
Alle das Red River-Raft umkränzenden Seen ſind
auf dieſe Weiſe mit Bäumen und Büſchen ſo zu ſagen be—
pflanzt. Die meiſten der letzteren ſind die ſogenannten
Cypress knees (Cypreſſen-Kniee), deren Laubkronen nur
eben über den Waſſerſpiegel emporragen.
Die Weiterfahrt von hier bis nach Shreveport, wo—
ſelbſt wir am folgenden Morgen glücklich anlangten, bot
nichts beſonders bemerkenswerthes dar. Die verſchiedenen
387
Seen und Bayous fehen fi) alle ſo ziemlich gleich — die
Seen voll von Bäumen und Cypreſſen-Knieen, die Bayous
eng und reißend.
In Shreveport traf ich den Dampfpalaſt „National“,
gegen den die elenden Hinterrad-Dampfer des obern Red—
River wie Nußſchalen ausſehen, und auf dem ich ſofort
einen Platz nach New-Orleans nahm. Nach einer Abweſen—
heit von faſt einem Monat langte ich wieder in Shreveport
an, um den Red-River noch einmal ſtromauf zu befahren,
und zwar nahm ich einen Platz nach Rowland auf dem
nicht unanſehnlichen Dampfer „Pioneer Era“ und befand
mich bald auf's Neue in dem Gewirr der Seen und Bayous,
welche das Raft umkränzen.
Je weiter wir kamen, um ſo höher ward das Waſſer,
das fortwährend im Steigen begriffen war und uns eine
Ueberſchwemmung befürchten ließ. Bald zeigte ſich dieſe im
ſchrecklichſten Umfange. Der Red-River hatte die Ufer—
bänke weit und breit überfluthet und brauſ'te mit Gewalt
durch die Wälder, ein Bild ſchrecklicher Zerſtörung. Alle
Pflanzungen, ohne Ausnahme, waren überſchwemmt, die
Baumwollen-Anpflanzungen gänzlich verwüſtet, der Schaden
unberechenbar.
Der Strom war gleichſam lebendig von ſchwimmenden
Bäumen, abgeriſſenen Aeſten, dickem, gelblich weißem
Schaum und Schmutz aller Art; ertränktes Vieh, Acker—
baugeräthſchaften, Wagengeſtelle, Betten und Möbel,
Bretter, alles trieb in unbeſchreiblicher Verwirrung ſtromab.
Das Vieh hatte ſich auf die höhern Erdſchollen gerettet,
und ſtand oft ängſtlich brüllend bis an den Leib im
Waſſer, wo es unfehlbar umkommen mußte, ſobald die
Glieder ihm erſtarrten. An Rettung desſelben war nicht
zu denken, da faſt nirgends ein trockener Fleck Bodens
zu ſehen war.
25 *
388
Die meiften der Häuſer ſtanden im Waſſer, und die
Bewohner blickten aus ihren Gefängniſſen traurig zu uns
herüber, als wir langſam vorbeifuhren. Tag und Nacht
arbeitete der Dampfer, ſchwarze Rauchſäulen emporſtoßend,
mit Titanenkraft gegen die reißende Strömung an, ohne
daß der Pilot ſich viel um Snags und Sandbänke beküm—
mert hätte, von denen bei ſo hohem Waſſer nur wenig
zu befürchten war. Nur einmal — die Paſſagiere waren
eben beim Mittagsmahl verſammelt — rannte das Schiff
ganz unerwartet gegen eine Sandbank. Der Stoß war
ſo gewaltig, daß die meiſten der Eſſer — worunter auch
ich — ſich plötzlich unter den Tiſch verſetzt ſahen, indeß
Schüſſel und Teller, Hammelsſchnitten und Schweins—
rippen, Salat und Obſt vom Tiſch auf die Stühle
herabtanzten.
Die diesjährige Ueberſchwemmung übertraf alle vorher—
gehenden des Red-River ſeit dem Jahre 1843. Das
Waſſer war in unglaublich kurzer Zeit 35 Fuß geſtiegen,
ſo plötzlich, daß ſich Niemand darauf hatte vorbereiten
können. In der Stadt Jefferſon riß die Fluth ſogar feſte
Steinhäuſer fort; der daſelbſt angerichtete Schaden belief
ſich auf 300,000 Dollars.
An drei Stellen zwiſchen dem Raft und Nowland
hatte der Red-River ſeine Biegungen verkürzt. An einer
Stelle, im County von Bowie in Texas, war eine Pflan—
zung von der Fluth mitten durchgeſchnitten, und wo vor
wenigen Tagen eine blühende Baumwollenpflanzung ge—
ſtanden, peitſchte jetzt unſer Dampfer auf 40 Fuß tiefem
Waſſer in einem über eine halbe Meile breiten Strome
die blutrothen Wogen des Red-River. Die Verkürzungen
des Flußbettes in jenen drei Abſchnitten beliefen ſich auf
dreißig Meilen; oberhalb Rowland hatten ſich noch zwei
andere bedeutende Durchbrüche gebildet. Durch dieſe
389
Verkürzungen des Flußbettes war die Strömung außer—
ordentlich verſtärkt worden, ſo daß zwei mit ſchwächeren
Maſchinen ausgerüſtete Dampfer, die wir überholten, nicht
mehr vorwärts kommen konnten, ſondern an den Bäumen
befeſtigt lagen, bis die Gewalt der Fluthen etwas nach—
laſſen würde.
Da alle Holzlager fortgeſchwemmt und es unmöglich
war im überflutheten Walde Holz zu ſchlagen, ſo nahmen
wir Fenzriegel als Feuerungsmaterial, wo wir derſelben
habhaft werden konnten. Die Neger, welche dieſelben an
Bord holen mußten, waren genöthigt dabei bis an die
Hüften durchs Waſſer zu waten, was ihnen unbeſchreibliche
Freude zu machen ſchien. Sie lachten dabei wie eben nur
Neger lachen können. Wenn wir, wie mehrere Male
vorkam, in ſtockfinſterer Nacht uns mit Brennholz verſehen
mußten, und die Neger, im Waſſer hinter einander her—
ſchreitend, bei rieſigen im düſtern Urwald hochauflodernden
Feuern die auf ihre Schultern gehäuften Fenzriegel an
Bord trugen, ſo gab dies ein überaus romantiſches Bild.
Doch wir nähern uns dem Ende unſerer Reiſe! Vor
uns liegen die Baumwollſpeicher des jetzt überſchwemmten
Rowland, wo wir den tapfern „Pionier“ verlaſſen wollen,
der luſtig weiter brauſ't, wo möglich noch ein paar hundert
Meilen weiter, bis nach Preſton hinauf.
3. Auf dem Caddo⸗See.
Am mittleren Laufe des Red River und einen Theil
ſeines Stromgebiets bildend, liegt, wo die Staaten Loui—
ſiana und Texas aneinander grenzen, eine Reihe von Seen,
die neueren Urſprungs ſind. Dieſe Landſeen, unter denen
der Caddo⸗See der bedeutendſte iſt, find vielfach verzweigt
und durch natürliche Canäle (Bayous) miteinander verbun⸗
den; ſie haben zuſammen eine Ausdehnung von etwa fünf—
zig engliſchen Meilen Länge bei ſieben Meilen durchſchnitts—
mäßiger Breite.
Vor dreißig Jahren war der Landſtrich, in dem jene
Seen gelegen ſind, eine waldreiche Niederung, die von dem
„großen Cypreſſenfluſſe“ (Big Cypreß), einem Nebenfluſſe
des Red River, durchſtrömt wurde. Große Baumwollen—
pflanzungen mit anſehnlichen Gebäuden und reiche Lände—
reien lagen dort, die jetzt ganz vom Waſſer bedeckt ſind.
Von den Landſeen exiſtirte nur der De Soto-See, jetzt
einer der bedeutenderen unter den Zweigſeen des Caddo,
damals jedoch ein unbedeutendes Gewäſſer, das im Sommer
beinahe austrocknete. Der Caddo-See führt ſeinen Namen
nach dem in früheren Zeiten in dieſer Gegend anſäſſigen
mächtigen Stamme der Caddo-Indianer, nach denen auch
das an Texas grenzende Caddo-Pariſh im Staate Louiſiana
benannt worden iſt. Die Caddo-Indianer ſind jetzt ganz
von dort verſchwunden.
391
Der Caddo-See mit ſeinen Verzweigungen hat große
Waldungen überſchwemmt und theilweiſe zerſtört. Zahl⸗
loſe von der Zeit und den Elementen halbzertrümmerte
Baumffelette, meiſtens den Species von Eichen und Fichten
angehörend, welche im Waſſer bald ausſterben, ſtehen zer—
ſtreut inmitten der weiten Waſſerfläche. Viele von dieſen
ſind angebrannt und halb verkohlt, wie man dergleichen
Baumreſte auf faſt allen angebauten Ländereien in Amerika
vorfindet. Dieſe abgeſtorbenen Bäume wurzeln auf ehe—
maligen Baumwollenfeldern, tief unter der wogenden Fluth.
Noch zahlreicher als die Ueberreſte der Eichen und Fichten
ſind die im Waſſer ſtehenden Cypreſſenbäume, die nur theil—
weiſe abgeſtorben ſind und von denen ſich viele im Som—
mer mit grünen Laubkronen ſchmücken. Dieſe Bäume haben
die Geſtalt von rieſigen Keulen und erheben ſich bis zur
Höhe von etlichen 20 Fuß über die Waſſerfläche. Die
breit aus dem Waſſer emporſchießenden und wie abge—
ſchnitzelt nach oben ſpitz zulaufenden Stämme, die einen
Zbweigbüſchel als Krone tragen, ſehen recht ſeltſam aus.
Außer jenen Bäumen und Baumreſten ſtehen unzählige
ſogenannte Cypreſſenkniee (eypress knees) im Waſſer,
eine verkrüppelte Art von Cypreſſen, die ſich, wie ihr
Name andeutet, knieartig nur wenig über die Oberfläche
des Waſſers erheben. Dieſelben wachſen im Waſſer und
ſproſſen aus Wurzeln, nicht aus Samen empor, und ſind
im Sommer belaubt.
Die Urſache des Entſtehens vom Caddo-See und
ſeinen Verzweigungen iſt das dem Leſer aus meiner Schil—
derung des Red River bereits bekannte Red River-Raft.
Das durch daſſelbe aufgeſtaute Waſſer mußte ſich neue
Abzugscanäle ſuchen. So entſtanden ſeitwärts von dem
alten Flußbette des Red River zahlreiche Bayous; am
Big Cypreß wurden die Niederungen durch die Rück⸗
392
ſtrömungen des aufgeſtauten Waſſers weithin überſchwemmt,
und es bildeten ſich dort permanente Landſeen. Die im
Waſſer ſtehenden Eichen und Fichten ſtarben bald ab, während
das Wachsthum der Cypreſſen wenig oder gar nicht gehin—
dert wurde.
In der Configuration des Landes fand durch das Ent—
ſtehen jener Landſeen eine vollſtändige Veränderung ſtatt;
neue natürliche Verkehrswege waren geſchaffen worden,
und wurden bald vom Handel und von der Schifffahrt
aufgeſucht, trotzdem die überflutheten Waldungen, durch
welche die neuen Waſſerſtraßen führten, einem freien Ver—
kehr große Schwierigkeiten boten. Am oberen Ende der
Seen entſtand am Big Cypreß die ſchnell emporblühende
Stadt Jefferſon, bald das Handelsemporium des producten—
reichen nordöſtlichen Texas. Flotten von Dampfſchiffen
durchkreuzen jetzt dieſe Seen und natürlichen Canäle,
bringen Waarengüter von New-Orleans nach Jefferſon,
und führen die Landesproducte des nordöſtlichen Texas,
darunter einen jährlichen Bodenertrag von mehr als hun—
derttauſend Ballen Baumwolle, auf die Weltmärkte. Wo
vor einem kurzen Menſchenalter ein winziges Flüßchen
durch eine waldige Niederung floß, in der reiche Plan—
tagen zerſtreut lagen, brauſen jetzt ſchwerbeladene Dampf—
ſchiffe über weite Waſſerflächen, und ſuchen mühevoll ihren
Weg zwiſchen abgeſtorbenen Baumſtämmen und einem
wahren Gewirr von Waſſercypreſſen und Cypreſſenknieen.
Bei niedrigem Waſſerſtand iſt die Schifffahrt auf den
Seen aber mitunter ganz unterbrochen, oder ſie beſchränkt
ſich doch auf ſehr kleine Dampfſchiffe.
Im Monat April 1870 fuhr ich über den Caddo-See
auf einem Dampfer von Shreveport nach Jefferſon. Zum
Erſtaunen war die Geſchicklichkeit, womit unſer Pilot den
Weg durch das Gewirr von abgeſtorbenen Bäumen, Waſſer⸗
393
cypreſſen und Cypreſſenknieen fand, wo ich auch nicht das
geringſte Merkzeichen einer Waſſerſtraße gewahr werden
konnte. Trotz aller Umſicht deſſelben rannte unſer Schiff
mehreremal auf einen unter dem Waſſer verborgenen
Baumſtumpf. Dann wurde ein mächtiges Kabeltau an
einer paſſend daſtehenden ſtarken Cypreſſe befeſtigt, und
das Dampfſchiff Zoll bei Zoll mit der Dampfwinde wieder
in tieferes Fahrwaſſer gezogen, um vielleicht in den nächſten
Minuten auf einen andern Baumſtumpf aufzulaufen, wo
daſſelbe Kunſtſtück wiederholt werden mußte. Ein Ruder—
boot war in ſteter Bewegung, um ſtarke Taue bald nach
rechts bald nach links hin vom Dampfer nach einer Cypreſſe
zu tragen und dort zu befeſtigen, damit unſer Schiff mit
deſſen Hilfe die fortwährenden kurzen Schwenkungen und
Biegungen zwiſchen den Bäumen und Knieen ausführen
konnte. Stellenweiſe hatte das Fahrwaſſer nur eine Tiefe
von 28 Zoll, und unſer Dampfer mußte vermittelſt der
Dampfwinde an gewaltigen Kabeln buchſtäblich über die
Untiefen geſchleift werden.
Oft ſitzen die flachgebauten Dampfer, welche dieſe
Seen befahren, ſtunden-, ja halbtagelang auf einem Baum—
ſtumpf feſt, und es zerſpringen bei der Arbeit, wieder flott
zu werden, die rieſigen zweiundeinhalb bis drei Zoll ſtarken
Kabeltaue von der gewaltigen Kraft der an ihnen ziehenden
Dampfwinde, während das Schiff knarrt und knackt, als
ob alles daran kurz und klein brechen müßte. Wenn auf
einem mit Baumwolle beladenen Dampfer auf dem Caddo—
See Feuer ausbricht, was faſt in jedem Jahre einem oder
dem anderen Schiffe paffirt, fo gehen in der Regel viele
Menſchenleben dabei verloren; die nächſten Ufer ſind oft
meilenweit entfernt und die einzige Möglichkeit der Rettung
iſt die, daß die Mannſchaft und die Paſſagiere des dem
Untergange geweihten Schiffes ſich an einem Baumſtumpf
394
im Waſſer anklammern oder auf einen Baum im See
klettern, bis Hilfe kommt. Wir paffirten auf unſerer
Fahrt mehrere ſolcher Wracks, die Schreckensmonumente
der Schifffahrt auf dem Caddo-See. Bei Hochwaſſer, das
mitunter bis zu zweiundzwanzig Fuß ſteigt, iſt die Schiff—
fahrt in dieſen Seen weniger gefährlich. Die Dampfer
nehmen alsdann einen graden Cours quer zwiſchen den
Baumwipfeln hin, ohne ſich der Gefahr des Auflaufens
auszuſetzen.
Die Bayous, welche die verſchiedenen Seen mit ein—
ander verbinden und eigentlich nichts weiter ſind als das
urſprüngliche Bett des Big Cypreß, haben meiſtens einen
ſehr gewundenen Lauf. Wilde Sumpfwaldungen, in denen
die mit langem zottigen Moos behängten knorrigen Eichen
und hin und wieder die hohen glatten weißſtämmigen
Sycamoren das Auge beſonders anziehen, liegen an den
Ufern und an den vielen Verzweigungen des trüben Ge—
wäſſers, der Heimath zahlreicher Alligatoren, eine urwüſte
Gegend, deren panoramenartig vorbeiziehendes Bild, vom
hohen Bord eines Hinterrad-Dampfers betrachtet, auf der
abenteuerlichen Fahrt durch die Bayous und über die
Seen, durch die halbzerſtörten Waldungen und gleichſam
mit Cypreſſen bepflanzten weiten Fluthen für den Reiſenden
einen eigenthümlichen Reiz der Neuheit hat.
4. Eine Eiſenbahnfahrt in Texas.
Die Eiſenbahn, welche die Städte Shreveport in Louiſiana
und Marſhall in Texas verbindet, die ſogenannte „Southern
Pacific Railroad“, war in früheren Jahren die ſchlech—
teſte in der Welt! Daß dieſer etwas gewagt klingende
Ausſpruch der Wahrheit ziemlich nahe kommt, wird dem
Leſer aus der hier folgenden Schilderung einer Reiſe, welche
ich im Jahre 1867 auf jener Texasmuſterbahn zurücklegte,
gewiß einleuchten. Um jedoch einem Lande, in welchem
ich jahrelang ein gaſtliches Aſyl gefunden, nicht vor der
Welt einen noch ſchlechteren Namen zu machen, als es
leider, und nicht ganz mit Unrecht ſchon beſitzt, will ich
gleich hinzufügen, daß jene Eiſenbahn in jüngerer Zeit,
wenn auch nicht ſo gut, als die zwiſchen Köln und Minden,
doch als ein Glied der neuen Texas-Pacifiebahn ſo gut als
die meiſten amerikaniſchen Eiſenbahnen iſt.
Es war an einem froſtigen Märztage, als ich nach
einer Reiſe von hundert engliſchen Meilen, die ich in einer
Privatfuhr in ſieben Tagen unter zahlloſen Schwierigkeiten
zurückgelegt, endlich das freundliche Städtchen Marſhall
im nördlichen Texas mit Freuden vor mir ſah, weil ich
daſelbſt das Ende der Mühſeligkeiten meiner Reiſe erreicht
zu haben glaubte, da ich von dort aus auf der Eiſenbahn
nach Shreveport im Staate Louiſiana weiter zu fahren
gedachte. Die Berichte von der unglaublichen Langſamkeit
jener Bahn, welche ich oft gehört hatte, hielt ich für über-
396
trieben und hoffte, die kurze Strecke von nur vierzig engl.
(circa neun deutſchen) Meilen in höchſtens einem halben
Tage zurückzulegen.
Gegen ſechs Uhr langten wir am nächſten Morgen
an der Stelle an, „wo der Bahnhof ſtehen ſollte“ und
verfügten uns in den Waggon — dieſe Eiſenbahn beſaß
nur einen Waggon; die andern Wagen waren meiſtens
offene, in unſerm Falle mit Baumwollenballen beladene
Packwagen. Zum Glück hatten wir einen kleinen eiſernen
Ofen im Waggon, der mit Kienholz vollgepfropft und roth—
glühend war. Da der Waggon, der nach amerikaniſchem
Stil aus einem zwiſchen den Sitzplätzen mit einem langen
Mittelgange verſehenen offenen Raum beſtand, von Rei—
ſenden beiderlei Geſchlechts, Kindern und Negern gedrängt
voll war, ſo war es, die von der Menſchenmenge ver—
peſtete Atmoſphäre abgerechnet, welche von der auf dem
rauchenden Ofen fortwährend verdunſtenden Tabacksjauche
parfümirt war, darin recht behaglich.
Endlich, — nachdem wir faſt eine Stunde nach feſt—
geſetzter Abgangszeit im Waggon auf die Abfahrtszeit ge—
wartet, meldete ſich die Locomotive „Ben Johnſon“ mit
kuhhornartigem Geheul und ſpannte ſich vor den Zug, der
Locomotivführer und Heizer goſſen in einer nahen Schenke
noch einen Schluck Whisky hinter die Binde und zündeten
ihre kurzen Thonpfeifen an, und mit Bedacht ging's
vorwärts.
Die erſte halbe Stunde, in der wir faſt eine deutſche
Meile zurücklegten, verlief ohne beſonderen Zwiſchenfall.
Ich dachte ſchon, daß alle die ſchrecklichen Gerüchte über
dieſe Eiſenbahn elende Verläumdungen ſeien — als der
Zug plötzlich zum Stillſtand kam. Der „Ben Johnſon“
hätte kein Brennholz mehr, hieß es, und ein Krahn ſei
verſtopft. In anderthalb Stunden lief der Krahn wieder,
397
und ein halbes Klafter Holz war an Bord genommen.
Die Zugführer hatten ſich die Zeit in einer nahen Schenke
beim Kartenſpiel mit einer Partie „Seven up““ vertrieben
und die Neger, welche angewieſen waren, Handlangerdienſte
zu leiſten und den Schaden auszubeſſern, ſich dabei offen—
bar nicht übereilt.
Heulend machte ſich die Locomotive mit dem Bahn—
zug wieder auf den Weg. Der Waggon ſchaukelte weiter
auf dem unebenen Geleiſe wie ein Schiff auf ſtürmiſcher
See, ſchon nach einer halben Stunde ward wieder ange—
halten. Das Waſſer im Keſſel ſei erſchöpft, hieß es. Die
Locomotive verließ uns in einem Sumpfe, der an dieſem
winterlichen Tage doppelt traurig ausſah, und fuhr nach
dem nächſten drei engliſche Meilen entfernten Waſſer—
reſervoir, um ſich mit dem unentbehrlichen feuchten Elemente
zu verſorgen, und kam erſt nach zwei Stunden zurück.
Während deſſen war ein echter texaniſcher Schnee—
ſturm ausgebrochen — Regen, Hagel, Glatteis und alle
möglichen Sorten gefrorenen und halbgeſchmolzenen Schnees,
Donner, Blitz und eiſig kalte Stoßwinde, — alles durch—
einander . .. ein ſcheußliches Wetter. Im Waggon gingen
Whiskyflaſchen die Runde, die Neger waren kaum mit Ge—
walt vom Ofen fort und an die Arbeit zu bringen.
Endlich war der „Ben Johnſon“ wieder da und marſch—
fertig. Der Bahnzug fing eben an, recht munter über die
Schienen hinzuholpern, ſo daß ſeine Inſaſſen ob der
ſchnelleren Locomotion in freudige Aufregung geriethen, —
als plötzlich ein ominöſes Gekrach unter uns ertönte und
der Waggon, der nach einigen Sätzen energiſch zum Halt
kam, Paſſagiere, Koffer und Mantelſäcke durcheinander warf,
ein Paar ſchlummernde Afrikaner auf den heißen Ofen
ſchleuderte und ein recht komiſches Durcheinander verur—
ſachte. Gottlob ward Niemand beſchädigt, und wir kamen
398
mit dem Schrecken davon. Nach dreiſtündiger Arbeit im
Schneegeſtöber, wobei ſämmtliche Paſſagiere thätig waren,
gelang es uns, den Waggon wieder auf die Schienen zu
bringen, und der unermüdliche „Ben Johnſon“ trabte lang—
ſam weiter. |
Es ward Nachmittag. Die Paſſagiere, durch Whisky—
zechen erregt, ließen es an derben, anzüglichen Bemerkungen
auf den Conducteur und ſämmtliche Beamten der berühmten
„Southern Pacific Railroad“ nicht fehlen, — als der
Zug im Wald bei einem Blockhauſe unter dem allgemeinen
Zuruf der Paſſagiere: „Whoa! — here we are at the
grocery!““ — (Brrr! — hier iſt die Kneipe! —) wieder
zum Stillſtand kam.
An der Wegſeite hielt eine Ochſenfuhr, welche Baum—
wolle, die urſprünglich zum Transport mit der Eiſen—
bahn beſtimmt war, und ſeit zwei Monaten vergeblich
darauf gewartet, in Marſhall geladen hatte, — deren
Treiber dem Conducteur das freundliche Anerbieten ſtellte, ſeine
Stiere vor den Zug zu ſpannen, auf daß er ſchneller nach
Shreveport käme. Sofort zog der Conducteur den Rock
ab, und forderte den Ochſentreiber wegen Beleidigung zum
Zweikampf heraus. Dieſer, ein echter Texaner Hinter—
wäldler, der für den Hochgenuß einer gemüthlichen Schlä⸗
gerei zu jeder Zeit ein Paar Meilen weit gegangen wäre,
nahm die Herausforderung mit Freuden an. Sämmtliche
Paſſagiere ſtürzten aus dem Waggon, ohne ſich um das
Unwetter zu kümmern und bildeten einen Ring, in dem
der Conducteur und der Ochſentreiber bald handgemein
wurden.
Mit gezogenen Revolvern ſtanden die Zuſchauer des
heroiſchen Kampfſpiels im Kreiſe da, jeder von ihnen
ſchwörend, er werde den erſten niederſchießen, der einem
der Kämpfer helfe, indeß der Conducteur und Ochſentreiber
399
wie ein Paar fechtende Hunde über einander in dem ſum—
pfigen von halbgeſchmolzenem Schnee bedeckten Boden hin—
rollten. Bald war der eine von ihnen unten, bald der
andere, und Fäuſte, Stiefel und Zähne thaten ihr Mög—
lichſtes, den Gegner zu beſiegen, während die Zuſchauer,
die meiſtens für den Ochſentreiber Partei genommen, von
aufmunternden Zurufen und thieriſchem Gejauchze den
Wald wiederhallen ließen. Dem Ochſentreiber gelang es
zuletzt, ſeinen Gegner mit den Zähnen an der Naſe zu
faſſen und ihm nach texaniſcher Sitte mit dem Daumen
ein Auge halb auszudrücken (mit dem techniſchen Namen
„gauging‘‘ benannt), worauf der Conducteur ſchrie, er
habe genug.
Das Kampfſpiel hatte jetzt ein Ende, die Piſtolen
wurden von den Zuſchauern in den Rockſchooß geſteckt, und
der Sieger forderte mit indianiſchem Schlachtgeheul jeden
zum Zweikampf heraus, der ein Freund des Conducteurs
und der Eiſenbahn ſei. Als Niemand ſich bewogen fühlte,
die Herausforderung anzunehmen, verfügten ſich ſämmtliche
Paſſagiere, in freudiger Stimmung über das amüſante
Intermezzo, wieder in den Waggon; der „Ben Johnſon“
ſpannte ſich auf's Neue vor den Zug, und langſam ging
es vorwärts.
Bis vor Abend legten wir auf oben beſchriebene
Weiſe etwa fünf deutſche Meilen zurück — da wollte die
Locomotive, der ſowohl Waſſer als Holz ausgegangen war,
nicht mehr ziehen, und der Conducteur, der ſich aus Wuth
über ſeine Niederlage tüchtig betrunken hatte, bedeutete den
Paſſagieren, daß er vor dem nächſten Morgen nicht weiter
zu fahren gedächte.
Die eingeborenen Texaner, kräftige, verwogen aus—
ſehende Geſellen, die des Bivouakirens gewohnt waren,
hatten bald ein rieſiges Wachtfeuer angezündet, um welches
400
fie ſich in maleriſchen Gruppen lagerten. Lichterloh ſchluger
die Flammen, vom Sturmwind angefacht, hinauf bis unten
die mit langem zottigem Moos behängten entlaubten Aeft
der knorrigen Waldesrieſen und malten phantaſtiſche Ge:
bilde im halb erleuchteten Urwaldsdunkel, indeß die Schnee:
flocken ziſchend in die Gluth fielen. Trotz aller Romanti!
zog ich mich aber bald in den Waggon zurück, da mir das
Lager auf feuchtem Raſen und bei dem grimmigen Nord—
wind wenig behagte.
Eine traurige Nacht war es, die ich verbrachte. Mich
in mein Minimum zuſammenkrümmend machte ich wieder⸗
holt vergebliche Verſuche, auf einem der Sitze einzuſchlum—
mern. Ein Afrikaner, der hinter mir Platz genommen
und ſonore Baßlieder modulirte, ſtreckte ſeine Beine über
die Sitzlehne dicht mir unter die Naſe, ein anderer, der vor
mir auf dem Boden ſchnarchte, legte gelegentlich ſein duftiges
Wollenhaupt zutraulich mir in den Schooß, betrunkene
Irländer ſangen herzzerbrechende Lieder, der Ofen war bald
rothglühend, bald eiſigkalt und rauchte wie ein Schornſtein,
der Blutumlauf ſtockte in meinen zuſammengepreßten
Gliedern — kurzum, ich mußte auf den Schlaf verzichten.
Endlich brach der neue Tag an — bleifarben, norther⸗
heulend, kaffeelos. Um ſieben Uhr ſollte der Verſuch ge—
macht werden, weiter zu fahren. Eine neue Locomotive
ſei in der Nähe, hieß es, der „Jay bird!“ — die Elſter
— und werde ſchieben, während der „Ben Johnſon“ zöge.
Beide Locomotiven waren aber feſtgefroren. Ein Verſuch,
die Eiſenroſſe zum nächſten Waſſerreſervoir zu ſchieben,
mißlang. Wir Paſſagiere kochten an den Bivouakfeuern
Waſſer in Zinnkeſſeln und trugen es ſechzig Schritt weit
zu den Locomotiven, welche wir damit losthauten, indeß die
Negerarbeiter ſich ſchneeballten und weder durch Drohungen
noch Zureden zu veranlaſſen waren, uns zu helfen.
401
Um zwei Uhr Nachmittags waren der „Ben Johnſon“
und die „Elſter“ marſchfertig, und unter dreimaligem Hurrah
der Paſſagiere ſetzte ſich der Zug in Bewegung. Nach vier⸗
maligem Zulauf erreichten wir eine Höhe. Munter ging es
auf der anderen Seite eine geneigte Ebene wieder hinab
und dann durch einen Durchſchnitt, der ſo enge war, daß
die Wagen zu beiden Seiten die Böſchungswände faſt be—
rührten. Hier kam der Zug aus dem Geleiſe und brach
in der Mitte zuſammen, — anderthalb Meilen von der
Stelle, wo wir übernachtet. Der Paſſagierwagen mit der
„Elſter“ war hinten, der „Ben Johnſon“ mit den Pack—
wagen vorne, und eine faſt bodenloſe, vom Regen erweichte
Lehmmaſſe, die einem beim Hineintreten in die Stiefelſchäfte
lief, füllte den Hohlweg.
Den Paſſagieren ward jetzt von dem Conducteur der
Vorſchlag gemacht, auf den offenen Baumwollenwagen die
übrigen 13 engl. Meilen nach Shreveport zu fahren, —
eine nicht ſehr einladende Ausſicht Doch eine zweite Nacht
im Waggon oder Bivouak zu verbringen, ſtand außer aller
Frage. Wir ſchleppten alſo unſer Gepäck vom Paſſagier—
wagen durch den fußtiefen Schmutz und halbgeſchmolzenen
Schnee nach den Baumwollenpackwagen.
Bis vor Abend war der Umzug bewerkſtelligt, und
nachdem wir vor Kälte zitternd noch ein Stündchen auf
die Rückkehr des „Ben Johnſon“ gewartet, der auf Re—
cognoscirung vorangefahren war, ging es, als die Nacht
hereinbrach, wieder vorwärts. Mit verſtärkter Wuth pfiff
der Wind uns um die Ohren, und Hagel, Schnee und Regen
raſſelten auf uns herab, wie wir, dicht zuſammengedrängt,
hoch oben auf den Baumwollenballen kauernd, unſerm er—
ſehnten Ziele entgegenjagten. Die Wagen ſchwankten und
holperten in kurzen Sätzen oft dermaßen auf dem un—
ebenen Geleiſe, daß Geſchicklichkeit dazu gehörte, nicht
26
402
von den hochgethürmten Baumwollenballen hinunter
zufallen.
Um neun Uhr in der Nacht langten wir in Shreve
port an, wo ein Bahnhof zu den unbekannten Größer
zählt. Auf offener Straße mußten wir abſteigen, hal!
verfroren und hungrig wie Hyänen, da wir auf vierzig)
ſtündiger Reiſe nur von Käſe und Brotkrumen, der
Reſten unſeres Frühmahls in Marſhall gelebt. Vierzi⸗
engliſche Meilen hatten wir in gerade vierzig Stunder
zurückgelegt. Froh war ich, als ich in dem warmer
Kajütenſalon des ſtolzen Red-River-Dampfers „Alabama“
an fürſtlich beſetzter Tafel Seele und Leib reſtauriren
konnte, und gelobte es mir feierlich, daß dieſe Eifenbahn:
fahrt auf der „Southern Pacific Railroad“ meine erft!
und letzte auf jener Texasmuſterbahn ſein ſollte.
5. Mein Freund Pompejus.
Mehrere Jahre, mit die angenehmſten meines Lebens,
habe ich vor dem Ausbruche des amerikaniſchen Bürger—
krieges in Texas verbracht. Während des Krieges durchzog
ich als Neutraler mancher Herren Länder und kehrte im
Jahre 1866 nach einer kleinen Zehntauſend Meilen-Reiſe
in meine frühere ſüdliche Heimath zurück, um Geſchäfts—
außenſtände von meinen alten Freunden, den rechtſchaffenen
Pflanzern, einzutreiben. Daß die rechtſchaffenen Pflanzer
in Texas mich eher auf irgend einen amerikaniſchen Blocks—
berg, als in mein altes Revier zurückwünſchten, iſt unter
den Umſtänden ſehr erklärlich, und daß ich in einem Lande,
wo es noch vor Kurzem nichts Seltenes war, daß Räuber
bei hellem, lichtem Tage in die Wohnungen drangen und
den Bewohnern die Füße auf glühende Kohlen legten, um
Geldcontributionen zu erpreſſen; wo die Deutſchen wie
wilde Thiere zu Tode gehetzt wurden; wo man Unioniſten
zum Vergnügen aufhängte und alle Landſtraßen von Mör—
dern, Spitzbuben und Geſindel aller Art wimmelten — daß
ich in einem ſolchen Lande als plötzlich gleichſam von den
Todten erſtandener Gläubiger faſt des halben County's
nicht eben auf Roſen ruhte, iſt ebenfalls ſehr erklärlich, da,
wie bekannt, bei Geldſachen ſogar in friedlichen Ländern
die Gemüthlichkeit aufhört.
Indeß hatten ſich dazumal die Gemüther im Süden
Gott Lob fo ziemlich beruhigt und ich muß es dankbar an-
26 *
404
erkennen, daß man mich dort nicht nur nicht mehr als paſ—
ſende Eichenaſt-Fahne betrachtete, ſondern, im Gegentheil,
ſogar in Geldangelegenheiten, äußerſt zuvorkommend und
freundſchaftlich behandelte. Jede Regel hat aber ihre Aus—
nahmen. Eines ſchönen Tages — es war am 22. Februar,
dem Geburtstage Waſhington's — befand ich mich in mei—
nemHauptquartier, einem Advocaten-Bureau, in dem mich
meine alten Freunde, die Pflanzer, gelegentlich mit Zwanzig—
dollar⸗Goldſtücken und Rollen von „Greenbacks“ erheiterten
und ſtand, meinen Meerſchaum rauchend, gemüthlich am
luſtig brennenden Kaminfeuer, indeß ich mit zwei anweſenden
Rechtsgelehrten einen Baumwollen-Caſus kritiſch beleuchtete,
wobei es ſich darum handelte, ob meine Wenigkeit oder die
unter Oncle Sam's Namen den Süden ausplündernden
Baumwollen-Diebe das nächſte Anrecht auf ein Dutzend
Ballen Baumwolle hätten, als ein halbangetrunkener Te—
raner in die Stube hereinwankte und in einem Lehnſtuhl
mir dicht gegenüber Platz nahm.
Unſer Beſucher war ſeit den letzten Jahren der Schrecken
der Stadt geweſen. Alle zwei, drei Tage kam er in den
Ort nnd ſchoß beliebig mit feinen zwei geladenen Revolvern
— die er beſtändig ſchußfertig im Gürtel trug — in den
Straßen herum, wobei verſchiedene Male nur wie durch
ein Wunder ſowohl Herren als Damen ſeinen planlos
umherfliegenden Kugeln entgingen. In mehreren Privat—
gefechten hatte er ſeine Widerſacher mit Meſſerſtichen ge—
fährlich verwundet und einen derſelben erſchoſſen, ging aber
deſſenungeachtet und obgleich vor dem Geſetze als Mörder
denuncirt, frei in der Stadt umher, da ſich Niemand getraute,
ihn zu arretiren.
Er war auf unſer Bureau gekommen, um ſich bei dem
einen der daſelbſt wohnenden Advocaten, den er aus Verſehen
Tags zuvor auf der Straße faſt erſchoſſen hatte, für ſeinen
405
Scherz zu entſchuldigen. Mit mir hatte er nie Streit gehabt.
Seine Frau Mutter, die eine anſehnliche Pflanzung in der
Nähe unſerer Stadt beſaß, war in früheren Jahren einer
meiner beſten Kunden geweſen, ſo daß ich mit der Familie
unſeres Beſuchers auf freundſchaftlichem Fuße ſtand, obgleich
ich dieſem Sprößlinge derſelben von jeher am liebſten mög—
lichſt weit aus dem Wege ging, weil ich an ſeinen Piſtolen—
übungen wenig Gefallen fand.
Ich begrüßte ihn freundſchaftlich: „Wie geht's, Pomp?“
(Pompejus hieß der Ritter). Wie der Blitz riß er einen
geladenen Revolver aus dem Gürtel und hielt ihn mir,
nur zwei Fuß entfernt, vor's Geſicht, indem er den Hahn
halb ſpannte und rief: „Rede nicht zu mir, Du verdammter
Deutſcher; ich ſchieße Dir den Schädel vom Kopf herunter!“
Ich geſtehe es, mich überlief es eiskalt, als ich ſo
hülflos vor dieſem Tiger in Menſchengeſtalt ſtand und
ihm in's unheimlich blitzende Auge ſchaute. Bei einer wilden
Beſtie im Käfig wäre mir wohler geweſen. Daß er nicht
im Scherz zu mir redete, ſondern bittern Ernſt meinte, war
unverkennbar. Was gilt auch das Leben eines Dutchman,
wie man verächtlicher Weiſe unſere Landsleute an dieſer
Seite des Oceans öfters titulirt, einem ſolchen edelgeborenen
Amerikaner, der ſich himmelhoch über jenen erhaben dünkt!
Er würde nicht mehr Gewiſſensbiſſe darüber empfinden, eine
ſo tief unter ihm ſtehende Creatur, einen Deutſchen, nieder—
zuſchießen, als ob er ein Licht ausgeblaſen hätte.
Ich blickte meinem Dämon möglichſt kaltblütig in's
Auge, was, wie mir inftinetmäßig bewußt war, meine einzige
Hoffnung auf Rettung aus meiner peinlichen Lage blieb, da
er mir bei der geringſten Bewegung ohne Frage eine Kugel
durch den Kopf gejagt hätte.
„Ich will Dich, glaube ich, doch todtſchießen“, fuhr
er, abgebrochen zwiſchen den Zähnen murmelnd, fort und
406
ſpannte den Hahn vollends — Klick! Unbeweglich ſtand
ich drittehalb Fuß vor der Mündung der Piſtole, während
es mir vorkam, als packte mich eine kalte Hand im Genick.
Dann ſagte ich bittend, doch beſtimmt: „Laß das dumme
Zeug, Pompejus, ſchieße nicht auf mich.“
Nachdem er, vorgebeugt im Lehnſtuhl vor mir ſitzend,
den Finger am Drücker und die Mündung der Piſtole gegen
meinen Kopf haltend, mich faſt zwei Minuten lang in dieſer
Stellung ſtier angeblickt, beſann er ſich eines Beſſern und
ſteckte den Revolver langſam wieder in den Ledergurt,
worauf ich mich entfernte.
Meine beiden Freunde, die Advocaten, welche rechts
und links etwas entfernt von mir an ihren Schreibtiſcher
ſaßen und mir nicht helfen konnten, bemerkten ſpäterhin,
daß ſie mein Leben nicht fünf Cents werth erachtet hätten
und ihnen vor Entſetzen bei der jetzt geſchilderten Scene
der Athem ſtill geſtanden. Daß mein Freund Pompejus
für dieſen „Spaß“ nicht beſtraft wurde, verſteht ſich von
ſelbſt.
6. Gerichtsſeene in Texas.
| Einer Gerichtsſitzung in Texas beizuwohnen, ift ein
Capital⸗Vergnügen, das ich, wenn ſich mir eine Gelegenheit
während meines Aufenthaltes in jenem Lande darbot, ſelten
verſäumt habe. Außer dem Genuſſe, den oft mit glänzender
| Beredſamkeit von den Advocaten geführten Reden zuzuhören,
bietet das ganze Enſemble des Gerichtsſaals ein Bild, deſſen
getreue Wiedergabe einem Hogarth Stoff zu unſterblichen
Meiſterwerken geben würde.
Da ſitzt zunächſt der Richter auf ſeinem erhabenen
Seſſel, in möglichſt nachläſſiger Stellung, die Füße in gleicher
Höhe mit der Naſe vor ſich auf dem Pulte liegend und ein
ſolides Stück von ächtem Virginia-Kautabak im Munde,
aus dem er goldene Fontänen alle halbe Minuten nach
rechts und nach links entſendet; vor ihm ſteht ein Eimer
mit Waſſer, aus dem er ſich gelegentlich den Mund rein
ſpült und bräunliche Stromwellen über das Pult auf den
Boden ſpritzt.
Die Advocaten — die meiſten mit geladenen Revolvern
unter dem Rockſchooße und ſammt und ſonders mit Energie
Tabak kauend und, wenn nicht plädirend, in dicken Folianten
blätternd — benutzen denſelben Eimer mit Waſſer, um ſich
des Tabaks zu entledigen, wenn einer von ihnen eine Rede
halten will. Die Zuſchauer, gleichfalls mit Revolvern an
der Seite und faſt alle Tabak kauend, oft in Hemdärmeln
und die Hoſen in die Stiefelſchäfte geſteckt, ſitzen und liegen
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in pittoresken Stellungen ringsum auf den Bänken, balanciren
auf den Rücklehnen oder liegen auf den breiten Fenſter—
bänken. Einige nehmen ſich die Freiheit, aus Stummel—
pfeifen zu rauchen, und mitunter geht Einer in den mit
einem Geländer umgebenen Raum, worin Richter und
Advocaten hauſen, ſpült ſich am Eimer den Mund aus und
nimmt einen Schluck. Sämmtliche Anweſenden haben aus
Reſpect vor dem Geſetze den Hut abgenommen und verhalten
ſich ziemlich ruhig, da jedes auffallende Geräuſch, als gegen
die Würde des Gerichtshofs verſtoßend, ſofort vom Richter
mit Geldbußen ſtrenge geahndet wird.
In einer ſolchen Gerichtsſitzung, der ich in dem
Städtchen Clarksville im nördlichen Texas beiwohnte, fand
ein Zeugenverhör in einem Familienzwiſte ſtatt, wobei der
Friedensrichter, ein Schneidermeiſter, präſidirte. Der Rechts
fall war wie folgt:
Ein beſonders zankſüchtiger Texaner, der, feinen Schnurr-
bart kräuſelnd, den rothhaarigen Friedensrichter und den
Staatsanwalt hohnlächelnd muſterte, hatte feine Frau durch-
geprügelt und ſeine Schwiegermutter, die ihrer Tochter
beiſtehen wollte, erſt mit einem Stuhlbein um's Haus gejagt,
ſie dann mit einer geladenen Doppelflinte in's Kornfeld
verfolgt und ihr ſchließlich gedroht, er werde ſie ſcalpiren,
falls er ihrer habhaft würde.
Richter und Publicum hatten offenbar für die Damen
Partei genommen und zwei Rechtsgelehrte, angeſtellt als
Vertheidiger des ungalanten Hinterwäldlers, den zehn Mann
erſt nach einem lebhaften Scharmützel im Urwald zu arre—
tiven vermocht, hatten einen harten Stand, da der Richter:
ihnen alle Augenblicke in die Rede fiel. Einer derſelben,
der beide Füße bequem vor ſich auf einen Tiſch gelegt,
ließ ſich jedoch nicht abſchrecken, die Schwiegermutter durch
Kreuzverhör ſo in die Enge zu treiben, daß ſie zitternd
409
anfing ſich ſelber zu widerſprechen und der Caſus für den
Staatsanwalt bedenklich ward.
Unſer Schneidermeiſter, der Friedensrichter, der eine
beſondere Malice auf den ihn verächtlich muſternden Ange—
klagten zu haben ſchien, gebot plötzlich, nachdem er ſich den
Mund am Eimer hitzig ausgeſpült, mit einem Fauſtſchlag
auf das Pult, dem die Schwiegermutter verwirrenden
Advocaten „Silentium!“ ſtieg vom Katheder herunter, ſetzte
ſich neben die Schwiegermutter und ſagte zu ihr: er werde
ſie beſchützen, ſie ſolle nur keine Angſt haben, ſondern frei
von der Leber weg reden.
Dem Secretär, der die Acten führte, gebot er, die
ganze Sudelei von dem Verhör fortzuwerfen, und gab ihm
einen halben Dollar, um beſſeres Papier zu kaufen und
nach ſeiner Leitung die Acten wieder von vorn anzufangen.
— „Und was Eure verdrehten Reden anbelangt,“ — fuhr
er fort, ſich grimmig an die Advocaten wendend — „ich
verſtehe kein Wort von all' dem Unſinn. Ich habe auch
noch ein Wort mitzuſprechen. Was dort in Euren dicken
Büchern ſteht, bleibt ſich ganz gleich; ich weiß ſchon, wer
Recht hat, ſo gut wie irgend Einer. Und wenn's vierzig
ſolcher Rechtsfälle wären, ich würde jeden der Hallunken
trotz aller Eurer Reden und Spitzfindigkeiten ſchuldig be—
finden. — Hallo! mein Tabak iſt alle geworden! Hat
nicht Jemand von Euch ein Primchen für mich?“
7. Das „Schupftabakdippen“ der Südländerinnen.
Viele von den Damen im ſonnigen Süden der Ver—
einigten Staaten haben die häßliche Angewohnheit, ſich die
Zähne mit Schnupftaback einzureiben, was mit dem tech—
niſchen Ausdrucke Dippen bezeichnet wird. Der in Schott—
land verfertigte, dunkelbraune Schnupftabak, welcher in
kurzen, vierkantigen Flaſchen maſſenweiſe nach den ameri-
kaniſchen Südſtaaten importirt wird, iſt dazu beſonders
beliebt. Das „Dippen“ wird folgendermaßen betrieben:
die jener Unſitte ergebene Dame hat ein Stäbchen von
weichem Holze, deſſen eines Ende ſie mit ihrem Speichel
anfeuchtet, und in die breithalſige Flaſche tunkt (dippt,
daher der Ausdruck dippen), und dann den daran haf-
tenden Schnupftabak mit dem Stäbchen auf und hinter die
Zähne reibt; ein für den Zuſchauer nicht eben einladender
Proceß.
Wie mir von dippenden Damen in Texas oft ver—
ſichert worden, iſt der durch den Schnupftabak auf das
Zahnfleiſch und die Gaumennerven erzielte Reiz äußerſt
angenehm und pikant. Es geht den ſüdländiſchen Schönen
hierin ähnlich wie den chineſiſchen Opiumrauchern. Haben
ſie die häßliche Gewohnheit einmal angenommen, ſo iſt es
faſt ein Ding der Unmöglichkeit, dieſelbe zu bewältigen,
obwohl die ſchädlichen Folgen davon unausbleiblich und
bald ſichtbar ſind.
411
Das „Dippen“ wird von jungen Damen meiſtens
insgeheim betrieben, da die Herren daſſelbe mit nichts
weniger als freundlichen Augen betrachten; verheirathete
Damen geniren ſich weniger dabei. Oft habe ich ſolchen
meine Aufwartung gemacht, welche mich, mit der Schnupf—
tabaksflaſche in der Hand, im Parlor empfingen. Ich
mußte bei der Unterhaltung über ihre Geſchicklichkeit
im Handhaben des Schnupftabakſtäbchens unwillkürlich
erſtaunen.
Die erſte dippende Dame ſah ich im Staate Alabama.
Ich kehrte, wie es dazumal Sitte war (es war zu An—
fang der fünfziger Jahre), auf meiner Reiſe bei einem
reichen Pflanzer ein, der mir auf der Thürſchwelle ſeiner
Wohnung freundlich entgegenkam, und mich als willkom—
menen Gaſt einlud, es mir in ſeinem, allen anſtändig
gekleideten Fremden ſtets geöffneten Hauſe, bequem zu
machen. Mit der Tochter des Hauſes, einer blendenden
Schönheit im Alter von ſechzehn oder ſiebzehn Jahren,
hatte ich bald eine rege Unterhaltung angeknüpft. Sie
hatte in einem Schaukelſtuhle Platz genommen, und wiegte
ſich darin mit der allen Südländerinnen eigenen Grazie.
Mit einem reichbordirten, pariſer Fächer wehte ſie ſich
Kühlung zu, und war ohne Frage in dem mit hellen
Blumenſtickereien beſetzten, ſchillernden Seidenkleide eine
reizende Erſcheinung. Plötzlich legte ſie den Fächer beiſeite,
und nahm eine ordinäre breitmaulige Schnupftabaksflaſche
in die mit koſtbaren Ringen geſchmückte elfenbeinweiße Hand,
und begann zu meinem nicht geringen Entſetzen den von
mir oben beſchriebenen, widerlichen Proceß des „Dippens.“
Dabei wiegte ſie ſich ſchneller und ſchneller im Schaukel—
ſtuhle hin und her, und ſpritzte den Speichel mit unglaub—
licher Gewandtheit weithin von der Veranda in den Hof.
Daß meine Bewunderung für die ſüdländiſche Schöne
2 =; m er‘
412
jofort ein Ende erreicht hatte, brauche ich wohl kaum
hinzuzufügen.
In Texas halten die dem Schnupftabak verfallenen
Damen ordentliche Zuſammenkünfte, wobei bei geſchloſſenen
Thüren nach Herzensluſt „gedippt“ wird und Tagesneuig—
keiten, Moden, die neueſten Romane, Klatſchereien ꝛc. ab—
gehandelt werden. Die Gegenwart von Männern iſt bei
dieſen Dippgeſellſchaften verpönt. Während des Krieges,
als die Importation von ſchottländiſchem Schnupftabak
nach dem Süden durch die Blokade außerordentlich erſchwert,
und der Artikel eine Seltenheit geworden war, fingen viele
ſüdländiſche Frauen, denen der Gebrauch des Tabaks zum
Lebensbedürfniß geworden war, nach Art der Männer an,
Tabak zu kauen. Jetzt wird aber wieder um ſo eifriger
„gedippt“, wie vor dem Kriege.
Die ſchädlichen Folgen des „Dippens“ ſind im Süden
allgemein bekannt. Nicht ſelten dringt der feine Tabak in
die Lungen ein und verurſacht gefährliche Bruſtkrankheiten.
Ein bleicher, wächſerner Teint iſt das untrügliche Kenn—
zeichen einer „alten Dippſchweſter.“ Es iſt aber eine große
Seltenheit, wenn eine ſolche den Schnupftabak verbannt;
der eigenthümliche Nervenreiz iſt ihr bald fo zum Bedürf—
niß geworden, daß ſie nicht davon ablaſſen kann, obwohl
ſie weiß, daß die ihr zugemeſſene Lebenszeit dadurch be—
deutend verkürzt wird.
8. Eine intereſſante Reiſegeſellſchaft.
Auf den prächtigen Dampfern, welche den unteren
Miſſiſſippi befahren, drängt ſich allerlei Volk zuſammen,
worunter „die Söhne Erins oder der grünen Inſel“
ſtark vertreten ſind, die ſich nach ihrer Art manchmal
auf eine eigenthümliche Weiſe beluſtigen.
Eine Prügelei in Maſſe (an irish fight) gilt be-
kanntlich bei den Irländern für das höchſte denkbare
Vergnügen. Während einer Reiſe, die ich im Jahre 1870
von St. Louis nach New Orleans auf dem Miſſiſſippi—
Dampfer „Henry Ames“ machte, ward mir die Gelegen—
heit, einer ſolchen iriſchen Maſſenprügelei zuzuſchauen.
Als unſer Dampfer die Stadt Natchez im Staate Miſſiſſippi
verlaſſen wollte, um ſeine Fahrt ſtromabwärts fortzuſetzen,
kam eine Bande von etwa 75 irländiſchen Deicharbeitern
mit geſchwungenen Knüppeln und Hurrah vom Berge herab—
marſchirt und verlangte von unſerm Capitain Paſſage nach
dem 135 engliſche Meilen entfernten Baton Rouge zu
einem Dollar den Kopf. Nach längerem Debattiren
ward die Fahrt bewilligt, jedoch nur unter der Bedingung,
daß ſich die Herren Irländer unterwegs „nett betragen“
ſollten.
Die geſtellte Bedingung fand in dem Ausſehen der
neuen Reiſegeſellſchaft ihre volle Berechtigung. Die lie—
— — K 0
414
derliche Kleidung der Neuankömmlinge, ſowie ihre Mantel—
ſäcke und Reiſetaſchen, die offenbar ſchon manchen Sturm
erlebt hatten, erinnerten mich lebhaſt an die drei Hand-
werksburſchen in dem weltbekannten Luſtſpiel „Lumpaci⸗
vagabundus“. Und dann dieſe Geſichter! Die rothen,
aufgeſtülpten Naſen, die pfiffigen Augen, verkratzten, pur—
purnen Backen, wilden Haare und Bärte — in meinem
ganzen Leben hatte ich nicht eine ſolche Blumenleſe von
originellen Bummlerphyſiognomien beiſammen geſehen.
Jeder führte den hiſtoriſchen irländiſchen Knüppel, „Shi—
lela“ genannt, in der Hand. Gelegentlich einem ſchwarzen
Deckarbeiter einen feſten Rippenſtoß verſetzend, kam die
luſtige Bande an Bord marſchirt. Sobald der letzte
Mann dieſer „alten Garde“, von denen jeder ſeinen
Papierdollar Paſſagegeld in der Hand hielt und am Lan—
dungsplatze abgeben mußte, an Bord war, wurde das
Brett eingezogen, unſere 75 neuen Paſſagiere brachten ein
donnerndes Hoch aus auf das „bloody Natchez!‘ und
hinaus in den weiten Miſſiſſippi ſchoß unſer prächtiger
Dampfer.
Während der nächſten Stunde hatte unſer „Bar—
keeper“ — Schenkwirth an der Bar — alle Hände voll
zu thun, um ſeine neuen fünfundſiebenzig, ſtets durſtigen
Gäſte zu bedienen. In dichten Haufen drängten ſich die—
ſelben an die Bar, um einen Schluck zu einem viertel
Dollar zu erobern. Dieſer Schluck beſtand jedesmal in
einem bis zum Rande gefüllten Waſſerglas mit Whisky.
Jeder Irländer hatte fünf Dollars, welches Geld ihnen
als Abſchlag für Deicharbeiten in Natchez ausgezahlt
worden, im Vermögen, und konnte, nach Abzug des einen
Dollar für Paſſage, folglich über vier Dollars verfügen,
ein Aequivalent für ſechszehn ſolcher Schlucks. Die köſt—
lichſten Einfälle gaben die luſtigen Zechbrüder gratis zum
415 [ R
Beſten; kein Volk in der Welt gf viel Mutterwitz
und natülichen Humor, wie der Irländer. a
Bald fing der Whisky an, feine Wirkung auf unſere
heiteren Cumpane auszuüben. — Paddy, Patrick, Ma⸗
loney und Me Carty verſetzten einander gelegentlich einen
freundſchaftlichen Hieb mit dem Shilela auf den Hirn—
ſchädel oder einen wohlgemeinten Rippenſtoß, und das For—
dern von mehr Whisky wurde immer ungeſtümer. Zuletzt
erklärte der Barkeeper, dem vor ſeinen lärmenden, durſtigen
Kunden angſt und bange wurde, daß er keinen Tropfen
Whisky mehr im Vorrath habe, ſchloß den Trinkſtand und
machte ſich aus dem Staube. Mit einer Fluth von entſetz—
lichen Flüchen auf den Ganymed und den „trockenen
Steamer“ begaben ſich unſere intereſſanten Reiſegefährten
alsdann aus der Cajüte auf das untere Deck zurück.
Während der nächſten ſechs Stunden wurde nun auf
dem untern Verdeck des Dampfers zur Feier des Tages
eine förmliche Schlacht geliefert, ein echtes „Irisch fight.“
Jeder prügelte ſich mit allen; die Shilelas, welche Natio—
nalwaffe die Irländer mit unglaublicher Gewandtheit zu
handhaben wiſſen, und zwar ſo, daß ſie den Stock allemal
in der Mitte anfaſſen, kreiſten umher wie Windmühlen—
flügel und klapperten beim Pariren nicht ſelten auf den
Knöcheln und Hirnſchädeln. Dabei wurde geflucht und
geſchrien, ein wahrer Bedlamslärm. Alles dies war aber
nur zum Spaß. Wurde aber mitunter Einer böſe, der
einen tüchtigen Hieb davongetragen hatte, ſo forderte er
zunächſt Jedermann mit haarſträubenden Flüchen im Ernſt
zum Zweikampf heraus und fand auch bald ſeinen Mann.
Den Oberkörper halb entblößt, ſtürzten die Gegner wie
wilde Beſtien auf einander los, kugelten über einander auf
dem Boden hin und bearbeiteten einander mit Fauſt—
ſchlägen und Fußtritten.
416
Mit Beißen und mit den Daumen die Augen des
Gegners aus den Höhlen drücken, wie die Amerikaner es
bei einer Schlägerei zu thun pflegen, oder gar mit
Schießen und Stechen, befaßt ſich der Irländer nicht;
dafür iſt er zu civiliſirt. Um ſo lieber gebrauchen ſie
den Shilela, reißen ſich an der Naſe und an den Lippen
und packen ſich in den Haaren. Gegen Piſtolen und
Meſſer hegt der Irländer einen unüberwindlichen Wider—
willen. Selten wird daher Einer bei einer ſolchen Rau—
ferei ernſtlich beſchädigt. Die Geſichter der Kämpfenden
ſehen allerdings nach derſelben entſetzlich aus.
Während des Gefechts, das die Irländer, dreiviertel
angetrunken, wie ſie waren, ſo recht con amore unter ſich
veranſtalteten, ſtanden die ſchwarzen Deckarbeiter mit den
rollenden Augen bewundernd umher, und die Cajütenpaſſa⸗
giere bildeten das feinere Zuſchauerperſonal oben auf der
Cajütengallerie, ſo zu ſagen auf dem erſten Range.
Als ich gegen Abend das Schlachtfeld beſuchte, lagen
an vierzig mehr oder weniger Bleſſirte durch- und über⸗
einander auf dem Verdeck und ſchliefen ihren Rauſch aus.
Keiner war ſeltſamerweiſe während des Handgemenges
über Bord gefallen.
9. Ein Beſuch in der Mammuth⸗Höhle in Kentucky.
Eine meiner liebſten Reiſeerinnerungen iſt mir ein
Beſuch der berühmten Mammuth-Höhle. — Mein langge—
hegter Wunſch, jene Rieſenhöhle zu ſehen, verwirklichte ſich
aber erſt im Sommer 1870. Als ich im Monat Juli des
genannten Jahres von einem Beſuch in Texas nach Cali—
fornien zurückkehrte, ſtand mir die Wahl offen, entweder
über St. Louis oder über Louisville nach Omaha und
San Francisco zu reiſen, welche letztere Route mich, wie
ich wußte, in die Nähe der Mammuthhöhle bringen würde.
Die directe Fahrt über St. Louis wäre wohl etliche Hundert
Meilen näher geweſen; aber ein ſolcher kleiner Umweg
kommt ja bei einer Reiſe in Amerika wenig in Betracht
und ſollte mich auch nicht abhalten, einen Abſtecher nach
der gewaltigen Höhle zu machen. Geſagt, gethan! —
In New-Orleans löſte ich mir ein Fahrbillet nach San
Francisco via Louisville, und bald durchflog ich auf der
„New-Orleans, Jackſon & Great Northern Eiſenbahn“
den Staat Miſſiſſippi, — meine alte Heimath in den fünf—
ziger Jahren. Nachdem ich die Staaten Miſſiſſippi und
Tenneſſee durchkreuzt hatte, verließ ich am letzten Tage
des Junimonds bei der Eiſenbahnſtation Cave City in
Kentucky den Schnellzug, von wo mich ein Omnibus durch
eine maleriſche Waldgegend nach dem nur noch ſechs engliſche
Meilen entfernten, in der Nähe der Mammuthhöhle erbauten
Hotel brachte.
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418
Der Landſtrich von Kentucky, wo ſich die Höhle befindet,
95 engliſche Meilen ſüdlich von der Stadt Louisville am
Ohiofluß, iſt eine maleriſche Waldgegend, deren Untergrund
aus einer gewaltigen Kalkſteinſchicht beſteht. Der nahe
Green River, welchen jetzt an 300 Fuß hohe Abhänge
jener Felsart einſchließen, iſt der eigentliche Höhlenbaumeiſter
geweſen. Im Laufe der Jahrtauſende hat er ſein Bett
immer tiefer eingeſchnitten und zugleich die Kalkſteinlager
an ſeinen Ufern etagenweiſe erſt durchlöchert und mit Waſſer
gefüllt, und, als er auf ein tieferes Niveau ſank, drainirt.
Daß die Hauptgänge einſt das Bett von unterirdiſchen
Flüſſen waren, unterliegt keinem Zweifel. Sowohl an
den Höhlungen, als vom Ablagern loſer Felsſtücke auf dem
Kies⸗ oder Sandboden derſelben iſt der Lauf, den das
Waſſer hier vor ungezählten Jahren genommen, heute noch
ganz deutlich zu erkennen. Die weiten Gewölbe und
Hallen (ſogenannte Dome), ſowie die zahlreichen brunnen—
artigen Abgründe wurden entweder durch das Einſtürzen
von übereinander liegenden Gängen und Zerſetzung des
Geſteins gebildet, oder ſie verdanken ihr Entſtehen dem
fortwährenden Herabträufeln und Durchſickern von Grund—
waſſer, welches dieſelben im Laufe der Zeit aus dem
feſten Felſen ſozuſagen herausgemeißelt hat. Die Reſte
der unterirdiſchen Gewäſſer befinden ſich gegenwärtig
285 Fuß unter dem Plateau und ſtehen mit dem Green
River, deſſen Waſſerſtand auch den ihrigen bedingt, in
Verbindung.
Die Mammuthhöhle iſt ein ungeheures Labyrinth von
unterirdiſchen Gängen (Avenues), Gewölben, Engpäſſen,
Hallen ꝛc., mit zahlreichen Gewäſſern, Abgründen, Gyps-,
Tropfſtein- und anderen Gebilden. Namentlich iſt es das
Kolloſſale ihrer Räumlichkeiten, was jeden Beſucher in Er—
ſtaunen verſetzt. Der großartige Charakter der amerika—
419
nischen Natur hat hier unter der Erde gleichſam ein
Gegenſtück gefunden. Die Geſammtlänge von 72 bis jetzt
erforſchten, neben- und übereinanderliegenden „Avenues“
(nur ſolche Gänge, welche wenigſtens eine halbe engliſche
Meile lang ſind, werden Avenues genannt), beträgt mehr
als 150 engliſche Meilen, und iſt die Höhle noch lange
nicht in allen ihren Theilen bekannt geworden. Die Mam—
muthhöhle wurde zufällig im Jahre 1809 durch Jäger
entdeckt, als ein gehetzter Bär in der damals mit dichtem
Gebüſch überwachſenen Oeffnung vor der Verfolgung Schutz
ſuchte. Lange Zeit war nur der vordere Theil der Höhle
bekannt, bis ein gewiſſer „Stephen“ (hier Stephen der
Große genannt), ein Halbblutindianer mit eiſernen Nerven,
in den dreißiger Jahren auf einem über den ſogenannten
„bodenloſen Abgrund“ geworfenen Baumſtamme in das
unbekannte Jenſeits hinüberkletterte und in den tiefer
liegenden Theil der Rieſenhöhle eindrang. Die vordere
Höhle muß ſchon vor ihrer Entdeckung durch die Weißen
den Indianern, deren Spuren man dort vielfach gefunden
hat, bekannt geweſen ſein. Auch zwei indianiſche Mumien
wurden in ihr entdeckt. —
Nachdem ich im Hotel die nöthigen Erkundigungen
über die Höhle eingezogen, war ich bereit, meinen Ausflug
in das finſtere Labyrinth derſelben zu beginnen. Da keine
holde Ariadne mit einem meilenlangen Zwirnfaden mitging,
ſo mußte ſelbſtverſtändlich ein erfahrener Führer mich be—
gleiten, welchen mir der Wirth in dem Herrn Abraham
vorſtellte, dem zuverläſſigſten und am beſten inſtruirten
unter allen ſeinen Collegen. Meine Reiſegenoſſen in die
Unterwelt beſtanden ferner aus einem Geologen, der ein
ſchätzenswerther Begleiter auf einer ſolchen unterirdiſchen
Spaziertour war, und aus einem amerikaniſchen Profeſſor
von einer Hochſchule in Louisville, welcher in Heidelberg
Tas
420
ſtudirt hatte, nebſt deſſen Gemahlin und ihrer Freundin.
Wir Herren ließen unſere Röcke auf den Rath des Führers
im Hotel zurück und zogen wollene Jacken an, die Damen
erſchienen in intereſſantem Bloomerkoſtüm. Abraham hatte
ein halb Dutzend Oellampen und ein Packet Eiſenbahn—
annoncen, die mit Kohlenöl getränkt waren, in der Hand,
womit er, wie er bemerkte, die ſehenswertheſten Theile der
Höhle erleuchten wollte.
Bald gelangten wir an den Eingang zur Höhle. Ein
weites und dunkles Gewölbe, von herrlichen Laubbäumen
umſchattet, lag ſie in der Tiefe vor uns da, und bildete
einen ſo romantiſchen Höhleneingang, wie einer ſich nur
denken läßt. Ueber das Höhlenthor ſtürzte ein kleiner
Waſſerfall hinunter, und ein kalter Luftzug drang aus dem
Innern der Erde hervor. Als wir auf einem abſchüſſigen
und ſchlüpfrigen Pfade in die Tiefe gelangt waren, fühlte
ſich dieſer Luftzug eiſig kalt an, ſo daß wir ſchnell Tücher
um den Hals banden und ſroh waren, uns auf den Rath
des Führers in warme wollene Jacken gekleidet zu haben.
Dieſer kalte Luftzug hat ſeine Urſache in der Temperatur
der Höhle, welche das ganze Jahr hindurch + 59 Grad
Fahrenheit beträgt. Die Höhlenluft ſucht mit der äußeren
Atmoſphäre ein Gleichgewicht herzuſtellen — daher der
Luftzug. Im Sommer wird die Luft von der Höhle in
langem, gleichmäßigem Zuge ausgeſtoßen, im Winter zieht
ſie die äußere Luft ein. Dies pflegt man als „das Athmen
der Mammuthhöhle“ zu bezeichnen. Iſt die äußere Luft
auch + 59 Grad, fo findet kein Luftzug ſtatt. Zur Zeit
meines Beſuches betrug die Wärme im Freien 90 Grad,
— ein plötzlicher, recht unangenehmer Temperaturwechſel
von 31 Grad.
Ehe wir in die Höhle traten, zündete der Führer die
Oellampen an und überließ Jedem von uns eine derſelben.
421
Der Luftzug war zuerft fo ſtark, daß mehrere Lampen
davon ausgelöſcht wurden; bald aber ward er ſchwächer,
und als wir nach einem Marſche von etwa zehn Minuten,
der uns durch einen langen, tunnelartigen Felſengang führte,
die ſogenannte „Rotunde“ erreicht hatten, war nichts mehr
davon zu ſpüren. Die gleichmäßige kühle Temperatur der
Höhlenluft war im Gegentheil von jetzt an angenehm für
Nerven und Lungen. Die in allen Theilen der Höhle
merkwürdig reine Luft iſt ſo kräftigend, daß ſelbſt ſchwächliche
Perſonen, die kaum im Stande find, im Freien einen kurzen
Spaziergang zu machen, durch einen viele Stunden anhal—
tenden Marſch in der Höhle nur wenig ermüdet werden.
Wir blicken uns um in der Rotunda, einem mäch—
tigen Gewölbe von etwa 100 Fuß Höhe bei 175 Fuß im
Durchmeſſer, das gerade unter dem Speiſeſaal des erſt
vor Kurzem von uns verlaſſenen Hotels liegt. Auf dem
Boden befinden ſich rieſige, aus ſchweren Bretterbohlen
verfertigte viereckige Kufen, Waſſerröhren, große Stein—
haufen ꝛc., — die Ueberbleibſel anſehnlicher, zu Anfang
des Jahrhunderts hier bearbeiteter Salpeterwerke. Röth—
licher Sand und ebenſo gefärbte Steine, aus denen der
Salpeter gewonnen ward, bedecken den Boden. Die Bretter
und Balken ſind in der reinen Luft nicht im mindeſten
angefault, obgleich ſie beinahe ſechszig Jahre hier gelegen
haben. Am Boden ſind die Fußtapfen von Ochſen und
die Radſpuren von Wagen, welche hier vor zwei Menſchen—
altern hin und her fuhren, noch ganz deutlich zu bemerken.
Der Lehm, in den ſie ſich eindrückten, iſt ſeitdem zu feſtem
Geſtein geworden. |
Langſam wanderten wir weiter durch einen von ge—
waltigen Felſen überhängten Gang, den ſteinigen Pfad mit
unſeren Lampen vorſichtig beleuchtend, und treten bald
darauf in ein zweites, achtzig Fuß breites und vierzig Fuß
422
hohes Gewölbe, die Methodiſtenkirche genannt. Beim
Beginn dieſes Jahrhunderts war hier in Wirklichkeit die
Kirche in der Mammuthhöhle. Siebzig Jahre! eine lange
Zeit in Amerika! — Das wilde Kentucky, damals der
„blutige Grund“ genannt, wo vor zwei Menſchenaltern
Indianer und Weiße grauenvolle Kriege miteinander führten,
iſt ſeitdem zum Garten Amerika's geworden. Die Indianer
ſind ganz von dort verſchwunden. Aber an der Mammuth—
höhle ſind die Jahre ſpurlos vorübergegangen. Hier ſtehen
noch dieſelben Bänke, liegen noch die nämlichen Holzklötze
an derſelben Stelle, wo die andächtige Gemeinde dem
Prediger bei Fackellicht vor ſiebzig Jahren zuhörte. Ein
fünfundzwanzig Fuß hoher Fels bildete an der einen Seite
der Höhle die natürliche Kanzel. Unſer Führer hieß uns
auf einer alten Bank Platz nehmen, beſtieg den Kanzelfels
und zündete einen von ſeinen mit Oel getränkten Papier—
blättern an, deſſen Licht die ganze Halle erleuchtete. Dann
warf er das brennende Papier hinunter. Heller flackerte
es auf und erloſch plötzlich, und wieder umſchloß uns das
neblige Dunkel, deſſen Nähe nur von unſern Lampen ſpärlich
beſchienen wurde.
Wir befanden uns jetzt in der großen Avenue, die
ſich ſechs engliſche Meilen weit erſtreckt und eine Höhe von
vierzig bis hundert, bei einer Breite von ſechszig bis zwei—
hundert Fuß hat, — der größten unterirdiſchen Straße in
der Welt. Der Boden in derſelben iſt meiſtens glatt wie
der in einer Tenne; die Decke ſchließt ſich wagerecht an
die ſenkrecht aufſteigenden Seitenwände. Man denke ſich
eine Hauptſtraße in einer der größeren Städte Amerika's
oben an den Dächern der Häuſer quer hinüber geſchloſſen,
und der innere Raum der Straße wird demjenigen von
der „großen Avenue“ annähernd gleichkommen. Die Kreide—
felſen der Decke find vielfach von Eiſenoxyd geſchwärzt
425
und zeigen oft feltfame Figuren, aus denen ſich eine leb—
hafte Phantaſie leicht Formen von Menſchen und wunder—
bare Thiergeſtalten bilden kann. Es ſind dies gleichſam
die Fresko's in der Mammuthhöhle.
Nur ſpärlich vermochten unſere Lampen die näher
liegenden Theile der gewaltigen „Avenue“ zu erhellen.
Es war, als ob die Finſterniß das Licht einſöge. Als ich
die dämmernde Felſenſtraße hinunterblickte, die ſich wie in's
Endloſe vor uns erſtreckte, war es mir, als wandelten
wir hier durch die unterirdiſchen Gewölbe eines uralten,
rieſigen Tempelbau's. Die tiefe Stille, welche uns umgab,
hatte etwas unbeſchreiblich Ernſtes und Feierliches. Kein
Laut von der Oberwelt war je bis hierher gedrungen.
Mochte droben ein Donner krachen oder ein Orkan über
uns durch die Wälder toben, nicht den leiſeſten Wieder—
hall davon könnten wir hier vernehmen. Wie grenzenlos
verlaſſen mußte man ſich in der Finſterniß allein in dieſen
rieſigen öden Räumen fühlen! Der bloße Gedanke daran
machte das Herz lauter klopfen. Der Führer erzählte uns
Beiſpiele von Touriſten, welche beim Umherwandern in der
Höhle durch Sorgloſigkeit von ihren Gefährten getrennt
worden waren. Vergebens ſuchten ſie einen Ausweg, verloren
ſich tiefer und tiefer in den ſich endlos verzweigenden
Gängen und Gewölben. Ihre Lampen erloſchen; Nie—
mand hörte ihren Angſtſchrei. Wurden ſolche Verirrte
ſpäter aufgefunden, (es ſind Fälle vorgekommen, wo acht
und vierzig Stunden vergingen, ehe man ſie entdeckte) ſo
fielen ſie ihren Rettern weinend um den Hals, oder ſie
ſaßen ſtumm am Boden — wahnſinnig.
Unſer Führer machte uns auf einen gewaltigen Fels—
block aufmerkſam, der rechter Hand nahe an der Höhlen—
wand lag und einem Sarge täuſchend ähnlich war. Dieſer
ſogenannte „Sarg des Rieſen“ iſt 40 Fuß lang, 20 Fuß
424
breit und 8 Fuß hoch und könnte, falls er hohl wäre,
einen recht anſehnlichen Goliath aufnehmen. Ein weiß—
grauer Rand giebt ſeinem oberen Theile das Anſehen
eines Sargdeckels. Beim „Sarge des Rieſen“ verlaſſen
wir zeitweilig die „große Avenue“. Der rauhe Weg, den
wir jetzt einſchlugen, führt durch ein wahres Felſenlaby—
rinth. „Die Köpfe in Acht genommen!“ (careful for
heads) ruft Abraham jeden Augenblick. „Vorgeſehen links!“
— „Rechter Hand aufgepaßt!“ — erſchallt die Warnung.
Auf nichts weniger als feſten Leitern ſteigen wir in die
Tiefe, ſchreiten dahin auf engen, gewundenen Pfaden,
klettern über große Steinblöcke, kommen an Abgründen vor—
bei und ducken uns unter gewaltigen Felsmaſſen; eine ro—
mantiſche Spaziertour, bei welcher wir den Pfad Schritt
vor Schritt mit unſern Lampen beleuchten müſſen.
Auf einer Leiter erklimmen wir einen Felſenvorſprung
und blicken durch eine fenſterähnliche kaum drei Fuß breite
Wandöffnung in den Gorin's Dom. Der Führer mahnt
uns zur Vorſicht und läßt uns allein am Fenſter zurück,
Bei dem matten Schein der Lampen können wir aber, uns
an das ſchmale Geſims anklammernd, nicht viel mehr als
eine uns gegenüber liegende ausgehöhlte Felswand erkennen,
die ſenkrecht emporragt und ſich wie das Gemäuer eines
Brunnens jäh in die Tiefe ſenkt. Nach oben blicken wir
hinauf wie in einen dunklen Thurm, und nur der Wieder—
hall von dem auf den Boden herabträufelnden Waſſer giebt
eine Ahnung von der bodenloſen Tiefe des Abgrundes.
Die vor uns liegende halbrunde Felswand, welche eine
etwa ſechszig Fuß weite Oeffnung einſchließt, iſt etwa zwei—
hundert Fuß hoch; das natürliche Fenſter liegt ungefähr
in der halben Höhe derſelben. Plötzlich iſt der ganze Dom
hell erleuchtet. Abraham hat an einer oberen Oeffnung
mehrere von ſeinen mit Oel getränkten Papierblättern an—
425
gezündet und wirft dieſelben nach einander hinab, die krei—
ſend und hell aufflackernd in die Tiefe ſinken. Die ganze
Höhe der ungeheuren röthlich ſchimmernden concaven Fels—
wand erſchließt ſich momentan unſerm Blick. Von dem
fortwährend an ihm herabrieſelnden Waſſer iſt dieſelbe vom
obern Geſims bis 160 Fuß herab, wo ſie abbricht, aus—
gefurcht und wie in Falten gelegt. Es gehört nur wenig
Einbildungskraft dazu, ſich in dem thurmartigen Dom einen
uralten unterirdiſchen Tempel vorzuſtellen, deſſen Aller—
heiligſtes durch jenen röthlichen Felſenvorhang gleichſam
verdeckt war.
Wir kehrten nun zurück nach der „großen Avenue“
und kamen bald an einigen dachloſen Steinhütten vorbei,
den ehemaligen Wohnungen von Schwindſüchtigen, welche
ſich in früheren Jahren hier monatelang aufzuhalten pflegten,
um in der gleichmäßigen Höhlentemperatur Geneſung zu
erlangen. Keiner von ihnen wurde geheilt. Lebendig
hatten ſie ſich begraben und ſiechten ſchnell dahin. Geiſter—
bleich wankten ſie wieder hinauf zum Sonnenlicht, um bald
zu ſterben. Ein trauriger Gedanke, hier in der Einſam—
keit, in dieſen todten unterirdiſchen Räumen, neues Leben
zu ſuchen!
Jetzt will uns Abraham mit einem Stückchen Zau—
berei überraſchen. Er erſucht uns, auf einer am Wege
ſtehenden Holzbank Platz zu nehmen, läßt ſich ſämmtliche
Lampen geben und verſchwindet damit hinter einem Fels—
block. Ein ſeltſames Schauſpiel entwickelt ſich nun vor
unſeren Augen. Allmählich ſcheint ſich die Höhle in ein
langes und tiefes Thal zu verwandeln. Vor uns thürmt
es ſich empor wie ein Gebirge, mit Schnee an den Ab—
hängen in der nächtlichen Dämmerung. Am Gewölbe,
das ſich dunkelblau in weite Ferne erhoben hat, beginnen,
erſt matt dann immer heller leuchtend, zahlloſe Punkte zu
426
ſchimmern, als blickten wir hinauf in den Sternenhimmel;
ſelbſt ein Komet iſt deutlich zu erkennen. Bald darauf
zieht eine dunkle Wolke langſam am Himmel vorüber, die
Gebirgswand wird beſchattet, die Sterne verſchwinden. So—
bald die Wolke vorüber gezogen, blinken die Sterne wieder
hell wie zuvor. Der Führer entfernt ſich nun mit allen
Lampen in den Hintergrund der Höhle und läßt uns allein
in der Finſterniß. Pechſchwarz, ich möchte ſagen mit den
Händen greifbar iſt dieſe — eine wahre Rabennacht. Doch
ſieh! — in weiter Ferne erſcheint ein matter Lichtſtreifen.
Allmählich wird es dort heller, als bräche der Tag an.
Wir gewahren deutlich Wolken, umſäumt vom erſten
Morgenſchimmer. Das Licht hebt ſich und wird zur Sonne;
und plötzlich dringt wieder ein heller Schein zu uns her—
über. Ja, das war ſchön, einzig ſchön! — Noch nie ſah
ich eine ſolche Täuſchung. Es waren die Wunder der
ſogenannten Sternenkammer (star-chamber), die ſich
ſoeben unſerem Blick erſchloſſen. Der ſeltſame Augentrug
hat ſeine Urſache in dem Reflex des Lichtes, welches von den
verſteckt gehaltenen Lampen auf die eigenthümlich gefärbten
Felſen der Wände und Höhlendecke fällt. Dieſe iſt ſchwärz—
lich und mit vielen diminutiven Kryſtallen beſetzt, während
jene weißlich und dunkel ſchattirt ſind. Bei einer geſchickt
angebrachten Beleuchtung erſcheint die Decke wie ein leerer
Raum. Die Kryſtalle an derſelben werden durch das Licht
der Lampen gleichſam in Sterne verwandelt, während die
hellgrauen mit ſchwarzen Schraffirungen durchzogenen Seiten—
wände ſich wie ſchneebedeckte Gebirge aufthürmen.
Unſer Weg führte uns nun nach den „gothiſchen Ar—
kaden“. Ehe wir dorthin gelangten, kamen wir durch das
ſogenannte „Regiſterzimmer“, wo die niedrige, breite Decke,
die wie das mit Kalk getünchte Plafond eines großen
Saales ausſah, mit einer Menge Namensſchriften bedeckt
427
war. Beſucher haben ſich hier verewigen wollen und ihre
Namen meiſtens mit Kienruß pöbelhaft hingemalt. Als
ein bleibendes Denkmal roher Eitelkeit verunzieren dieſe
Sudeleien, denen ich ſonſt noch leider zu oft begegnete, die
Mammuthhöhle. Die „gothiſchen Arkaden“, welche wir bald
darauf erreichten, zeigten eine Menge der prachtvollſten
Stalactiten und Stalagmiten. Die zwei größten derſelben, die
„Säulen des Herkules“ genannt, haben einen Umfang von
nicht weniger als dreißig Fuß. Mein Reiſegefährte, der
amerikaniſche Geologe, überraſchte uns mit der Erklärung,
daß es funfzig Jahre nähme, um an einem Tropfſtein die
Dicke einer Oblate herzuſtellen und daß dieſe Rieſenſäulen
mindeſtens ein Alter von 20,000 Jahren hätten. Im
ſogenannten „Hochzeitszimmer“ ſind jene Gebilde beſonders
ſchön. In großem Bogen ſtehen die gelblich-weißen ge—
ſchweiften Säulen rings in der Halle, während kleinere
Zapfen wie eine Garnitur zwiſchen ihnen von der Decke
herabhängen, und gewähren einen reizenden Anblick. In
dieſer Halle wurde einmal bei Fackellicht und dem Scheine
von bunten Lampen eine höchſt intereſſante Trauung voll—
zogen. Ein hartherziger Vater einer ſchmachtenden Süd—
änderin hatte geſchworen, daß er ihre Hochzeit auf der
Erde mit ihrem Herzliebſten nie gutheißen werde. Dieſer
entführte nun ſeine Braut unter die Erde und hielt
Hochzeit in der Mammuthhöhle, wogegen der reiche
Schwiegerpapa vernünftigerweiſe nichts einzuwenden hatte.
Die Endſtrophen eines Gedichtes,“ worin ich jener herr—
lichen Tropfſteinkammern Erwähnung gethan, mögen der
Beſchreibung dieſer meiner erſten, etwa neun engliſche
Meilen langen Tagereiſe in der Mammuthhöhle als
Schluß dienen:
* ‚Die Mammuthhöhle in Kentucky“ aus dem II. Bande
pag. 234 ff. der Gedichtſammlung Adelpha.
428
Da trat ich in die „gothiſchen Arkaden“,
Wo mir ein Feenreich die Höhle ſchien, —
Als hätt' der Erdgeiſt mich zu Gaſt geladen,
Die Lampe mir vertraut des Aladin:
Der Stalactite Silberſäulen ſtanden
Im prächt'gen Kranze, trugen leicht und kühn
Die Decke, ringsum blitzt' es wie Demanten,
Die unter weiße Roſen hingeſtreut;
Und um der Säulen Kapitäler wanden
Guirlanden licht ihr Alabaſterkleid.
Hier der Altar, allwo, ſo ſagt die Kunde,
Ein flücht'ges Brautpaar Hymen ſich geweiht:
An hundert Fackeln ſtrahlten in der Runde
Ihr Licht von jedem Silber-Stalactit;
Wie Geiſterruf erſcholl's aus Prieſters Munde,
Als ſie im Höhlentempel hier gekniet.
Wie horchten auf die Gnomen, als erklungen
In ihrem ſtillen Reich das heil'ge Lied!
Aus tauſend Klüften kamen ſie geſprungen
Und ſtaunten an die ſonnenlichte Pracht.
Man ſagt, ſie hätten alle mitgeſungen
Mit leiſer Stimme und geflüſtert ſacht;
Und nach der Feier hätten ſie dem Pärchen
Das Glück, den Segen unſichtbar gebracht.
Und ich, der Dichter, dachte an dies Märchen,
Als aus der Höhle kommend, müd' ich lag
Auf weichem Moos; laut zwitſcherten die Lerchen
In blauer Höh', der Sonne Goldſtrahl brach
Durch's dunkle Grün des Urwalds, laue Lüfte
Umkoſ'ten meine Stirn am Sommertag,
Und durch das Laubwerk wogten Blüthendüfte:
Und nahe lag im tiefen Thalesgrund,
Vom Wald umringt und wildem Felsgeklüfte,
Ein ſchwarzes Thor, der Mammuthhöhle Schlund.
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1
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429
Am zweiten Tage meines Beſuchs im „Cave Hotel“
herrſchte ſchon früh Morgens reges Leben unter den Gäſten,
denn unſer Wirth hatte geſagt, daß Jeder, der ſich an
einem Marſche auf der ſogenannten „langen Route“ be-
theiligen wollte, zeitig gerüſtet ſein müſſe. Unſere ganze
Geſellſchaft von geſtern, ſowie mehrere Neuankömmlinge
hatten ſich zu der Spaziertour gemeldet, und außer dieſen
bemerkte ich noch vier deutſche Muſiker mit ihren Inſtru—
menten, die in der Höhle für uns ſpielen ſollten. Einen
intereſſanten Anblick bot unſere zahlreiche Geſellſchaft in
dem pittoresken Höhlenkoſtüm, als wir in langer Reihe
durch die Corridors des Hotels in's Freie ſchritten. Am
Höhlenthor erwartete uns wieder Freund Abraham, der
außer den nöthigen Lampen und den mit Oel getränkten
Eiſenbahnannoncen noch einen großen mit Lebensmitteln
gefüllten Korb bei ſich hatte. Wir gedachten an dieſem
Tage einen Marſch von achtzehn engliſche Meilen unter
der Erde zu machen, und ſollten weit jenſeits des Styx
zu Mittag ſpeiſen.
Bald waren die Lampen vertheilt, und in langer
Reihe folgten wir dem Führer in den finſteren Schooß der
Erde; auf's Neue blies der kalte Zugwind wiederholt die
Lichter aus, ehe wir in die ſchützende Tiefe der gewaltigen
Höhle gelangten. Durch die „große Avenue“ ſchritten wir,
vorbei am „Sarge des Rieſen“, dann durch eine wilde
Felſenenge nach dem ſogenannten „bodenloſen Abgrund“
(bottomless pit). Bodenlos iſt dieſer Schlund nun freilich
nicht, hat aber doch eine Tiefe von 200 Fuß, welche
Abraham durch einige hinabgeworfene brennende Eiſenbahn—
annoncen anſchaulich machte. Ehe Stephen der Große
dieſen Abgrund überbrückte, hielt man denſelben für das
Ende der Höhle; aber jetzt führt ein ſicherer Steg über
den Schlund. Auf der Mitte der Brücke erſchloß das ver—
430
einte Licht unſerer Lampen und der brennenden Papierblätter
uns zu Häupten ein domartiges Gewölbe, während ſich
ringsum zerriſſene Felsmaſſen aufthürmten und zu Füßen
der Abgrund gähnte.
In einem langen und niedrigen, kaum vier Fuß hohen
Gange wanderten wir gebückt weiter und ſtiegen dann tiefer
hinab, durch ein brunnenartiges Loch, worüber ein gewaltiger
Felsblock ſo zu ſagen in der Schwebe hing. Jeden Augenblick
vernahmen wir wieder die bekannten Mahnrufe Abraham's,
beſonders oft die Worte: „‚eareful for heads!“ —
Wir gelangten jetzt in einen ſchlangenartig gewundenen
Engpaß, mit gleichſam glatt polirten Seitenwänden, augen—
ſcheinlich einſtmals der Kanal eines reißend hindurch ſtrö—
menden Waſſerlaufes. Stellenweiſe war der ſich durch feſten
Fels windende Gang ſo eng, daß ſelbſt die minder Korpu—
lenten in unſerer Geſellſchaft Mühe fanden, ſich hindurch
zu zwängen, wobei unſere Köpfe oft in Gefahr waren, mit
den dicht über uns hängenden ſpitzigen Felſen in unangenehme
Berührung zu kommen. Dieſer Engpaß, der von achtzehn
Zoll bis drei Fuß breit und von vier bis acht Fuß hoch
iſt, führt den mehr paſſenden als poetiſchen Namen „der
Jammer des fetten Mannes.“
Raſch näherten wir uns nun dem Sthx, auf Kiesboden
und durch hohe, vierzig bis ſechszig Fuß breite Hallen
hinſchreitend, wo wir uns ohne Zweifel in dem Bette eines
ehemaligen unterirdiſchen Fluſſes befanden. Endlich ſtanden
wir am Ufer des Styx, eines gegen zweihundert Ellen
langen, und von fünfzehn bis vierzig Fuß breiten Gewäſſers,
welches von einer natürlichen Brücke überſpannt wird.
Der Höhlenfluß, von dem ich ſo viel gehört hatte, entſprach
jedoch keineswegs meinen Erwartungen. Dieſer Styx
ſchien mir überhaupt eine verfehlte Idee zu ſein. Das
Ufer war ſumpfig, das Waſſer dem eines ſchmutzigen
431
Teiches ähnlich. Da waren keine Schatten der Abgeſchie—
denen, welche auf die Ueberfahrt warteten. Kein drei—
köpfiger Cerberus ſchnappte Einem nach den Waden. Das
alte, halb mit Waſſer gefüllte Fährboot hätte nicht einmal
eine Paſſagierladung von Geiſtern tragen können, und von
Charon war vollends gar nichts zu ſehen. Einen beſſeren
Eindruck machte der See Lethe, den wir bald darauf er—
reichten, über welchen uns Abraham in einer Viertelſtunde
in einem bereit liegenden Kahn ruderte. Die Decke der
Höhle liegt dort neunzig Fuß über dem Waſſerſpiegel.
Weshalb übrigens der Lethe als ein See figurirt, iſt unklar.
Er hat die ungefähre Größe und Ausdehnung des Styx
und könnte ſo gut wie dieſer ein Fluß heißen. Stephen
der Große, welcher alle jene Gewäſſer benannt hat, lebte
wahrſcheinlich mit der Geographie der Unterwelt auf etwas
geſpanntem Fuße.
Nachdem der Lethe hinter uns lag, wanderten wir
wieder eine halbe Meile durch einen großen Höhlen—
gang, der ſich bei Hochwaſſer des Green River in einen
Fluß verwandelt, und deſſen weit über uns liegende
Decke beim matten Schein der Lampen ausſah, als ſchwebten
dort Lämmerwolken am dunklen Himmel. Am Ende dieſer
„Avenue“ gelangten wir an den dreiviertel engliſche Meilen
langen Echofluß und nahmen Paſſage in einem zweiten
Fährboot. Die lange dauernde Fahrt auf dem Schofluß
machte einen traumhaften Eindruck. In der That, es ge—
hörte nicht viel Einbildungskraft dazu, ſich hier auf einer
Reiſe nach Pluto's Reich zu dünken. Stellenweiſe war
die Höhlendecke ſo niedrig, daß wir dieſelbe mit den
Händen berühren konnten. Der Fluß hatte eine Breite
von zweihundert Fuß, unſer Charon gebrauchte ſein Ruder,
namentlich an ſolchen Stellen, wo er behutſam um die vor—
ſpringenden Felsufer herumfuhr, mit vielem Geſchick. Die
432
leifen Worte, welche wir redeten, hallten ſeltſam an der
Felsdecke wieder; die Lampen beleuchteten wie wandernde
Irrlichter die dunkele Fluth; aus der Ferne ließen die zu—
rückgebliebenen Muſiker ſanfte Accorde ertönen, wie ein
Lebewohl aus der ſchönen Oberwelt, — „Gungl's Hei—
mathklänge“, deren letzte, leiſe verhallende Tonwellen me—
lodiſch an den Felſen hinzitterten; dazu das unbekannte
Jenſeits, dem wir entgegenſteuerten, — eine Fahrt, deren
Bild ſich meinem Geiſte unauslöſchlich eingeprägt hat.
Alle dieſe und andere Gewäſſer in der Mammuthhöhle
ſtehen, wie ſchon bemerkt wurde, mit dem Green River in
Verbindung und ſteigen und fallen mit ſeiner Fluth. Bei
Hochwaſſer füllen ſich ihre Gänge bis an die Decke mit
Waſſer, das ſich alsdann auch in die nahe liegenden
„Avenues“ verbreitet und jede Verbindung von Außen her
mit dem inneren Theile der Höhle abſchneidet. In allen
jenen Höhlenſtrömen, insbeſondere im Echofluß, befinden
ſich augenloſe Fiſche und Krebſe. Dieſelben ſind ganz
weiß und haben, mit Ausnahme weniger bis acht Zoll
langer Exemplare, eine Länge von kaum zwei Zoll. Sie
ſind echte Raubfiſche und die größeren von ihnen verfolgen
und verzehren die kleinen. Es ſcheint, daß dieſe Fiſche,
welche wohl urſprünglich aus dem Green River gekommen
ſind, in der Höhle, wo ſie ſich fortpflanzen, bei ſpäteren
Geſchlechtern die Augen verloren haben. Die Augenhöhlen
ſind ihnen geblieben, aber die Augäpfel verſchwanden
daraus. Dagegen ſind die Höhlenheuſchrecken, ekelhafte,
blutarme und halbdurchſichtige Geſchöpfe, welche an den
Felswänden in der Höhle umherkriechen, nicht blind, was
ich aus dem Umſtande, daß dieſelben jedesmal vor dem
Lichte unſerer Lampen flohen, ſchließen konnte. Dieſe
Thiere, ſowie die in der Höhle nicht ſeltenen Eidechſen,
Ratten und Fledermäuſe, die alle mehr oder weniger ſehen
433
können, mögen wohl durch Felsſpalten gelegentlich an das
Tageslicht gelangen, wogegen es kaum anzunehmen iſt, daß
die augenloſen Fiſche und Krebſe, falls einige von ihnen
einmal vom Echofluß nach dem Green River ſchwimmen
ſollten, den Weg nach ihrer Höhlenheimath zurückfinden
können. 8
Nachdem wir den Echofluß paſſirt hatten, ſchritten
wir auf gelbem weichem Sandboden, eine volle deutſche
Meile weit, durch eine gewaltige, gegen vierzig Fuß hohe
„Avenue“, in welcher ſtreckenweiſe oben ein breites Geſims
hinlief, das wie ein Chorbau in einer Kirche ausſah. Dann
gelangten wir in einen wilden Felſenpaß, El Ghor ge—
nannt, wo wir uns während dreiviertel Stunden einen
Weg über ein Chaos großer von der Decke herabgeſtürzter
Felstrümmer ſuchen mußten, bis wir jenſeits einer ſteilen
und ſchlüpfrigen Treppe Martha's Weinberg erreichten.
Fürwahr, eine Ueberraſchung nach der wilden Felſenſcenerie
von El Ghor! — An der Decke und an den Wänden
der Kammer hingen Hunderte ganz natürlich ausſehende
Traubenbüſchel aus dunkelblauem Tropfſtein. Unwillkürlich
ſuchte das Auge nach dem Spalier, welches dieſelben trüge.
Wie von kunſtfertiger Hand gemeißelt ſahen dieſe Beeren
und Ranken aus, welche das langſam herabträufelnde, mit
Gyps, Alabaſter und Eiſenoxyd durchſetzte Waſſer hier im
Laufe der Zeit gebildet hatte.
Es iſt hoher Mittag. Wie die Zeit enteilt iſt! —
Seit fünf Stunden befinden wir uns in der Höhle und
haben eine ganz erkleckliche Anzahl von Meilen zurückgelegt.
Soeben ſind wir in eine geräumige Halle getreten, welche
den Namen Waſhington's führt. Abraham macht den
Vorſchlag, hier zu Mittag zu ſpeiſen, welche Aufforderung
mit Freuden von der Geſellſchaft angenommen wird, denn
es hat ſich bei uns Allen durch den langen Marſch in der
28
454
friſchen Höhlenluft ein ſtarker Hunger eingeſtellt. Bald
haben wir uns, auf Felsblöcken ringsum Platz nehmend,
romantiſch in der weiten unterirdiſchen Halle gelagert, der
Proviantkorb wird auf einer Felstafel entleert und Jeder—
mann langt wacker zu. Hell erklingen die mit funkelndem
Weine gefüllten Gläſer, welche wir dem Vater Amerika's
zu Ehren in dem nach ihm benannten Gewölbe der größten
Höhle der Welt aneinanderſtoßen.
Nachdem wir uns gut ausgeruht und Abraham die
Lampen mit dem hier in Blechkannen vorräthig gehaltenen
Oele friſch gefüllt hatte, ging's mit neuer Kraft weiter.
Wir betraten jetzt einen der ſchönſten Theile der Mammuth—
höhle, und während der nächſten Stunde drängte förmlich
eine Ueberraſchung die andere. Zuerſt hatte der nicht ſehr
hohe Gang, durch welchen wir hinſchritten, das Ausſehen,
als ſei er mit zahlloſen Schneeballen beklebt; dieſelben
hatten einen Durchmeſſer von zwei bis vier Zoll und be—
ſtanden aus runden, nebeneinander ſitzenden Gypsballen.
Dann waren ſowohl Wände als Decke der Höhle mit
Gyps⸗- und Alabaſterblumen, die wie aus hellem Wachs ver—
fertigt ausſahen, ſowie mit muſchelähnlichen Verzierungen
aus demſelben Material dicht beklebt. Täuſchend ähnliche
Nachbildungen von gelblich-weißen Roſen und Lilien, von
Caktuſſen, Tulpen und vielen anderen Blumen klebten in
reizendem Gewirr und mit ſtets wechſelnden Formen als
kalkige Excrescenzen, in Roſetten und Arabesken, an den
Felſen und kräuſelten ſich wie der Blätterſchmuck an
Säulenkapitälern. Eine weiße Gypsblume von etwa acht
Zoll im Durchmeſſer, die „letzte Roſe des Sommers“
genannt, hing an der Decke in einer von den Blumen—
kammern und ſah mit ihrem vollen Kelche und den
zartgeſchweiften Blättern prächtig aus. Cleveland's
Cabinet heißt dieſer Blumengarten in der Mammuth—
435
höhle, der ſich einunddreiviertel engliſche Meilen weit
erſtreckt.
Der Führer bedeutet nun unſeren Damen, zurückzu—
bleiben, da der Weg von hier bis zum Ende der Höhle
für ſie etwas angreifend ſein möchte. Dieſe fein geſtellte
Aufforderung wurde jedoch von den Vertreterinnen des
zarten Geſchlechtes energiſch abgelehnt, und erklärten alle
von ihnen auf das Beſtimmteſte, mitgehen zu wollen —
ſoweit wie irgend einer von den Herren. Während der
uächſten Meile führte der Weg über zahlloſe Felstrümmer,
die wüſt durcheinander gewürfelt den Boden bedeckten und
offenbar einſt von der Decke der Höhle herabgefallen waren.
Mühſam bewegten wir uns vorwärts, mit den Lampen
vorſichtig vor uns hinleuchtend. Von Felsſtück zu Fels—
ſtück, von einem Steinhaufen auf den andern ſtolperten,
ſprangen, krochen, balancirten wir, — eine gefährliche
Tour, wobei Jeder für ſich im Halbdunkel, ſo gut es
ging, die beſte Paſſage ſuchen mußte. Doch überwanden
ſelbſt die Damen mit lobenswerther Ausdauer alle jene
Hinderniſſe und gelangten mit dem Reſte der Geſellſchaft
glücklich bis an das Ende des von einer ſchroff aufſteigenden
felſigen Höhe abgeſchloſſenen Ganges. Nachdem wir wieder
zu Athem gekommen waren, erkletterten wir den vor uns
liegenden an hundert Fuß hohen Berg von loſen Fels—
blöcken und ſtanden endlich auf dem Kamme der ſogenannten
„Felſengebirge“ (rocky mountains). Vor uns gähnte
ein weites, offenes Gewölbe, in welchem die Finſterniß für
das Auge ſo undurchdringlich war, daß es den Anſchein
hatte, als ſtänden wir einem rieſigen ſchwarzen Vorhange
gegenüber. Sobald aber der Führer jenen ſogenannten
„grauſigen Thalgrund“ mit ſeinen Papierfackeln dämmernd
erleuchtete, erſchloſſen ſich unſerem Blick rechts und links
zwei ſich in Nacht verlierende mächtige Hallen, während zu
28 *
436
unſeren Füßen ein wahres Felstrümmer-Chaos lag und
ſich jenſeits deſſelben eine breite Felswand ſteil emporbaute.
Unſtreitig war dies der wildeſte Theil der Mammuthhöhle,
den ich bis jetzt geſehen hatte.
Nochmals eine Kletterübung und wir erreichten in der
linker Hand liegenden Halle den Rand eines 175 Fuß
tiefen und 20 Fuß weiten Schlundes, welcher den höchſt
unpaſſenden Namen „der Maelſtrom“ führt, und in den
ein kleiner Waſſerfall hinabſtürzte. Wir befanden uns hier
am Ende der Mammuthhöhle, volle neun engliſche
Meilen vom Eingang. Wenn ich von einem Ende der
Höhle ſpreche, ſo iſt damit der Punkt gemeint, bis wohin
ein gewöhnliches Menſchenkind gelangen kann. Ein Blick
in die grauſige Tiefe des „Maelſtromes“, den Abraham
mit einigen brennenden Papierblättern erleuchtete, belehrte
uns, daß von einem wirklichen Ende der Rieſenhöhle auch
dort nicht die Rede ſein konnte, denn am Boden des Ab—
grundes öffneten ſich wieder drei ſchwarzaufgähnende Gänge.
Vor einigen Jahren wurde der Verſuch gemacht, dieſelben
zu erforſchen. Ein Wagehals ließ ſich an einem Strick
hinunter und drang eine Strecke weit in zwei Gänge vor;
aber ein Ende derſelben fand er nicht. Als man ihn
wieder heraufzog und er in halber Höhe vom Boden
ſchwebte, entzündete ſich das Tau, waran er hing, durch
Reiben an einem vorſpringenden Felſen; doch wurde das
Feuer glücklich gelöſcht, ehe der Strick durchgebrannt war.
Der bekannte Schriftſteller Prentice aus Louisville war
der Mann, welcher jenes haarſträubende Abenteuer beſtand.
Er meißelte ſeinen Namen in einen Felſen am Boden des
Abgrundes. Ein Engländer und ein Amerikaner haben
ſpäter nochmals dieſe intereſſante Tour gemacht.
Langſam wanderten wir jetzt auf demſelben Wege, den
wir gekommen waren, zurück nach dem Ausgange der Höhle.
437
Im Felſenpaſſe El Ghor blieb ich, als ich längere Zeit
Höhlenheuſchrecken inſpicirte, unvorſichtiger Weiſe hinter
der Geſellſchaft zurück, verlor dieſelbe aus den Augen und
befand mich bis zum Echofluß ganz allein. Den Weg
dorthin verfehlte ich zwar nicht, aber der Marſch ganz
allein durch die finſteren gewaltigen Gänge war nichts
weniger als angenehm. Wenn ſonſt Mehrere von uns
beiſammen gingen, ſo ließen ſich die Umgebungen bei dem
vereinten Lichte von einem halben Dutzend und mehr Lampen
recht gut erkennen; aber ein einzelnes Licht machte dieſes
faſt unmöglich, und ich mußte mich vorſehen, nicht jeden
Augenblick zu ſtolpern oder gegen Felſen anzuſtoßen. Ich
ging im Mittelpunkte eines kleinen Lichtſchimmers, um mich
pechſchwarze Nacht. Wie Geiſtererſcheinungen traten mir
hier und da die Felſen entgegen und verſchwanden ebenſo
ſchnell wieder in der undurchdringlichen Finſterniß. Der
Gedanke, daß ich in der Höhle zurückgelaſſen werden und
gar meine Lampe erlöſchen könnte, beunruhigte mich während
dieſes Ganges. Eben ſtellte ich nichts weniger als heitere
Betrachtungen über die Art und Weiſe an, wie ich mich
wohl zu verhalten hätte, wenn Abraham mit dem Fährboot
bereits vom Echofluß, ehe ich dieſen erreichen könnte, fort
ſei, — als ich zu meiner Beruhigung die Reiſegeſellſchaft
dort wieder einholte. Als wir am hohen Nachmittage,
nach einem Marſche von mehr als achtzehn engliſche
Meilen unter der Erde, aus der kühlen Höhle wieder in's
Freie traten, machte der plötzliche Temperaturwechſel von
etwa dreißig Grad Fahrenheit einen Eindruck auf das
Nervenſyſtem, als wehe uns eine wahre Backofenhitze ent—
gegen. Der kurze Gang nach dem Gaſthauſe badete uns
förmlich in Schweiß. |
Mit einem Ausfluge nach dem berühmten Mammuth-
dome, wohin ich mich am nächſten Morgen in Be—
438
gleitung des amerikaniſchen Profeſſors aus Louisville be-
gab, fanden meine Streifzüge in der Mammuthhöhle ihren
Abſchluß. Nachdem uns Abraham zuerſt durch die eine
Meile lange, direct unter den „gothiſchen Arcaden“ liegende
prächtige „Penſacola Avenue“, in welcher die Felswände
ſtellenweiſe ſechzig Fuß hoch ſind und dann wieder die
Decke auf langen Strecken in einer Breite von hundert
Fuß wagerecht nur acht Fuß über dem Boden liegt, ge—
führt hatte, wanderten wir über den „bodenloſen Abgrund“
und durch den „Jammer des fetten Mannes“ nach der
„Schinkenkammer“, deren Tropfſteingebilde genau ſo aus—
ſahen, als ob etliche tauſend weſtphäliſche Schinken dort
hingen. Dann gelangten wir in den „Banditenſaal“, eine
urwilde Felſenhalle, gewiß ein idylliſches Plätzchen für
Straßenräuber, die ſich's dort auf den Felsblöcken bequem
machen, und vor der Polizei ſicher, in der Tiefe der Erde
Trinkgelage abhalten könnten. Durch einen mit wüſten
Steintrümmern überſäeten und unangenehm niedrigen
Felſengang, in welchem wir uns eine volle Meile weit
tief gebückt fortbewegen mußten erreichten wir endlich den
Abhang vor dem Mammuthdom.
Vorſichtig ſtiegen wir auf einer vierzig Fuß langen
ſchlüpfrigen Leiter hinab in die gewaltige Höhle, welche
Abraham mit einem Aufwande von brennenden Eiſenbahn—
annoncen vergeblich ganz zu erleuchten ſich bemühte. Man
denke ſich ein Gewölbe tief unter der Erde, worin der
Mittelbau des Capitols zu Waſhington bequem ſtehen
könnte, und man wird einen Begriff von der Rieſenhöhle,
deren Höhe über 250 Fuß beträgt, erhalten. Das
Geſtein hatte ein röthliches Ausſehen, und Waſſer tropfte
und rieſelte unaufhörlich an den Felswänden herunter.
Noch betrachteten der Profeſſor und ich mit Staunen
die koloſſalen Raumverhältniſſe jenes größten natürlichen
439
Gewölbes in der Welt, als Abraham uns zum Weiter—
gehen ermahnte. Er ſchien wenig Luſt zu haben, hier
länger als nöthig war zu verweilen, weil nach dem Ur—
theil von Sachverſtändigen, wie er uns anvertraute, der
Einſturz der ſich beſtändig vergrößernden Felskuppel nächſtens
ſtattfinden könne; eine recht pikante Bemerkung, die, ich
geſtehe es, meine Bewunderung über den romantiſchen
Dom ſehr verringerte.
Am Fuße eines von herabrieſelndem Waſſer ſchlüpfrigen
und wie ein Kirchendach ſteilen Abhanges im Dome machten
wir Halt. Dieſen ſollten wir hinaufſteigen, was ſich leichter
ſagen, als thun ließ; denn von einem Pfade war keine
Spur zu ſehen. Im Halbdunkel folgten wir dem Führer,
indem wir uns an Felsſplittern, die oft unter unſern
Händen losbröckelten, anklammerten, bis wir die fatale
Höhe glücklich erklommen hatten. Hier ſtanden wir vor
den ſogenannten „Korinthiſchen Säulen“, welche fünf an
der Zahl aus einer röthlichen Felswand in plaſtiſchen Um—
riſſen hervortraten, ihre an achtzig Fuß hohen Schäfte ſo—
wie Kapitäler ſo natürlich, als wären ſie von Menſchen—
händen geformt. Eine halbrunde, über hundert Fuß hohe
Niſche befand ſich nicht weit von den Säulen. Alles dieſes
war zweifelsohne ſehenswerth, als wir aber den Abhang
hinunter klettern ſollten, verwünſchte ich dennoch die Ko—
rinthiſchen Säulen und den ganzen Mammuthdom. Abra—
ham eruuthigte uns, ich befahl dem Herrgott meine Knochen
und abwärts ging's in die finſtere Tiefe. Nur mit größter
Mühe vermochten wir beim Hinunterſteigen das Ausglitſchen
zu vermeiden, und konnten oft minutenlang nirgends einen
Anhalt finden. Langſam hinabrutſchend, erfaßten wir mit
der einen Hand die feuchten Felsſplitter und mußten dabei
in der andern Lampe und Spazierſtock halten, — eine ge—
fährliche Turnübung! Endlich langten wir glücklich wieder
440
unten an und beeilten uns, aus dem romantiſchen Dom
herauszukommen. Als wir auf dem Rückmarſche aus der
Höhle durch die gewaltigen Räume der „großen Avenue“
ſchritten, erſcholl das Lachen von Kinderſtimmen und Knaben—
geſang aus weiter Ferne uns entgegen, und bald darauf
blitzte eine lange Reihe von Lichtern durch das Dunkel.
Es machte dies einen ganz eigenthümlichen Eindruck, wie
wenn eine Schaar luſtiger Gnomen uns in dieſen rieſigen
unterirdiſchen Hallen begrüßen wollte. Die Geſellſchaft
beſtand aus Knaben und Mädchen mit ihrem Lehrer aus
Louisville, welche die Mammuthhöhle in Augenſchein nahmen.
Am Nachmittage des dritten Tages meines Beſuches
nahm ich Abſchied von der gewaltigen Höhle, in welcher
ich im Ganzen gegen funfzig engliſche Meilen umhergeſtreift
war. Bald hatte ich die Eiſenbahn wieder erreicht und
ſpannte den eiſernen Rappen, der mich meiner fernen Hei-
math im Goldlande zuführen ſollte, in's Geſchirr. Den
grünen Wäldern von Kentucky Lebewohl ſagend und den
Geiſt voll von den märchenhaften Naturwundern der
Rieſenhöhle nahm ich meine unterbrochene 4000 Meilen—
Reiſe wieder auf und raſtete nicht eher, bis die weiten
Fluthen der Bai von San Franzisco mich auf's Neue
begrüßten.
Druck von Guſtav Eſch in Altona.
Alelpha, Gedichte der Brüder Chriſtian und Theodor
Kirchhoff. Altona. San Francisco. Erſter Band: Die Bofe
vom Rhein. Magnolien vom Miſſiſſippi. Zweiter Band: Eider
und Rhein. Bilder aus beiden Hemiſphären. — Neue unver—
änderte Ausgabe. Altona 1872. Carl Theod. Schlüter. In
New-⸗York bei E. Steiger, in San Francisco bei J. B. Golly zu
haben. Preis A Band: gebunden 4 M., brochirt 3 N.
Blätter für literariſche Unterhaltung 1874, Nr. 6.
Mit dem Dichten iſt es doch eine eigene Sache. Die Muſe verleiht nun eben
nicht jedem den bewußten Schleier, der aus „Morgenduft und Sonnenklarheit“
gewebt iſt. Und mancher, der dieſes köſtliche Geſchenk empfangen hat, weiß es nicht
zu gebrauchen: anſtatt den Schleier über die Wirklichkeit auszubreiten, hält er ihn
dicht vor ſeine Augen und ſieht in Folge deſſen alles in einen poetiſchen Nebel ge—
hüllt. Es iſt deshalb nicht zu verwundern, daß man ſich wie in eine andere Welt
verſetzt fühlt, wenn man einem echten Sänger begegnet, oder gar einem Sängerpaar,
wie es die Gebrüder Kirchhoff ſind. Da lauſcht man jeder Strophe und möchte
kein Wort verlieren:
Wir ſpannten den eiſernen Rappen vor,
Auf Flügeln des Dampfes zu jagen,
Zweitauſend Meilen, vom Goldenen Thor
Zum Miſſouri, im glänzenden Wagen;
Hoch unter den Wolken, im donnernden Zug,
Durch endloſe Wüſten, im ſauſenden Flug —
In vier gemeſſenen Tagen.
Wir ſehen den Hotelzug auf der Pacifiebahn an uns vorüberrollen. Jede Zeile
athmet Friſche und echte Poeſie:
Ade, du herrliche grünende Flur,
Ade, ihr Frühlingsgefilde!
Dich, Goldland, ſchmückte Mutter Natur
Zu paradieſiſchem Bilde!
Der Himmel, ſo tief, mit klarſtem Blau,
Die Lüfte im Winter ſommerlau,
Wie im Tropenlande ſo milde!
Es iſt bekannt, daß die Gedichte der beiden Brüder Chriſtian und Shehbor
Kirchhoff unter dem Titel „Adelpha“ erſchienen find. Der erſte Band erregte
bei ſeinem Erſcheinen ſofort Aufſehen. Jetzt liegt auch der zweite vor uns und
bietet eine noch größere Auswahl vortrefflicher Gedichte als der erſte. Diesmal
erhalten wir auch eine reiche Ausleſe von Vaterlandsliedern, die ſich durch kernige
Sprache und tiefgefühlten Patriotismus auszeichnen. Sie ſind größtentheils von
Chriſtian Kirchhoff gedichtet. Sie behandeln Schleswig-Holſteins Erhebung und
Befreiung. Als ein den beiden Brüdern gemeinſames Theilſtück der Sammlung
— —
„ — . . — Be en ME. ee ME.
müſſen die Soldatenlieder gelten, die unter dem Titel: „Der Krieger und ſein
Mädchen“, die Freuden und Leiden des Soldatenlebens ſchildern. Wie ſchön klagt
das Mädchen um ihren Geliebten, der in den Krieg gezogen iſt:
Und die Welt ſo köſtlich, Wenn die bleir'ne Kugel
Und die Welt ſo ſchön! i Ihm die Bruſt durchſchlägt,
Und mein Herz ſo traurig! Sind es zwei, die einſam
Muß alleine gehn. Man zu Grabe trägt.
Auf die ſtillen Berge Wahrlich, zu beneiden
Treibt mich's, durch die Flur, Iſt der Männer Loos:
Auf die alten Burgen, Siegend heimzukehren
Durch die Waldnatur. | In der Liebe Schoos;
Ob er froh und wohl iſt? Oder leicht zu ſterben
Ob verwundet, krank! Schnellen Schlachtentod.
Nicht den Hügel wüßt' ich, Unſer ſind die Thränen
Wenn ins Grab er ſank! Und die lange Noth.
Und die Welt ſo köſtlich!
Und die Welt ſo ſchön!
Und mein Herz ſo traurig!
Muß alleine ſtehn.
Die Abtheilung enthält 24 ſchöne Lieder.
Die ganze Gedichtſammlung muß überhaupt für eine poetiſche Gabe von ſeltener
Reichhaltigkeit angeſehen werden. Sämmtliche Poeſien des Brüderpaars empfangen
ihre Anmuth und ihren Schwung aus dem lebenskräftigen Boden der Wirklichkeit.
Das macht ſie ſo anziehend, wie alles, was den Stempel der Naturwahrheit trägt.
Ein aufmerkſamer Leſer kann in den Gedichten den individuellen Lebenslauf jedes
der beiden Brüder wiedererkennen.
Die landſchaftlichen Schilderungen aus der Neuen Welt von Theodor Kirchhoff
ſind mit wahrhaft hinreißendem Schwung der Sprache geſchrieben. Es ſind Ge—
mälde, die mit wenigen Strichen das Weſentliche ſkizziren und das übrige der
Phantaſie zum Hinzudenken überlaſſen. Der Dichter weiß uns die Schönheiten
des Yankeelandes zu erſchließen und einen eigenthümlich romantiſchen Farbenton
über ſeine Schilderungen zu verbreiten. Man höre die Beſchreibung eines Urwaldes:
Von den düſteren Moräſten
Längs dem tückiſchen Yazoo,
Wo ſich an Cypreſſenäſten
Wiegt das Cherokee-Cande —
Bis zum Miſſiſſippiſtrande,
Wo ſich waldbedeckte Lande
Wie ein endlos hoher Wall
Spiegeln ſchwarz im Fluthenſchwall:
Dort erſtreckt ſich hundert Meilen
Modervoll ein Rieſenſumpf.
Mammuthbäume, noch von Beilen
Nie entweiht, ſtehn dicht und dumpf.
Träge Schlammgewäſſer fließen
Durch das Sumpfland; breit aufſprießen
Gelbe Blumen. Weit herum,
Liegt der Urwald, kühl und ſtumm.
Durch der Waldeyklopen Gipfel
Dringt der Mittagsſonne Gluth;
Schweigſam ſtehn die hohen Wipfel
Und die Thierwelt ſchläft und ruht.
An den knorr'gen Aeſten ſchwanken
Dichtverſchlung'ne Epheuranken,
Ungeheuern Schlangen gleich
Aus der Vorwelt Fabelreich.
Von den Zweigen hängt herunter
Langes Moos, wie zott'ges Haar,
Und auf grünem Raſen drunter
Spielt die muntre Eichhornſchaar.
Plötzlich jagen all' im Sprunge
Hoch hinan mit leichtem Schwunge,
Von entferntem Knall erſchreckt,
Der des Waldes Echo weckt.
Nun folgt in den weitern Strophen eine Beſchreibung der Thierwelt des Urwaldes
in größter Ausführlichkeit. Schlangen, Spinnen, Skorpione, Eidechſen, Mosquitos,
Kolibris, Eichhörnchen und Waſchbäre — jedes bekommt den ihm gemäßen Platz
im Naturhaushalte des ungeheuren Waldes angewieſen. Dann folgt die Schilderung
eines Orkans:
Plötzlich regen ſich die Gipfel
Rieſ'ger Bäume wie zum Tanz,
Und die dichtbelaubten Wipfel
Drehen ſich im Wirbelkranz.
Wie ein Donnerkeil von oben
Stürzt ſich des Orkanes Toben,
Jäh, mit ſchmetternder Gewalt
Nieder auf den weiten Wald.
Hundert rothe Blitze ſprühen
Durch die Lüfte auf einmal —
Leuchten, ziſchen, zucken, glühen,
Wie durchwühlt von Höllenqual
Scheint die Erde ſelbſt zu wanken.
Hundertjähr'ge Bäume ſchwanken
Zittern leicht wie Espenlaub,
Dicht umhüllt von ſchwarzem Staub.
Wir ſehen das Schauſpiel greifbar vor unſern Augen. In derartigen Beſchreibungen
iſt Theodor Kirchhoff ein ebenbürtiger Rivale Freiligrath's. Ein wahrhaft groß
artiges Gemälde entrollt uns der Dichter in ſeiner Schilderung des ſchrecklichen
Brandunglücks, welches den Dampfer Golden-Gate auf offener See betraf und den
Untergang deſſelben zur Folge hatte.
Die „Adelpha“ beweiſen, daß es immer noch Poeſie gibt, und daß Eiſenbahnen
und Telegraphen, Walzwerke und Spinnereien, Aetiengeſellſchaften und Verſicherungs—
bureaur nicht im Stande ſind, die ganze Welt in proſaiſche Nüchternheit zu verſenken.
O. Zachariä.
r ca * * * * 1
Die Blätter für literariſche Unterhaltung 1870, Nr. 44
ſagen über die Gedichte Theodor Kirchhoff's:
Dieſelben bekunden ſogar mitunter, namentlich da, wo ſie die Schranken eines
ſubjectiven Gefühlslebens durchbrechen und Welt und Zeit in ihren Kreis ziehen,
einen gewiſſen großen Zug, etwas Fernblickendes, etwas Culturhiſtoriſch-Grandioſes,
wie die ſehr klangvollen und inhaltſchweren „Terzinen“ aus Italien und das
„Miſſiſſippiꝙ-Panorama“ beweiſen. Der Verfaſſer iſt ein vielgereiſ'ter Mann, der es
verſteht, die Völker mit ihren Sitten und die weite Welt mit ihren wechſelnden
Naturſcenerien in ſeinen Poeſien wiederzuſpiegeln. Dem „Stillen Meere“ widmet
der Dichter die folgenden anapäſtiſchen Strophen:
Willkommen! du herrliches Stilles Meer
von tropiſcher Fülle umgeben,
Wo die ſchwellenden Waſſer im Sonnenglanz
wie Wonne athmend ſich heben,
Wo klar ſich ſpiegelt der Berge Kranz,
im Schooße der Azurwogen,
Und dunkelblau darüber ſich wölbt
des ſüdlichen Himmels Bogen.
Willkommen, du Golf von Panama,
mit den Inſeln voll duftender Wälder,
Wo am Fuße der grünenden Hügel ſtehn
die rauſchenden Zuckerrohrfelder;
Mit den alten Gemäuern ſo traulich dort
im Schatten der Cocosbäume,
Wo die ſäuſelnden Winde melodiſch wehn
wie im Zauberlande der Träume.
Einſt ſah dich ſtaunend, ein neues Meer,
der tropiſchen Urwelt Spiegel,
Der Spanier, blinkend im Panzerkleid,
von des Iſthmus ſchwellendem Hügel.
Nach Golde ſuchend irrte er weit,
gen Weſten, gen Weſten immer;
Auch mich verlockte vom Vaterland
des Weſtlands goldener Schimmer.
Ihr blanken Gewäſſer, tragt mich ſacht
vom palmenumgürteten Strande,
Von Neu-Granada's bläulichem Golf
zum californiſchen Lande;
Wo der Waldſtrom rauſcht auf goldenem Sand
über funkelnde Felſenquadern,
Und die Felswand blitzt, wie edles Geſtein,
durchflochten von leuchtenden Adern. -
Aber die Sehnſucht nach der Heimath iſt mächtiger als der Reiz der Tropen, und
das Gedicht klingt mit folgenden elegiſchen Verſen ſchön aus:
Hinüber, hinüber zieht es mich
zur Heimath aus ferneſten Weiten!
Nicht feſſeln der Südſee Zauber mich
und die Himmel tropiſcher Breiten.
Ihr duftenden Wälder lauſchtet nie
der Nachtigall Trilleraccorden,
Und grüner, als Palmen von Panama,
ſind die Buchenhaine im Norden.
Neben dieſen im Freskenſtil gehaltenen Gedichten finden ſich bei Theodor Kirchhoff
einfache Lieder voll Gemüth und Innigkeit, wie z. B. „Der lieben Mutter ſtilles
Grab“, welches unwiderſtehlich das Herz gewinnt, weil es aus dem Herzen ſtammt.
Wir begrüßen den Verfaſſer als ein reſpectables Talent.
Magazin für die Literatur des Auslandes,
Ar a1: 18,1:
Man kann ſich, in einem Bande vereint, kaum etwas Verſchiedenartigeres denken,
als dieſe Gedichte zweier Brüder. Beide ſind bis zu einem gewiſſen Grade Meiſter
der Form und gehen in räealiſtiſcher Richtung. Aber ſchon in der Bezeichnung, die
ſie den Hauptabtheilungen ihrer Gedichte gegeben haben, iſt der Unterſchied angezeigt.
Hier der Rhein, dort der Miſſiſſippi. Daher bei Chriſtian Kirchhoff, welchen die
Roſe am Rhein begeiſterte, eine tief innere Bewegung, welche durch eine glückliche
normal deutſch ſich darſtellende Liebe hervorgerufen wurde, und ſelbſt in der Ab—
theilung „Leben“ eine reflectirende Beſchaulichkeit, die auch da, wo ſie eine epi—
grammatiſche Schärfe annimmt, ihren tiefgemüthlichen Charakter nicht verläugnet
— bei Theodor Kirchhoff dagegen, den Amerika anzog, in jedem Verſe ein Wellen—
ſchlag, der ungeſtüm hinaus in das wildbewegte Leben treibt, nach Befriedigung
der Wanderluſt aber ſanft in das trauliche deutſche Bruderhaus zurückführt.
Chriſtian K. liebt es, in der Stille der Nacht die Fülle ſeiner Gedanken auszu—
ſtrömen — Theodor K. aber gewinnt der in vollem Sonnenlichte ſtrahlenden Natur
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dem Weltverfehre ſeine großgezeichneten Bilder ab, und er beweiſt, daß ſich die
Poeſie recht gut mit den rußigen Schornſteinen der Dampfſchiffe, mit dem gellenden
Pfiff der Locomotive und ſonſtigen anſcheinend poeſiewidrigen Erſcheinungen der
Neuzeit zu befreunden vermag. Chriſtian K. preiſ't die Harmonie, Theodor K. er—
faßt die Gegenſätze in der Natur. Und ſo ergänzen ſich Beide gegenſeitig, indem
ſie vereint uns die Mannichfaltigkeit im deutſchen Dichterwalde vor die Augen und
zu Herzen führen. G. H.
Magazin für die Literatur des Auslandes
Nr. 5. 1872.
Ueber die Dichtungsweiſe dieſer beiden begabten Brüder haben wir uns bei
Gelegenheit des erſten Bändchens ihrer Gedichte ausgeſprochen. Wir freuen uns
das günftige Urtheil von damals auch über den reichen Inhalt des zweiten Bandes
fällen zu können. Natürlich hat der Sturm der großen Zeit, die wir durchleben,
auch die Saiten in der beiden Brüder Leyer berührt, und mit kräftigem lange
hallt in ihnen die begeiſterte Vaterlandsliebe wieder. Es iſt ganz dankenswerth,
jetzt, wo alle Welt die Erfüllung der Kyffhäuſerſage beſingt, in Liedern auf den
Anfang des gewaltigen Ringens um die deutſche Einheit zurückzuweiſen: die Kämpfe
in Schleswig-Holſtein, ſie verdienen die poetiſchen Blätter, welche Chriſtian K. als
ahnender Zuſchauer, Theodor als Mitkämpfer ihnen geweiht hat. Mit dieſen Poeſien
bilden die aus der Fülle des Herzens gedrungenen Verſe aus den Jahren 187071
einen prächtigen Kranz von Zeitgedichten. Zum Theil haben ſie in San Francisco
das Licht der Welt erblickt, wo Theodor dem Enthuſiasmus der Deutſch-Amerikaner
über Deutſchlands Erhebung zündende Worte verlieh. — Wenn ſodann Theodor in
ſeinen Gedichten „Bilder aus beiden Hemiſphären“ getreu dem Motto: „Kreuz und
quer — Ueber Land und Meer“ Amerika und Europa al fresco malt, ſo kann
er doch in Amerika den Europäer und dann in Europa den Amerikaner nicht ver—
läugnen. Wir geſtehen, ſeine glänzenden, farbenreichen Bilder aus Amerika bei
weitem vorzuziehen; ſein Pinſel iſt da von kräftiger, oft ergreifender Wirkung.
Aber wir warnen ihn freundſchaftlichſt, den Heine'ſchen Ton anzuſchlagen; den
originellen Inhalt mag auch die originelle Form umſchließen. G. H.
Europa, 1872, Nr. 52.
In dieſen Gedichten vereinigen zwei Brüder ihre poetiſchen Gaben, Brüder von
ganz verſchiedener Geiſtesart und Gemüthsſtimmung; der eine, Chriſtian, iſt eine
mehr innerliche, tief bewegte und feinfühlende Natur, der andere, Theodor, ein ſich
mit Wohlbehagen in den Wogen des Lebens badender, thatenluſtiger und jugend—
friſcher Geſelle. Dieſem Unterſchiede Beider gemäß und auf Grund ihrer verſchie—
denen Lebensſtellung — Chriſtian lebt in Altona, Theodor in San Francisco — tragen
die Poeſien des Einen einen mehr contemplativen, reflectirenden Charakter, während
die des Andern eine glückliche Naturanſchauung und große Plaſtik der Darſtellung
documentiren. Deutſches und Amerikaniſches Leben reicht ſich in dieſen Gedichten
der beiden Brüder die Hand, — und da iſt es denn wieder für Chriſtian, den Res
präſentanten Deutſcher Gemüthsinnigkeit, bezeichnend, daß wir in ſeinen Gedichten
mehr den weichen Ton der Beſchaulichkeit angeſchlagen finden, für Theodor, den
Amerikaniſchen Bürger mit Deutſchem Herzen, aber charakteriſtiſch, daß er uns weite
Perſpectiven eröffnet in das farbenreiche Leben der transatlantiſchen Welt. Dieſe
Tropen- und Oceangemälde Theodor's halten wir für die bedeutendſten Piecen des
Buches. Die öden Einſamkeiten der Prairie, die üppige Vegetation des Urwaldes,
— — —
die Schrecken des fürchterlichen Hurrikan, jenes Alles vernichtenden Sturmes, die
Sommernächte im wildromantiſchen Plutonthale, — das Alles lebt und athmet in
den Liedern Theodor Kirchhoff's. Daneben iſt das geſellſchaftliche Leben Amerikas
durch mehrere Gedichte glücklich zur Erſcheinung gebracht, und neben den im Fresco—
ſtil breit und impoſant ausgeführten transatlantiſchen Landſchaftsgemälden finden
ſich Gedichte, welche intereſſante Erlebniſſe und Ereigniſſe anſchaulich ſchildern.
Weniger Farbe, als die Amerikaniſchen Poeſien, haben die Europa repräſentirenden
Gedichte, die Schweizerbilder, das Gondellied und das Edinburgh gewidmete Gedicht,
obwohl das letztgenannte einen faſt Platen'ſchen Schwung hat. Der Liedercyklus:
„Der Krieger und ſein Mädchen,“ welcher beide Brüder zu Verfaſſern hat, ſpricht
durch Wärme der Empfindung und lebhaften Fortgang der anmuthigen Handlung
an. Aecht dichteriſches Feuer haben die von einer edlen Geſinnung getragenen pa—
triotiſchen Gedichte, welche ebenfalls von beiden Brüdern ſtammen und namentlich
Schleswig-Holſteins Erhebung und Befreiung in oft monumentalen Verſen feiern.
Dieſer zweite Band der „Adelpha“ ſchließt ſich ſomit dem erſten würdig an und
legt aufs Neue Zeugniß ab für die hübſche poetiſche Begabung der Brüder Chriſtian
und Theodor Kirchhoff.
Im neuen Reich, 1873, Nr. 14.
Es iſt bekannt, daß unſere Landsleute in der Fremde, beſonders in Amerika
die Bedeutung der letzten politiſchen Umwälzung früher erkannt und die erſten
Erfolge Preußens freudiger begrüßt haben, als Viele in Deutſchland, und der
Grund davon liegt auf der Hand: in der Entfernung verſchwinden die Grenzen
der Territorien und der Parteien und man ſieht allein auf's große Ganze, dazu
waren Jene ſozuſagen in freier Luft, nicht umnebelt durch die Wolken von Miß—
verſtändniß, Aerger und Verbitterung, welche bei uns auch das Gewitter von
Königgrätz noch nicht zerſtreuen konnte. Einen Beleg dafür bieten die Gedichte des
Californiers Theodor Kirchhoff. In treuer Liebe gedenkt er des ſchwarz-roth-goldnen
Banners, unter dem er einſt gegen Dänemark gekämpft hat, aber rückhaltslos jubelt
er dem neuen Tage entgegen, welcher über den Schlachtfeldern Böhmens auf—
gegangen iſt:
„Die alten Farben fielen —
Wohlan, ſo hängt ſie auf
In des Kyffhäuſer's Grabe!
Doch von dem höchſten Knauf
Der deutſchen Dome alle
Laßt weh'n im Morgenroth,
Germanias neue Farben,
Die Banner ſchwarz-weiß-roth!“
So ſpricht er 1867 und im folgenden Jahre:
„Ich glaube, lebt' der alte Fritz *
Und hielt das Scepter feſt, — Bot Blitz!
Ich glaub', er ſetzt' die Kaiſerkron',
Die deutſche, auf und rief' vom Thron:
Ich Fritz bin deutſcher Kaiſer!
Und all' die Kleinen rings im Land
Vom Niemen her bis nach Brabant,
Von Schleswig-Holſtein bis Tyrol,
Die würden rufen jubelvoll:
Es lebe Fritz der Kaiſer!“
Daß er den Krieg gegen Frankreich und ſeine Folgen mit überſchwänglicher
Freude feiert, verſteht ſich von ſelbſt, und es iſt eine Luſt zu ſehen, wie dieſer
wackere Patriot unter den ſpeculirenden Yankee's die Geſchicke ſeines Vaterlandes
ſorgend und jubelnd miterlebt. Echt deutſch iſt auch der offene Dichterſinn, mit
welchem er die Erinnerungen an die alte Heimath bewahrt, während er zugleich
ſich in die wunderbaren Landſchaften des fremden Erdtheils liebevoll verſenkt und
die Prairie wie den Urwald, Californiens Berge und die Südſee in glänzenden
Bildern zu ſchildern weiß. Die Verſe ſind klangvoll und fließend; zuweilen iſt wohl
etwas zu breit gemalt, wie z. B. die Gedichte „die Prairie“ und „der Urwald“
durch Kürzung gewinnen würden. Manches iſt auch ganz unbedeutend und im
Einzelnen vermißt man, namentlich im Ausdruck die feinere künſtleriſche Aus—
arbeitung. Von größter Krafi und Wirkung iſt die Darſtellung in dem Gedichte
„der Brand des Golddampfers Golden-Gate“, die Schilderung des brennenden
Schiffes, welches mit vollſter Dampfkraft dem Strande zujagt. C. A.
Itzehoer Nachrichten Ar. 147, 19. Debr. 1871.
Auf den erſten Band der „Adelpha“ iſt ſchon früher auch in dieſem Blatte auf—
merkſam gemacht; inzwiſchen iſt ein zweiter gefolgt, der daſſelbe Lob verdient, das
den Verfaſſern vielfältig diesſeit und jenſeit des Oceans geſpendet iſt. Dazu iſt
der Inhalt dieſes Bandes noch reichhaltiger.
Die erſte Abtheilung enthält „Vaterlandslieder“, und zwar: „Erinnerungen an
Schleswig-Holſteins Erhebung“, mit einem Widmungsliede an die Schleswig-Hol—
ſteiniſchen Kampfgenoſſen, das mit der ſchönen Strophe ſchließt:
„Dein Lied, o Schleswig⸗Holſtein, es war ein Weiheſang,
Der wie ein Zauber glühend in alle Herzen drang!
An Deinem Strande ward ſie geſä't die heil'ge Saat,
Die jetzt in Deutſchland herrlich die Frucht getragen hat.“
Ich führe aus dieſem Abſchnitt nur an: „Eckernförde“ in 7 Liedern, „Kolding
und Vandrup“, „Friedericia“ in 5 Liedern (IV. „Delius“, V. „Chriſtianſen“),
„Miſſunde“. Sie ſind meiſtens von Theodor Kirchhoff. Die zweite, haupt—
ſächlich Chriſtian angehörende Unterabtheilung: „Schleswig-Holſteins Befreiung“,
enthält unter andern die vortrefflichen Lieder: „Der Eid“, „Der Einzug der Bundes—
truppen in Altona“, das ausgezeichnete „Intermezzo im Hauſe“, „An Schles—
wig“, „Ober-Selk“, „Oeverſee“, Schleswig-Holſteiniſches Fahnenlied“, „Unſere Todten“,
„Alſen“. Die dritte Unterabtheilung: „Das Deutſche Reich“, iſt beſonders durch die
Mittheilung derjenigen Lieder anziehend, die, von Theodor gedichtet, in öffent—
licher Feier zu San Francisco während des großen Krieges und nach dem Friedens—
ſchluß vorgetragen wurden.
Auf dieſe erſte Abtheilung folgt eine zweite unter dem Titel: „Der Krieger und
ſein Mädchen“, von beiden Brüdern in 24 zuſammenhangenden lebensvollen
Bildern.
Die dritte Abtheilung, ausſchließlich von Theodor, giebt außer 7 „Schweizer—
bildern“ eine Reihe meiſt großartiger Gemälde aus Amerika, wie: „Die Prairie“,
„Der Urwald“, „Im Hotelzug der Pacifiebahn“, „Die Mammuthhöhle in Kentucky“,
„Der Brand des Golddampfers Golden-Gate“ u. j. w.; von andern Gedichten dieſer
Abtheilung ſei endlich nur noch das eine „Las in einem Deutſchen Buche“, erwähnt,
das ein liebliches Bild des elterlichen Hauſes darſtellt.
In den angeſührten Gedichten ſoll ſich eben nur die Reichhaltigkeit und Mannich—
faltigkeit des Inhalts der „Adelpha“ erweiſen; noch manches Lied, wie z. B. die
Hymne am Schluſſe der erſten Abtheilung, könnte mit Lob genannt werden. Es
ſcheint gerade in dieſem Zweige der höheren Lyrik, wie andererſeits in dem
eigentlichen Liede, Chriſtian's Mufe noch einen hervorragenden Platz ein—
nehmen zu können. r.
Die Jahreszeiten, 1874, Seite 764.
(H. Z.) Der erſte Band der Gedichte des reichbegabten Brüderpaares wurde von
der Preſſe mit lebhaftem Beifall begrüßt, und wieſen mehrere Kritiken darauf hin,
daß, wie verſchieden auch die Saiten der Leier geſtimmt, indem der eine der Sänger
mehr aus dem tiefen, unerſchöpflichen Bronnen des Gemüths ſchöpfte, der andere
dagegen in der lebhaften, farbenprächtigen Schilderung ferner Tropengegenden einen
genialen Schwung offenbare, ſie ſich doch gegenſeitig ergänzten. Das deutſche Ge—
müthsleben, das in der Heimath wurzelt und in unbegrenzte Fernen ſchweift, kehrt
doch ſchließlich mit neuen Eindrücken und Bildern bereichert, zum Urquell zurück. —
Der vor uns liegende ſtattliche Band zerfällt in die Hauptabtheilungen „Vater—
landslieder“, „das deutſche Reich“, „der Krieger und ſein Mädchen“ und „Bilder
aus beiden Hemiſphären“. Die Vaterlandslieder verſetzen uns in die ſturmbewegte
Zeit der ſchleswig-holſteiniſchen Erhebung und Befreiung, und unter dieſen Gedichten
befinden ſich viele von ſchneidigem Klang. Der Kampf bei Eckernförde, Kolding,
Friedericia, Idſtedt u. ſ. w., wird ſchwungvoll geſchildert; ſind doch dieſe Kämpfe
der deutſchen Nordmark als die Keime anzuſehen, welche den Baum der deutſchen
Einheit der neueſten Zeit zu üppigſter Entfaltung brachten, und aus blutgedüngten
Saaten das deutſche Reich erſtehen ließen.
Zu den Gedichten dieſer Abtheilung trugen beide Brüder gemeinſchaftlich bei,
und mag nachſtehend das Gedicht „Friedrichſtadt“ von Th. Kirchhoff, ſowie „die
Befreiung der frieſiſchen Inſeln“ von Chriſtian K. hier mitgetheilt werden.
Friedrichſtadt,
Nacht 4. — 5. October 1850.
Nach ſchweren Jahren, Schlacht auf Schlacht,
bald Sieg, bald bangem Leid,
Verlaſſen von dem Vaterland
in thränenſchwang'rer Zeit,
Zurückgedrängt, doch nicht beſiegt,
zur Eider, Schritt um Schritt —
Das war der deutſchen Nordmark Heer,
das für die Freiheit ſtritt. 6
Zum letzten Male zogen wir
zum Sturm auf Friedrichsſtadt.
Die Nacht war ſchwarz und ſternenleer,
die Heimath thränenſatt.
PP
10
— —
Noch einmal Schleswig-Holſteins Heer,
noch einmal hoch das Schwert!
Des freien Mannes freies Wort
iſt Ströme Blutes werth!
Der Bataillone Ehrenſchaar,
zum Sturme auserwählt,
Zog lautlos, in gedrängten Reih'n,
durch's off'ne Wieſenfeld.
Am Eiderdeiche wälzte ſich
entlang die Heeresmacht.
Wie rieſ'ge Anaconden, ſtumm
durch die Octobernacht.
Da plötzlich flammt es, donnert, kracht,
als berſtet' ein Vulkan, —
Musketenknattern, Hurrahruf
ſteigt jauchzend himmelan;
Granaten heulen, Kugeln ſchrein,
Kartätſchen praſſeln wild,
Und wie ein breiter Feuergurt
ſprüht's rings am Schlachtgeſild.
Hin auf die ſtarken Schanzen ſtürzt
das Heer ſich, todtgeweiht;
Umſonſt! — ob's raſch auf blut'gem Grund,
auch Sturm auf Sturm erneut
Auf ſchmalem Damme ohne Schutz,
verzweifelt raſ't der Kampf;
Umſonſt! — des Vaterlandes Stern
erbleicht im Pulverdampf.
Die Bomben ſchlagen in die Stadt.
Der Lohe düſt'res Roth
Malt rings die Himmel, überall
entfeſſelt raſ't der Tod.
Der Freiheit Scheiterhaufen flammt
n blut'gen Sternendom,
Und röthet — Deutſchland, wache auf! —
den deutſchen Eiderſtrom.
Da plötzlich ſchweigt der wilde Kampf,
der Sturm und grauſ'ge Mord,
71
— —
Und Todesſtille lagert nun
am blut'gen Deiche dort.
Das war von Schleswig-Holſteins Heer
die letzte Freiheitsſchlacht:
Des Sieges Hoffnung ſank dahin
in jener Schreckensnacht.
Die Befreiung der frieſiſchen Inſeln.
12. — 19. Juli 1864.
Wo giebt's wohl Reiter und Jäger noch mehr,
Wie Oeſterreichs Jäger und Reiter?
Sie ſtürmen ſogar die Inſeln im Meer;
Das nenn' ich ſeltene Streiter.
Wo die deutſchen Wogen vor Schleswig gehen,
Ihr Frieſen des Meer's, ihr habt es geſehen,
Wie kühn euch die Söhne der Berge befreit.
Ganz Schleswig-Holſtein, weit und breit
War voll von Jubel und Ehre.
Wo den Gruß ein Meer dem anderen beut,
Sich begränzen das Land und die Meere,
In Jütlands Höh', auf dem ſandigen Skagen,
Triumphirend dort hatten die Flügel geſchlagen
Die Adler von Preußen und Oeſterreich.
Die ihr ſchluget den erſten Schwertesſtreich,
Jetzt ſchlagt auch den letzten des Krieges;
Und ſchmückt euer Haupt mit dem Loorbeer zugleich
Des erſten und letzten Sieges.
An der Schlei, da jagtet ihr Dänemarks Löwen;
Nun jagt von der See ſeine kreiſchenden Möven,
Die geſchwinde, die beutegierige Schaar.
Wie ſie kreiſchen und zittern vor'm deutſchen Aar!
Da ſchreiten zu Fuß in die Wogen
Vier kühne Boten; die Augen klar,
Ob's ſtürmt an des Himmels Bogen.
Den Schiffen wollen ſie Botſchaft bringen;
Ob die Fluthen ſteigen, ſie nieder zu zwingen,
Sie dringen hindurch mit feſtem Schritt.
AR
Da ſpringt durch's Meer im ſchäumenden Ritt
Der „Baſilisk“ mit dem „Blitze“,
Und der „Seehund“ tummelt ſich luſtig mit,
Und der „Wall“, der aus mächt'gem Geſchütze
Im nordiſchen Meer ſprüht heiße Flammen,
Daß ſcheu das Geflügel allzuſammen
Zum Ufer ſich drängt vom feuchten Revier.
Ihr Jäger, mit wehender Federn Zier,
Wie jagt ihr auf wogenden Böten!
Jäh ſtürzen die Vögel, bald dort, bald hier,
Und flattern in Todesnöthen.
Doch drüben am Strand ſchau'n hoffend und warten
Die Töchter der Inſeln, ein Blumengarten,
Für euch mit friſcher Liebe geſchmückt.
Wie haben ſie euch an's Herz gedrückt!
Das war der Frieſinnen Ehre.
Wie ſprangt ihr Steiermärker entzückt
Auf die ſandigen Dünen am Meere!
Da habt ihr getanzt den Siegesreigen.
Nicht Schleswig-Holſtein ſoll es verſchweigen,
Wie Ihr ſeine letzte Scholle befreit.
„O, freie Frieſen, der Knechtſchaft Leid
Iſt vorüber und all ihr Jammer.
Schlug euren eiſernen Haß ſtahlhart
Der Tyrann mit geſchwungenem Hammer,
Wir packten ihn feſt den „Hammer“ des Meeres.
Ihr Männer der See, nun preiſet des Heeres
Von Oeſterreichs Bergen ſtählerne Art.“
Aus der Abtheilung „Das deutſche Reich“ heben wir beſonders hervor die Ge—
dichte: „Gruß an Deutſchland:
„Wie iſt von hohem Siegesmuth
Das deutſche Herz ſo voll“,
ferner: „Germanias Gruß“, geſprochen von Ottilie Genée in Coſtüm, zur Eröffnung
der von dem deutſch-patriotiſchen Frauenverein in San Francisco veranſtalteten
Feier, 8.— 12. Septbr. 1870, zum Beſten der Verwundeten, Wittwen und Waiſen
der im Kriege gefallenen Dentſchen, ſowie die Hymne von Chriſtian Kirchhoff:
Ewig thront
Das göttliche Weſen
Das furchtbar heilige,
Das lieblich ernſte.
13
Die Abtheilung „Der Krieger und ſein Mädchen“, iſt ein Cyclus von Gedichten,
welche bald humoriſtiſch, bald ergreifend die Schickſale des Soldaten im Frieden
und Felde, ſo wie Momente aus dem Soldatenleben in anziehender, wechſelnder
Form ſchildern.
Die letzte Abtheilung; „Bilder aus beiden Hemiſphären“, von Th. Kirchhoff,
enthält manche werthvolle Perle, und ſind es beſonders die Schilderungen aus
Amerika, die ſich unbedingten Beiſalls erfreuen werden, wie u. A. „Die Prairie“,
„Der Urwald“, „Im Hotelzug auf der Pacifiebahn“, ferner die Terzinen „Die
Mammuthhöhle in Kentucky“, Der Brand des Golddampfers „Golden-Gate“ u. A.
Wir bedauern, das Gedicht „Die Prairie“ nicht vollſtändig mittheilen zu können,
da es einen zu großen Raum in Anſpruch nehmen würde, doch mögen einige Verſe
von der Meiſterſchaft des Verfaſſers iu ergreifender und zündender Schilderung
Zeugniß ablegen. Die Prairie ſteht in Feuer; die Jäger werfen ſich auf ihre
Pferde, und:
Fort galopiren die Roſſe;
es fliegen die Meilen zurück!
Doch die ſengende Woge kommt näher
und feſſelt mit Graun den Blick.
Sie dehnt ſich zum fernſten Horizont,
in unabſehbarer Länge,
Und röthliche Wolken thronen darauf;
hoch wälzt ſich heran das ſchauervolle Gepränge.
3 {
Unzählige Thiere, in Todesangſt,
fliehn tobend im Sturmeslauf.
Es ſtörte das feurige Element
vom Fraß den Coyote auf;
Raſch ſprengen die wilden Muſtangs vorbei,
mit flatternden Mähnen und Schweifen;
Wie die fleckigen Präriehühner
mit lautem Geſchrei durch die Lüfte ſchwirren und pfeifen!
Jetzt Füchſe und Antilopen,
und Wölfe, mit ſträubendem Haar,
Gefolgt mit donnerndem Toſen
von zottiger Büffelſchaar.
Von tauſend ſpitzigen Hörnern ſtarrt
die drohende, brüllende Menge;
Und die Erde bebt und zittert
von tauſend ſtampfenden Hufen im dichten Gedränge.
Die Roſſe jagen ſchaumbedeckt;
und rings im bunten Gemiſch
Der entſetzten Thiere toll Gewirr,
und hinten der Flammen Geziſch.
So ſtürzt durch die Nacht die wilde Jagd,
beſchaut von den ſtillen Sternen:
Bis im Oſten der Sonne Aug' erwacht,
und ihr roſiger Finger malt die dämmernden Fernen, u. ſ. w.
Sonntagsblatt des „Cincinnati Bolksfreund“,
4. Februar 1872.
Die beiden genialen Brüder haben die deutſche Literatur durch die Herausgabe
des 2. Bandes der „Adelpha“, der wir ſchon lange mit Spannung entgegenſahen,
um einen neuen Schatz bereichert. Während Chriſtian die innere Natur mit ihren
feineren pſychologiſchen Zügen und ihrem tiefen Gemüthsleben malt, ſchildert
Theodor die äußere in ihren lieblichen, wie wilden Scenerien mit unerreichbarer
Treue. Wollte er ſich bemühen, die lebendige Schilderung mit dem epiſchen Ge—
wande zu bekleiden, wie ihm dies ſo wundervoll in dem Gedichte: „Der Gold—
mantel des Mount Davidſon“ gelungen, wo er ſie mit dem Schmuck der Sage
umhüllt, ſo müßten wir ihm unſtreitig die Palme unter den deutſch-amerikani—
ſchen Dichtern zuerkennen. Seine neue Heimath, das Land des Goldes und der
Naturwunder, ſo groß und reich an erhabenen Scenerien, der Tummelplatz eines
rieſenkräftigen, unternehmenden Volkes, bietet zahlreiche, gewaltige Stoffe dar,
die unter ſeiner Bearbeitung eine neue Bahn in der Dichtkunſt brechen würden.
Die Sammlung zerfällt in die Rubriken: Vaterlandslieder, Schleswig-Hol—
ſtein, Das deutſche Reich, Der Krieger und ſein Mädchen, und Bilder aus beiden
Hemiſphären.
„Die Berechtigung,“ ſagt Chriſtian, „die Menge vaterländiſcher Gedichte, welche
in dieſem Jahre erſchienen ſind, mit dieſer neuen Sammlung zu vermehren, ſuchen
die Verfaſſer derſelben in dem Umſtande, daß dieſe Vaterlandslieder die Geſchichte
der deutſchen Einheitsbewegung dem Auslande gegenüber von der Zeit der erſten
ſchleswig-holſteiniſchen Erhebung an begleiten.“
In der That ſind die Lieder, nach dem Wunſche der Verfaſſer ein Sinnbild davon
wie ſich die Stimmen aus zwei Welttheilen von diesſeits und jenſeits des Oceans
in dem allgemeinen Chor vereinigen, der jetzt des neuen deutſchen Reiches Triumph
ſingt. Zugleich beweiſen ſie, wie die beiden Brüder Meiſter der Form und einer
edlen Sprache ſind. Laſſen wir hier ein paar Proben folgen.
Der Goldmantel des Mount Davidſon.
Von Theodor Kirchhoff.
Und wieder trägt ſein Goldgewand
Der König der Berge im Silherland!
Sechs Jahre ſteht er im grauen Kleid,
Sein ſtaubiges Haupt wie mit Aſche beſtreut;
Dann liegen im feſten Schlafe die Zwerg'
Auf ſilbernem Lager im tiefen Berg.
Doch wenn der Lenz zum ſiebenten Mal
Mit Blumen wandert durch Feld und Thal,
Geht leiſes Geflüſter durch Bergesgrund,
Und es ruft durch die Felſen mit Geiſtermund:
Wacht auf, ihr Schläfer, der Lenz hat gebracht
Dem König Nevada's die goldene Pracht!
Da wird's lebendig tief unten dort;
Die Zwerge erwachen und eilen fort,
Hinauf durch die Hallen, die Gänge ſchnell —
Wo die Felswand glimmert, von Silber hell,
Und in Maſſen liegt das edle Geſtein
Und blinkt bei der Ampeln zitterndem Schein.
Sie ſteigen aus kalter Erde Schacht
Hinauf, wo die warme Sonne lacht,
Und begrüßen den Lenz, der in Jugendglanz
Geſchmückt iſt mit leuchtendem Blumenkranz.
Wie ein ſtrahlender Regen fallen licht
Aus dem Kranze ihm goldige Blumen dicht;
Die haſchen die Zwerge, geſchwind, geſchwind,
Wie ſie glitzernd und prangend flattern im Wind,
Und ſchmücken damit des Berges Höh'n,
Wie mit goldenem Mantel, zaubriſch ſchön; —
Und königlich trägt er ſein Goldgewand,
Der reichſte der Berge im Silberland!
Der 8500 Fuß hohe Mount Davidſon im Staate Nevada, in dem die reichſten
Silberminen der Welt, die der Comſtock-Erzader, liegen, zeigt, wie alle Berge in
jener Gegend, an ſeinen Abhängen nur eine äußerſt kümmerliche und halb ver—
dorrte Vegetation, und gewährt einen traurigen Anblick. In jedem ſiebenten
Frühling dagegen erblühen glänzende goldgelbe Blumen auf ihm in ſeltener
Fülle, bedecken den ganzen Berg und geben ihm unter den umliegenden öden
Hügeln und Gebirgskuppen alsdann ein gar prächtiges Ausſehen. Im Jahre 1871
trug Mount Davidſon wieder ſeinen Goldmantel.
SUUM CUIQUE.
Von Chriſtian Kirchhoff.
20. Februar 1864.
*
Wie heißt das Schwert, das nimmer zerbricht,
Das ſtärker, als Stahl iſt und Eiſen?
— 2
Das Schwert, das heller ſtrahlt als das Licht,
=
16
— —
Und ſiegend ſich ſtets muß erweiſen;
Das nicht ſchartig wird vom gewaltigſten Schlag,
Und nicht roſtet, wie lang man's tragen mag.
Das herrlichſte Schwert, es heißt das Recht,
Das gottgebor'ne, das reine.
Vor ihm muß ſich beugen der Fürſt und der un
Der Brave, jo wie der Gemeine.
Und wer ſich empört und trotzt auf die Macht,
Den ſchlägt es zu Boden in all' ſeiner Pracht.
Und wär's der König, und handelt' er ſchlecht,
So beſchimpft' er die herrlichſten Ehren.
Ja, ehrlos ſei, wer da weicht vom Recht;
Laßt den heiligen Fahnen uns ſchwören.
Auf der Feigheit Schild ſei das Wappen die Schand',
Und das Schwert des Rechts zier' unſere Hand.
mn
er
Wenn die Macht liegt mit der Macht im Streite
Und hüben und drüben wirbt um's Recht,
Wo erfahr' ich dann, auf welcher Seite
Seine Liebe iſt? Ihr Götter, ſprecht!
„Es richten des Rechtes ernſte Muſen
Mit höchſter Hoheit in deinem Buſen.“
Wer aber wird denn, was in der Welt
Geſchehn und beſtehn ſoll, richtend entſcheiden?
Denn man kann nicht ewig beweiſen und ſchelten,
Und Etwas muß am Ende gelten.
Die Macht ſpricht Recht da für Einen von Beiden,
Wie der eherne Würfel des Krieges fällt.“
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„Das Recht iſt beſſer als die Macht.,
Verſtehſt du denn auch, was da ſagſt,
Wenn du jo nutzlos klagſt und klagſt?
Verliehn wird Recht auch von der Macht;
Und wer's nicht ſelber ſich ſchaffen kann,
Der zahlt für Hülfe dem ſtärkern Mann.
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